Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.06.2005. In der SZ wittert Jürgen Habermas neue Chancen für Kerneuropa. In der FAZ erinnert Hans Christoph Buch an das fortwährende Morden im Kongo und die Mitschuld der internationalen Staatengemeinschaft. In der taz rät Daniel Cohn-Bendit den Grünen die Trennung von den Roten.

SZ, 06.06.2005

"Im Ergebnis bedeutet das Votum ein 'So nicht'. Das 'Wie denn anders?' ist eine Frage, die freilich mit einem Plebiszit nicht beantwortet werden kann." Jürgen Habermas setzt in der Frage der Zukunft der Europäischen Union immer noch auf ein Kerneuropa als Integrationsbeschleuniger. "Die geltenden Bestimmungen für eine engere Kooperation von mindestens 8 Mitgliedstaaten sind weniger restriktiv als die entsprechenden Regelungen im Verfassungsentwurf." Für die Umsetzung hofft er auf Rot-Grün und deren Mut der Verzweiflung. "Wenn sie den Wahlkampf dazu benutzten, um eine hoffnungsvollere Alternative zum lähmenden Szenario des Weitertrottens und Abgleitens manifest zu machen, würden sie ein Signal setzen - und ihr Abgang gewänne Kontur. Nichts Wesentliches ändert sich in der Geschichte ohne symbolische Akte, ohne Zeichen, auf die spätere Generationen zurückblicken, um für ihre Zukunft einen Rückhalt zu gewinnen. Die 68er waren einmal empfindlich für romantische Ideen."

An der Wiener Burg erlebt Helmut Schödel "Häuser gegen Etuis", das neue Stück von Rene Pollesch, als streitbare, aber fesselnde Angelegenheit. Vor den Textsalven des Regisseurs und Autors kapituliert aber nicht nur er. "Zu den Hauptdarstellerinnen im Theater von Pollesch gehört die Souffleuse (an diesem Abend Monika Brusenbauch), weil sich diese Texte kein Mensch merken kann. Aber irgendwann ist dann auch die Souffleuse überfordert, zum Beispiel bei den etwa 20 Hängern von Libgart Schwarz. Deshalb hatte sie auch ihr Textbuch neben sich aufgebaut. Ob es inszeniert war oder Verzweiflung, ist egal. Jedenfalls war es noch nie so klar, dass die Hauptdarsteller von Pollesch Bücher-Menschen sind. 'Häuser gegen Etuis' war vielleicht nicht Polleschs bester, aber sein kühnster Abend: die Crashzone. Irgendwie hatte man das Gefühl, mal wieder im Theater zu sein: wo life noch life ist."

Weitere Artikel: Fritz Göttler erfährt aus der Abtretungsurkunde, die Lars von Trier auf der Homepage der Bayreuther Festspiele veröffentlicht hat, dass der Regisseur seinen "Ring" 2006 aus technischen Gründen abgesagt hat. Das umgebaute Pommersche Landesmuseum in Greifswald, das die Naturgeschichte der Region und 12 000 Jahre Landesgeschichte darstellt, weckt den kleinen Jungen ins Bisky. Thomas Meyer genießt die eloquenten und kompetenten Analysen auf einer Münchner Tagung zur Aktualität Sartres.

"Ein bisschen hedonistisch, ein bisschen preußisch, alles zu seiner Zeit und gelegentlich mit Widersprüchen." Auf der Medienseite porträtieren Christine Langrock-Kögel und Hans-Jürgen Jakobs den Chefredakteur der Zeit, Giovanni di Lorenzo als sanft, "aber nicht ohne Killer-Mentalität".

Besprochen werden Tina Laniks Inszenierung von Sarah Kanes "Gier" im Münchner Marstall, eine Werkschau von Max Ernst im New Yorker Metropolitan Museum, Jaume Collet-Serras nur am Ende alptraumhafter Horrorfilm "House of Wax", und Bücher, darunter Nick Hornbys neuer Roman "A Long Way Down", eine Darstellung der internationalen Beziehungen zwischen 1785 und 1830 von Michael Erbe sowie Dirk von Petersdorffs Gedichtband "Der Teufel von Arezzo" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 06.06.2005

Kulturell haben die Achtundsechziger Dauerhaftes geschaffen, politisch aber hat Rot-Grün versagt. Kein Wunder, wenn man sich die Programme der K-Gruppen und Spontis von damals anschaut, meint Harald Martenstein. Die "waren zum Teil barbarisch, zum Teil irrsinnig. Sie waren, zum Glück, undurchführbar, statt dessen kaperten sich einige die Ökologie, wie eine Art Surfbrett, auf dem sie dann an die Macht surften. Dort angekommen, hatten sie, wie wir inzwischen wissen, außer ihrem Machtwillen und ihrem Sexappeal nicht allzu viel zu bieten, denn ein Programm hatten sie ja nicht und mit ihren Regierungskünsten waren sie ungefähr so erfolgreich wie die alternativen Automechaniker, die ich damals hatte."

