Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.11.2005. In der Welt spricht Andrzej Przewoznik über das geplante "Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität", eine Gegengründung zum "Zentrum gegen Vertreibungen". Auch die NZZ liefert Informationen dazu. Die taz nennt Bernd Neumann den "idealen Kulturstaatsminister für Leute, die das Amt eines Kulturstaatsministers im Grunde für überflüssig halten", andere loben seinen Pragmatismus. Im Tagesspiegel spricht Isabelle Huppert über Sarah Kanes Stück "4.48 Psychose". Die FAZ schaut Kanzler Merkel ins Hirn.

NZZ, 23.11.2005

Gerhard Gnauck beschreibt detailliert, wie das "Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität" allmählich Gestalt annimmt, das sich - anders als das Zentrum gegen Vertreibung - auf die Kooperation der Polen stützen kann: "Sitz des Sekretariats wird Warschau sein; aus Mitteln des polnischen Künstlers und Auschwitz-Überlebenden Jozef Szajna wurde als Träger eine Stiftung nach polnischem Recht gegründet. Mit dem polnischen Historiker Andrzej Przewoznik wurde im November auch der Vorsitzende des Stiftungsrats gewählt. Die das Netzwerk tragenden Länder - bis jetzt Deutschland, Polen, Ungarn und die Slowakei - haben für ihren Bereich je einen 'Koordinator' benannt und werden bald je einen Mitarbeiter nach Warschau entsenden. Österreich erwägt eine Teilnahme, während Tschechien von Anfang an eine passive Beobachterrolle einnahm."

Joachim Güntner blickt dem neuen Kulturstaatsminister Bernd Neumann mit Gelassenheit entgegen: "Der ehemalige Lehrer wird gewiss nicht noch einmal wie vor dreißig Jahren urteilen, er sähe die Gedichte Erich Frieds 'lieber verbrannt' als im Schulunterricht behandelt. Heute gilt Neuman als konzilianter, sachlicher Pragmatiker mit einer Feierabendpassion fürs Akkordeonspiel und einer professionellen Vorliebe für Medien- und Filmpolitik."

Besprochen werden Peter Konwitschnys "brillante" Inszenierung von Mozarts "Cosi fan tutte" in der Komischen Oper Berlin, Gregg Arakis Pädophilie-Film "Mysterious Skin", der neue Katalog der Stiftung Sammlung E. G. Bührle, Deirdre Bairs biografische Studie über C. G. Jung und Antonio Tabucchis Requiem "Tristano stirbt" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 23.11.2005

Er sei der "ideale Kulturstaatsminister für Leute, die das Amt eines Kulturstaatsministers im Grunde für überflüssig halten" eröffnet Dirk Knipphals sein Porträt von Bernd Neumann, dem neuen Kulturstaatsminister. Und erwartet eigentlich auch sonst nichts weiter: "Eins allerdings ist dann doch bemerkenswert: dass die Konservativen hierzulande offensichtlich so wenig Lust auf Profilierung im Kultursektor haben. Ein Besuch in Bayreuth gehört zwar irgendwie dazu. Aber ansonsten will man davon möglichst wenig belästigt werden. Es gab im Bürgertum immer wieder den Willen, künstlerisch auf der Höhe der Zeit zu sein. Interessant, dass die jetzige CDU so wenig an solche Traditionen anknüpfen will."

Weiteres: Harald Fricke stellt zwei Ausstellungen vor, mit der die Hamburger Deichtorhallen und die Kestner-Gesellschaft in Hannover in einer ersten umfassenden Retrospektive den 2002 tödlich verunglückten Maler Michel Majerus würdigen. Besprochen wird außerdem die Ausstellung "Faites vos jeux" in der Berliner Akadamie der Künste. Und in der tazzwei beschreibt Guiseppe Pitronaci wie die Werbewirtschaft dem öffentlichen Raum zusetzt.

Und hier Tom.

FR, 23.11.2005

Als "kulturpolitische Lautverschiebung" bewertet Peter Michalzik die Ernennung von Bernd Neumann zum Kulturstaatsminister. Neumann sei "keine schillernde Persönlichkeit, kein Mann, den man sich als Kulturminister einer strahlenden Kulturnation vorstellt, er ist, ewiges Vorbild, kein Jack Lang, und er ist auch keine Nike Wagner. Er ist Politiker durch und durch, ein Mann der Verbindung und der Strippe, ein Parteimensch. Das wirkt ein wenig langweilig, ist aber eine Antwort auf die momentane Situation."

