Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.02.2005. Die FR meint: Das größte Hindernis für einen europäischen Verfassungspatriotismus ist die europäische Verfassung. In der Berliner Zeitung erklärt Svetlana Geier, warum die russische Poesie eine Kugel ist - zumindest bei Puschkin. In der FAZ zieht Khalid Al-Maaly eine Bilanz der Buchmesse in Kairo. Die NZZ fürchtet den Trend zum individuellen Opfergedenken in Deutschland. Und Berlinale: Die Verfilmung von Imre Kertesz' "Roman eines Schicksallosen" stößt auf distanzierte Reaktionen.

FR, 16.02.2005

Die Ratifizierung der Europäischen Verfassung könnte sich um Monate verschieben, weil für Litauen, Polen, Estland und Lettland noch immer keine korrekten Übersetzungen des Entwurfs vorliegen. Das ist in gewisser Weise gut so, findet Oliver Eberl. Denn der Öffentlichkeit ist das insgesamt 500 Seiten lange Werk so gut wie unbekannt. Jetzt wäre die Zeit, sich damit vertraut zu machen und darüber zu diskutieren. "Während der Französischen Revolution hängte man die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und die neue Verfassung noch an allen öffentlichen Plätzen aus, weil jeder sie kennen und an ihrem Maßstab die Tätigkeit der Regierung kontrollieren sollte. Um die US-amerikanische Unionsverfassung wurde auf der Grundlage des veröffentlichten Verfassungsdokuments in zahllosen Zeitungsartikeln eine Ratifizierungsdebatte zwischen Kritikern und Befürwortern geführt, die sich mit jedem einzelnen Verfassungsartikel beschäftigte und etwa ein Jahr andauerte. Heute hingegen soll offensichtlich die Veröffentlichung im Amtsblatt der EU genügen. Für einen europäischen Verfassungspatriotismus sind dies denkbar schlechte Bedingungen." (Hier eine Seite des AA mit Dokumenten und Verfassung.)

Auf der Medienseite berichtet Henning Hoff, dass der arabische Fernsehsender Al Dschasira im November ein englischsprachiges Rund-um-die-Uhr-Programm ausstrahlen wird. "Wie das Programm genau aussehen wird, ist ein gut gehütetes Geheimnis. Das Londoner Büro, wo im Herbst mit Paul Gibbs, einem früheren leitenden Nachrichtenredakteur der BBC, und Steve Clark, ehemaliger Chef des Middle East Broadcasting Centre, das sich 2003 in Al Jazeeras Hauptrivalen Al Arabiya verwandelte, zwei westliche Fernseh-Nachrichtenprofis für den Aufbau angeheuert wurden, gibt sich zugeknöpft. Auch aus Doha, wo Nigel Parsons, ein ehemaliger Direktor des Fernseharms der Agentur AP, für die Gesamtleitung des Projekts verantwortlich ist, gibt es derzeit keinen Kommentar." Fraglich sei, ob die überwiegend britischen Reporter eine "arabische Perspektive" vermitteln könnten.

Weitere Artikel: Rüdiger Suchsland schildert Eindrücke von der Berlinalereihe "Perspektive Deutsches Kino": "Krise und Depression scheinen die Phantasie der Filmemacher zu beflügeln. Sie nutzen die neue Unsicherheit dazu, es auch dem Zuschauer weniger bequem und damit spannender zu machen." Harry Nutt grübelt in Times Mager über das Wesen des Skandals. Peter Iden schreibt den Nachruf auf Georges Schlocker.

Besprochen werden die Gerhard-Richter-Ausstellung im Düsseldorfer K20 und Bücher, darunter Salman Rushdies gesammelte Schriften aus zehn Jahre (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 16.02.2005

Reines Rezensionsfeuilleton heute in der taz. Besprochen werden Stefan Heidenreichs Studie über digitale Datenströme und die Kultur des 21. Jahrhunderts und die Aufführung der "erzwungenermaßen Hauptmann-freien 'Ersatz-Weber'" am Dresdner Staatsschauspiel. Auf den Berlinaleseiten stellt Susanne Messmer neue Spielfilme aus China vor. Besprochen werden unter anderem Lajos Koltais Verfilmung von Imre Kertesz' "Roman eines Schicksallosen" (mehr hier), Wes Andersons ozeanischer Film "The Life Aquatic With Steve Zissou" und Andreas Dresens Film "Willenbrock".

Schließlich Tom.

NZZ, 16.02.2005

Joachim Güntner stellt fest, dass das Gedenken an die Bombenangriffe auf Dresden besonders durch Zeitzeugenberichte geprägt ist, weil diese die größte Rührung erzeugen. Einen "neuen Opfermythos" habe dies noch nicht hervorgebracht. "Nur darf man sich keine Illusionen über die Geschichtskenntnisse machen. Die deutsche Öffentlichkeit hat keinen scharfen Begriff vom NS-System, ihre klaren moralischen Verdikte beruhen nicht auf ebenso klaren Einblicken in Genese und Funktion der nationalsozialistischen Herrschaft. Der derzeitige Trend zum individuellen Opfergedenken ist nicht frei von einer gewissen Privatisierung, und man könnte sich fragen, ob und wie wohl diese Privatisierung irgendwann auf das offizielle Geschichtsbild zurückschlägt."