FR, 06.06.2005

Heribert Kuhn war bei einer Tagung über die "Aktualität" von Sartres Philosophie und Literatur im Münchner Literaturhaus. Christian Schlüter gratuliert Henning Ritter zum Ludwig-Börne-Preis. Und Stefan Keim gratuliert Lukas Bärfuss, der für sein Stück "Der Bus" den Mülheimer Dramatikerpreis erhalten hat. Besprochen wird eine große Retrospektive zu Jiri Georg Dokoupil in den Hamburger Deichtorhallen.

NZZ, 06.06.2005

Dorothea Dieckmann beobachtet einen Trend zur Erinnerungsliteratur und fragt nach der Bedeutung des Vergangenen für die literarische Fiktion. Dass in der Literatur "ein Gesetz der Wahrscheinlichkeit, das Vertrautes in die Vergangenheit, Verrücktes und Visionäres in die Zukunft verbannt", existiert, lehnt sie strikt ab. Denn "wenn dem so wäre, dann wäre Erinnerung per se konservativ ... In (Walter) Benjamins messianischer Interpretation enthält das Deja-vu als zündendes Jetzt die Erinnerung an die Zukunft. In diesem Sinne würde uns ein unverstellter Blick auf das, was war, den Zugang zum 'verlorenen Paradies' eröffnen: Erinnerung und Erwartung fallen zusammen. Insofern ist Erinnerung ein Fundament der Literatur; diese ist, noch in ihren tollsten Entwürfen, eine Suche nach der verlorenen Zeit."

Erst im Oktober will Peter Sellars die Hauptprojekte und Hauptkünstler des Festivals "New Crowned Hope" im Rahmen des Mozart-Jahres 2006 in Wien bekanntgeben, berichtet Derek Weber, der aber bereits soviel in Erfahrung bringen konnte: "Beim Requiem geht es Sellars um Zeremonien für die Toten, die in Massengräbern verschwunden sind. 'Nicht darauf Bezug zu nehmen, dass wir nicht wissen, wo Mozarts Gebeine sind, wäre für mich schrecklich. Darum wird es Projekte an Plätzen wie Obdachlosenquartieren, Drogenzentren und an den Orten geben, wo die Ärmsten leben. Das hat etwas mit Mozart in Wien zu tun.'" Und die "Zauberflöte" habe Sellars einem kambodschanischen Team anvertraut. "Die Inszenierung könnte etwas mit Pol Pot zu tun haben, muss aber nicht."

Weiteres: Thomas Veser stellt ein umfassendes Programm zur Rettung des Architekturerbes des in Nordpakistan an der Grenze zu China und Kaschmir gelegenen Hunza-Hochtals vor. In den sogenannten "artist run spaces", unabhängigen Projektionsräumen für junge Künstler im Londoner East End, hat sich Marianne Burki umgetan. Gabriele Detterer besucht die Eröffnungsausstellung "PAN" in Neapels neuem Zentrum für zeitgenössische Kunst. Besprochen wird Adriana Hölszkys "Der gute Gott von Manhattan" in der Dresdner Semperoper.

TAZ, 06.06.2005

Daniel Cohn-Bendit rät den Grünen im Gespräch mit Peter Unfried, jetzt klar auf Distanz zur SPD zu gehen. Die mache das ihrerseits schon länger. "Die SPD versucht, ihre Identität zu retten, indem sie sich in die Achtzigerjahre zurückbeamt - politisch, inhaltlich und auch eben in Bezug auf die Grünen. Im Grunde sagt sie wieder das, was sie in den Achtzigerjahren gesagt hat: Ihr Grüne seid die Partei der besser Verdienenden und eine Luxuspartei. Deswegen brauchen wir euch nicht mehr." Einen sofortigen Ausstieg aus der Koalition hält er aber für überzogen. "Das hätte Schmackes, aber nur für fünf Minuten. Außerdem: What's the problem? Es ist eine geschäftsführende Regierung, von der jeder weiß, dass es sie im September nicht mehr geben wird."

Sebastian Frenzel stellt den 29-jährigen Performancekünstler und "Momente-Aktualisierer" Tino Sehgal vor, der zusammen mit dem Maler Thomas Scheibitz bei der bevorstehenden Biennale in Venedig den Deutschen Pavillon gestalten wird (mehr). Sehgal hat sich durch flüchtige Aktionen profiliert, von denen es weder Fotos noch Videoaufzeichnungen gibt. "Man stelle sich also vor, man kommt in den Galerieraum und sieht: nichts. Der Raum ist leer, da ist kein Bild und keine Skulptur. Und plötzlich tritt der Museumswärter auf einen zu, hüpft von einem Bein aufs andere, lässt seine Arme kreisen und ruft: 'This is good. Tino Sehgal. 2001.'"

Hakeem Jimo erfährt von Herwig Kempf, dem Leiter des vor vier Wochen verwüsteten Goethe-Instituts in Togo, dass zum Wiederaufbau nur noch ein Zeichen von offizieller Seite fehlt. Jan-Hendrik Wulf lernt aus dem aktuellen 43. "Konkursbuch" über das kreative Potenzial der weiblichen Scham, im "Schreibheft" geht es um den portugiesischen Dichter Mario de Sa-Carneiro.