Weiteres: Hans-Klaus Jungheinrich porträtiert den neuen Generalmusikdirektor von Frankfurt Sebastian Weigle und in Times mager kommentiert auch Hans-Jürgen Linke diese Benennung. Besprochen werden die Ausstellung "Monet und Camille" in der Bremer Kunsthalle und die Inszenierung von Mozarts "Cosi fan tutte" an der Komischen Oper Berlin.

FAZ, 23.11.2005

Nach einigen Darlegungen über die Vorzüge des weiblichen Hirns (Sprachvermögen, Emotionalität) und des männlichen Hirns (Mathe und Orientierung) kommt Reinhard Wandtner zu folgendem politischen Schluss: "Und nun steht ausgerechnet eine Frau in Deutschland an der Spitze der Regierung. Das ist wahre Exotik. An Männer in diesem Amt haben wir uns gewöhnt. Sie sind berechenbar. Aber eine Frau? Sie macht ratlos. Freilich muss man eines bedenken: Auf dem Weg zu hohen politischen Ämtern werden Geschlechtsunterschiede, was die Handlungsweise betrifft, ohnehin weitgehend eingeebnet. Es bleibt nur ein politisches Universalgeschlecht übrig, und das trägt männliche Züge. Wir haben einen neuen Kanzler - und dieser ist zufällig eine Frau." Das ewig Männliche zieht uns hinan!

Weitere Artikel: Monika Osberghaus empfiehlt die "Rote Zora" als weibliche Leitfigur. Regina Mönch berichtet über den Aufschub im Urheberrechtsverfahren um den Lehrter Bahnhof. Edo Reents schreibt zum Tod des Rockgitarristen Link Wray. Edo Reents schreibt auch zum Tod des Rockmusikers Chris Whitley. Angelika Heinick besucht das neue Museum für zeitgenössische Kunst in Vitry-sur-Seine. Mark Siemons berichtet über die deutsch-chinesische Kunstaktion "Beijing Case" in Peking. Günter Platzdasch erzählt die Geschichte der Pariser Vorstadt Aubervilliers, die nicht nur soziale Ausgrenzung, sondern auch eine reiche Kultur aufweisen kann. Wolfgang Sandner schreibt zum Tod des Wagner-Tenors James King. Abgedruckt wird die Dankrede Paul Kirchhofs zum Erhalt des Jacob-Grimm-Preises.

Auf der Medienseite schreibt Jordan Mejias aus den USA über weitere Fälle von Journalisten, die gerichtlich gezwungen werden sollen, ihre Quellen zu benennen. Nils Minkmar betrachtet die Fernsehberichterstattung zur Amtseinführung von Bundeskanzlerin Merkel.

Auf der letzten Seite führt Andreas Rosenfelder in die Fußballfankultur der "Ultras" ein. Patrick Bahners hat einem Vortrag des Historikers Klaus Hildebrand über die Globalisierung um 1900 zugehört, Und Heinrich Wefing porträtiert den neuen Kulturbeauftragten von Kanzlerin Merkel Bernd Neumann als Mann, der "vorzugsweise mit Finanzbudgets, Stellenplänen, Rahmenrichtlinien" operiert.

Besprochen werden Joss Whedons Film "Serenity", eine große Johann-Heinrich-Füssli-Ausstellung in Zürich, Anthony Minghellas Inszenierung der "Madame Butterfly" an der English National Opera und die Ausstellung "Gute Aussichten" im Berliner Museum für Fotografie mit junger deutscher Fotografie.

Welt, 23.11.2005

Gerhard Gnauck unterhält sich mit dem polnischen Historiker Andrzej Przewoznik, der jetzt zum Stiftungsvorsitzenden des "Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität" gewählt wurde. Das Netzwerk war von Regierungen Polens und Deutschlands als Gegenmodell zum umstrittenen "Zentrum gegen Vertreibungen" initiiert worden. Przewoznik will eine künftige Zusammenarbeit mit dem "Zentrum" nicht ausschließen, kritisiert aber dessen Ansatz: "Als Historiker habe ich den Eindruck, dass die Darstellung nur der Vertreibung und Zwangsmigration ein Thema völlig aus dem Kontext der Geschichte Europas reißen würde. Wir wollen, anders als es im von Erika Steinbach gewünschten 'Zentrum' wäre, die Phänomene wieder in ihren Kontext einsetzen, in den Kontext der zwei totalitären Systeme und des Unheils, das sie über die Menschen gebracht haben."

Weitere Artikel: Die Redaktion hat einige Reaktionen von Kulturfunktionären auf die Ernennung Bernd Neumanns zum Kulturbeauftragten zusammengetragen. Matthias Heine erinnert an den Pionier der Sexualwissenschaft August Forel, dessen Buch "Die sexuelle Frage" vor hundert Jahren erschien und in der Schweiz bis heute für Diskussionen sorgt. Reinhard Wengierek kommentiert die Ernennung Karin Beiers zur Schauspielintendantin in Köln ab 2007. Jörg von Uthmann porträtiert Isabell Huppert, die gerade mit Sarah Kanes' "4.48 Psychose" in Berlin gastiert. Johannes Wetzel besucht die Kunst-Biennale in Lyon.