Weitere Artikel: Mit Kölns Ruf als Kunststadt steht es nicht zum Besten, meint Kerstin Stremmel. Eine erfreuliche Ausnahme sei der von der Künstlerin und Filmemacherin Corinna Schnitt gegründete "schnittraum", ein Forum für aktuelle Kunst und Sprungbrett für junge Künstler, wo derzeit eine Ausstellung der norwegischen Installationskünstlerin Kristina Braein zu sehen ist. Christoph Egger bespricht einige Berlinale-Filme und war besonders von Mark Dornford-Mays Verfilmung der Bizet-Oper "Carmen" begeistert, die in einem südafrikanischen Township spielt. Besprochen wird außerdem Anna Gavaldas Roman "Zusammen ist man weniger allein" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Stichwörter: Dresden, Egger, Christoph

FAZ, 16.02.2005

Der deutsch-ägyptische Verleger Khalid Al-Maaly zieht eine nicht sehr freundliche Bilanz der Buchmesse von Kairo: "Wie jedes Jahr sehen sich viele säkulare arabische Verleger mit dem Verbot zahlreicher ihrer Bücher konfrontiert. Das Informationsministerium, der Zoll oder irgendeine geheime Stelle hat die Titel beschlagnahmt. Die Verleger bekommen keinen Nachweis über die beschlagnahmten Bücher. Wie jedes Jahr wiederholt sich die Ankündigung der Messeleitung, dass es keine Zensur geben wird. Die Messeleitung ist neu, aber die Ankündigung und die Zensur sind gleichgeblieben."

Auf der Berlinale-Seite fällt Verena Lueken ein sehr hartes Urteil über die Verfilmung von Imre Kertesz' "Roman eines Schicksallosen" durch Lajos Koltai: "Auschwitz taugt nicht als Spielfilmset, dafür ist 'Fateless' ein weiteres Beispiel. Nackte Leiber auf Holzkarren, hagere Gesichter mit dunkel geschminkten Augenringen, die Gier, mit der dünne Suppe geschlürft, und die Schwäche, unter der sich die Insassen mit jedem Sandsack, der ihnen auf die Schultern geworfen wird, mehr gen Boden ducken, die löchrigen Hemden, sterbenden Freunde, rauchenden Schornsteine, all das sind so beschämend banale, harmlose Kinobilder, in denen nichts sichtbar wird außer einer Menge Komparsen, vielen Töpfen Make-up und einem gutgefüllten Lumpenfundus."

Weitere Artikel: Hubert Spiegel kritisiert den Missbrauch des Begriffs Verantwortung durch Politiker, die sich dieser Verantwortung gerade entziehen. Jürgen Kaube hat eine Berliner Tagung über Montesquieu verfolgt. Rechtsprofessor Gerd Roellecke kommentiert das geplante neue Luftsicherheitsgesetz (hier als pdf), das den Abschuss von Passagierflugzeugen erlaubt, falls sie von Terroristen als Waffe eingesetzt werden. Heinrich Wefing resümiert den Streit zwischen Bund und Ländern um die Berliner Akademie der Künste, der heute vor den Vermittlungsausschuss des Bundestags kommt. Christa Lichtenstern gratuliert dem Kunsthistoriker Joseph Anton Schmoll gen. Eisenwerth (so heißt er) zum Neunzigsten.

Auf der Berlinale-Seite bespricht Andreas Kilb die Wettbewerbsfilme "Kakushi Ken - Oni no Tsume" von Yoji Yamada und "Gespenster" von Christian Petzold (dem er einen Bären wünscht). Und Hans-Jörg Rother hat sich osteuropäische Filme in den Nebenreihen angesehen.

Auf der Medienseite berichtet Hendrik Kafsack, dass die EU-Kommission wohl die Internetauftritte der öffentlich-rechtlichen Sender eingrenzen wird. Michael Hanfeld bringt uns auf den neuesten Stand im Streit zwischen WAZ-Konzern und Hans Dichand um die Wiener Zeitung Die Krone. Jürg Altwegg meldet, dass Jacques Chirac seinen internationalen französischen Nachrichtensender CII (der großenteils auf englisch senden wird) auf die Beine gestellt hat.

Auf der letzten Seite stellt Christian Schwägerl ein Papier der CIA-Abteilung NIC vor, das die Perspektiven der Forschungspolitik in Europa untersucht und darlegt, dass diese Punkt entscheidend sein wird für die Zukunft auch Deutschlands (hier das Papier als pdf). Paul Ingendaay schreibt noch eine kleine Hommage auf den Historiker Javier Tusell, der kurz vor seinem Tod im Alter von 59 Jahren noch ein Papier über sein Sterben schrieb. Und Peter Jochen Winters erinnert an den von den Nazis ermordeten Richter Friedrich Weißler.