In der zweiten taz beruhigt Jan Feddersen alle Homosexuellen. Die Union habe schon längst nichts mehr gegen die Schwulenehe, nur Teilen der Basis muss das noch vermittelt werden. Peter Unfried hat eine Wahlkampfhymne für die Grünen entdeckt. "Apply Some Pressure" (Audio/Video) von Maxïmo Park. Jony Eisenberg mokiert sich in seiner Justizkolumne über faktenresistente Staatsanwälte. Und Jenni Zylka grüßt die Raumsonde Voyager 1, die derzeit das Sonnensystem verlässt.

Zwei Besprechungen widmen sich der Nicht-Ausstellung "Supershow", in der die Kunsthalle Basel die eigenen Funktionsmechanismen zum Gegenstand macht und Eva Leitolfs Bildband "Rostock Ritz".

Und Tom.

FAZ, 06.06.2005

Hans Christoph Buch (mehr hier) erinnert an die finstere Lage im Kongo, wo er seit dem Ende des Mobutu-Regimes 3,8 Millionen Tote zählt. Hauptursache sind die andauernden Auseinandersetzungen zwischen Hutu und Tutsi im Osten des Landes und mitschuldig ist die internationale Staatengemeinschaft, die mal wieder alle Augen zudrückt. Als einen der Haupttäter macht Buch den ruandischen Präsidenten Paul Kagame (mehr hier) aus, der auch bei der Bundesregierung ein hoch angesehener Mann ist: "Die von Ruandas Staatschef Kagame ausgegebene Parole, es gebe nur noch Ruander und keine Hutu und Tutsi mehr, verschleiert die Kluft, die zwischen Worten und Taten klafft: Unter dem Deckmantel nationaler Versöhnung hat sein Militärregime die Hutu-Bevölkerung innerhalb und außerhalb Ruandas gnadenlos dezimiert und gleichzeitig Kongo destabilisiert. Wem diese Aussage übertrieben erscheint, der sei an das Massaker im Flüchtlingslager Kibeho erinnert, wo die ruandische Armee am 22.April 1995 Tausende Hutu-Zivilisten tötete, überwiegend Frauen und Kinder..."

Der rumänische Publizist Mircea Vasilescu sieht den EU-Beitritt seines Landes nach dem "Nein" der Franzosen und Niederländer gefährdet und protestiert: "Einerseits verlangt uns der Westen im Namen der europäischen Integration harte Reformen ab, andererseits 'sabotiert' er die Integration, weil die Bürger einiger westlicher Länder mit der nationalen Politik ihrer Regierungen unzufrieden sind."

Weitere Artikel: In der Leitglosse äußert Hubert Spiegel seine Unzufriedenheit über die neuesten, die Rechtschreibung betreffenden Entscheidungen. Jordan Mejias schildert den traurigen Abstieg des einstigen New Yorker Opern-Mäzens Alberto Vilar, der jetzt wegen Veruntreuung in Untersuchungshaft sitzt. Eleonore Büning berichtet von der Verleihung des Ernst-von Siemens-Preises an den Komponisten Henri Dutilleux, und Patrick Bahners von der Verleihung des Börne-Preises an den FAZ-Kollegen Henning Ritter. Martin Lhotzky gratuliert der Historikerin Erika Weinzierl zum Achtzigsten. Andreas Rossmann berichtet über die Gründung einer deutschen Kafka-Gesellschaft.

Auf der Medienseite trägt Stefan Niggemeier neueste Details zum Schleichwerbungsskandal in der ARD-Serie "Marienhof" zusammen. Und Florentine Fritzen hat in Ludwigsburg ein Kolloquium zur Lage der Dokumentarfilmerei verfolgt.

Auf der letzten Seite fragt Christian Schwägerl, was sechs mit dem Heinz-Maier-Leibnitz-Preis ausgezeichnete Jungforscher vom Wissenschaftsstandort Deutschland halten. Gina Thomas porträtiert die chinesische, im Londoner Exil lebende Autorin Jung Chang, die demnächst in einer Mao-Biografie die letzten Mythen über diesen mörderischsten aller Revolutionsführer zerstören will. Und Paul Ingendaay wundert sich über zweierlei: erstens, dass Liz Mohns Buch mit dem schönen Titel "Liebe öffnet Herzen", das offiziell 19,50 Euro kostet, bei Amazon "in sehr gutem Zustand" schon für 1,09 Euro zu haben ist, und zweitens, dass sich zwei spanische Abgeordnete verfeindeter Fraktionen verliebt haben, weil beide Lyrik lieben. Gemeldet wird, dass in Bremen auf der Rückseite eine bekannten Munch-Gemäldes ein bisher unbekanntes entdeckt wurde.

Besprochen werden eine Pieter-de-Hooch-Ausstellung in Hamburg, ein "Tell" in Thomas Langhoffs Inszenierung in Mannheim, Rene Polleschs Stück "Häuser gegen Etuis" im Burgtheater und Sachbücher, darunter ein Band mit "Traumprotokollen" von Theodor W. Adorno.