Besprechungen gelten einer Ausstellung der zwölf verbliebenen Gemälde des Barockmalers Carel Fabritius in Schwerin, Kevin Spaceys Film "Beyond the Sea" über den Rock'n'Roll-Sänger Bobby Darin, einer Amsterdamer Don Giovanni-Choreografie, für die neben Krzysztof Pastor auch Peter Greenaway verantwortlich zeichnete und einem Auftritt David Crosbys und Graham Nashs in Frankfurt.

Berliner Zeitung, 16.02.2005

In einem Interview erklärt Svetlana Geier, die Übersetzerin von Puschkin, Tolstoi, Gogol und Dostojewski, warum es heute in Russland keine Literatur mehr gibt. "Sehen Sie, der Anfang der russischen Literatur ist ein vollendeter geometrischer Körper und nach Platon ist das eine Kugel. In der russischen Literatur ist das Puschkin. Die Literatur Gogols lässt sich nicht mehr als Kugel darstellen. Puschkin fragte: 'Was ist Poesie?'. 'Der Sinn der Poesie', antwortete er 'ist Poesie', nicht Erziehung, nicht Agitation, nicht Propaganda, nicht ein Weg zum Glauben. Bei Gogol wird die Poesie religiös bestimmt. 'Was ist Literatur?', ist die Frage, die Gogol als jungen Mann ins Grab gebracht hat und die ihn dazu veranlasst hat, den zweiten Teil der 'Toten Seelen' zu verbrennen. Von da an trennen sich die Wege in der russischen Literatur. Auf der einen Seite stehen Künstler, die den Sinn der Poesie außerhalb der Poesie suchen, etwa Tolstoi. Für ihn war der Maßstab für die Rechtfertigung der Kunst ihre Wahrhaftigkeit. Auf der anderen Seite stehen Künstler, die den Sinn der Poesie in der Poesie sehen, wie Dostojewski. Der Bruch kommt 1917 mit einem Staat, der nach dem Gesetz lebt, das Ziel rechtfertigt die Mittel."

Auf den Berlinaleseiten schreibt Carmen Böker über die Verfilmung von Imre Kertesz' "Roman eines Schicksallosen". Begeistert ist sie nicht, aber, meint sie, vielleicht gebührt Regisseur Lajos Koltai Beifall dafür, "das Grauen gerade noch aushaltbar zu zeigen, aber Dialoge wie diese zu den Schlüsselmomenten seines Films zu machen: Soeben lebend in Budapest eingetroffen, wird György gefragt: Gibt's Gaskammern in Auschwitz? Ja. Aber hast du sie selbst gesehen? Dann wäre ich jetzt nicht hier. Also hast du sie nicht gesehen. Triumphierender Abgang eines Unbelehrbaren."

SZ, 16.02.2005

"So unverblümt wie in 'Die Sache Makropulos' brodelt und spuckt keine Partitur Leos Janaceks. Und so animalisch-existenziell geht es in keiner anderen Oper Janaceks zu", jubelt Jürgen Otten über Luk Percevals Inszenierung an der Staatsoper Hannover. "Keinerlei Theater-Illusionsduft weht über die Bühne; die Wunde der Welt liegt offen vor unseren Augen. Und alle sind gefangen in dem von Sexualität nahezu unerträglich aufgeladenen Spinnennetz."

In seinen Notizen von der Berlinale feiert Tobias Kniebe Christian Petzolds "Gespenster" als filmischen Quantensprung. Bei Lajos Koltais "Fateless", der Verfilmung von Imre Kertesz "Roman eines Schicksallosen" sah er nur eine "chemisch entfärbte Konzentrationslagerszene an die andere" gereiht.

In der Serie "Vorsprung Deutschland", die offenbar dem ständigen Gejammer etwas Positives entgegensetzen will, trumpft Reinhard J. Brembeck auf: "Kein Land der Welt finanziert mehr Theater und Orchester." Andrian Kreye fasst amerikanische Medienberichte, unter anderem aus dem New Yorker, zusammen, die sich mit den so genannten "Ghost Detainees" beschäftigen, Phantomhäftlinge, die von amerikanischen Ermittlern in Länder des Nahen Osten gebracht werden, wo das Folterverbot nicht ganz so scharf beachtet werden muss. Jens Bisky war dabei, als die Werbeagentur Scholz and Friends ihr Gesetzbuch "Lore's Law" vorstellte, das mit Murphys Pessimismus Schluss machen soll. Auf der Plattenseite singt Nick Brownlee ein Lied auf Bubblegum, industriell gefertigten Plastik-Pop. David Grubbs schwärmt von alten Folkways-Aufnahmen aus dem Süden Mexikos. Dorothee Müller gratuliert dem Kunsthistoriker Josef Adolf Schmoll zum Neunzigsten.

Besprochen werden Kevins Spaceys genregemäße Hommage auf den Schnulzensänger Bobby Darin, Jon Fosses "Todesvariationen" am Schauspielhaus Bochum und Bücher, darunter Stephen Kings Roman "Der dunkle Turm" und Liane Dirks' "Narren des Glücks" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).