Besprochen werden der Film "Merry Christmas" (mehr) und drei Ausstellungen von Gemälden Michel Majerus' und Eberhard Havekosts.

Tagesspiegel, 23.11.2005

Wenn Isabelle Huppert jetzt in Berlin Sarah Kanes Stück "4.48 Psychose" unter der Regie von Claude Regy aufführt, steht sie dabei zwei Stunden fast unbeweglich vor einem Gazevorhang, auf dem Zahlen auftauchen und manchmal dahinter ein Therapeut, ein letzter Dialogpartner. Im Interview erklärt sie, was sie an dieser Rolle fasziniert hat: "Das ist ja keine Figur, und deshalb kann ich ganz ich selbst sein. Man wird nicht eingeschränkt durch die Vorgabe, dieses oder jenes Gefühl zu spielen. Es ist weiter gefasst, mysteriöser, interessanter." "4.48 Psychose" sei vor allem ein Text über das Schreiben. "Da ist jemand, der sich in seinem Schmerz selbst inszeniert - bis zum Unerträglichen. Wir wissen ja, dass Sarah Kane bald darauf Selbstmord beging. Gleichzeitig ist da jemand, der nach einer präzisen Sprache sucht. Kanes Theater ist eines der Form. Kein Wort macht hier Sinn, wenn es sich von der Form löst. Deshalb spreche ich in der Aufführung auch mit einer speziellen Diktion. Realismus oder Naturalismus wäre hier fehl am Platz. Erstaunlicherweise kommt aus Kanes klarem Bewusstsein des Schreibens auch die Emotion; die Form funktioniert wie eine Rüstung."

SZ, 23.11.2005

Jens Bisky sieht in der Berufung des pragmatischen Polit-Profis Bernd Neumann zum Kulturstaatsminister eine Chance zur Normalisierung für die Bundeskultur. "Sie wird behandelt wie andere Themen auch. Manche im Kulturbetrieb dürfte das verstören, sind sie es doch gewohnt, mit ihresgleichen zu verhandeln, eine Art unaufkündbares Einverständnis vorauszusetzen und im Konfliktfall auf Beamte und Politiker in anderen Ressorts herabzublicken. Neumann tritt als Anwalt der Politik an, nicht als Sprachrohr des Wahren, Guten und Schönen."

In einem Interview erklärt der Rapper Fefe von der französischen Saian Supa Crew, was der Rap aus den Vorstädten leisten kann: "HipHop müsse ein CNN des Ghettos sein, hat Chuck D einmal gefordert. Viele Rapper jedoch verzerren das Bild der Cites, zeichnen eine Karikatur nach den Gangstarap-Vorbildern aus Amerika. Aber wer möchte schon über Armut, Diskrimination und schlechte Bildungschancen rappen? Wir singen auf unserem neuen Album von einer schwarzen alleinerziehenden Mutter, die sich in Paris durchschlägt. Das ist eine Geschichte, die dort jeder kennt."

Weiteres: Moshe Zimmermann, Leiter des Richard Koebner Center for German History in Jerusalem, empfiehlt Angela Merkel die Karriere der ehemaligen israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir als "Anschauungsmaterial". Lothar Müller fürchtet, dass mit der neuen Formel "Kulturförderung ist keine Subvention, sondern Investition in die Zukunft" ein "Trend zur GmbH-Kultur" einhergehen werde.

Ira Mazzoni zweifelt am Sinn der geplanten Stiftung Baukultur. Gerhard Matzig berichtet über die Fortsetzung des Architektur-Prozesses um den Berliner Hauptbahnhof. Steffen Kraft informiert über den Streit zwischen Verlegern und Übersetzern um angemessene Honorare. Gustav Seibt war in Berlin dabei, als Richard A. Clarke für seinen Agentenroman "The Scorpion's Gate" warb. Und Tim B. Müller resümiert eine Rede des ehemaligen iranischen Präsidenten und Religionsgelehrten Mohammad Chatami am Wissenschaftskolleg in Berlin.

Besprochen werden eine große Matisse-Ausstellung in der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf, Armin Petras' Inszenierung von Goethes "Egmont" am Schauspiel Frankfurt, Holger Borggrefes Hartz-IV-Film "Willkommen im Club", zwei Münchner Musikabende mit der Sängerin Renee Fleming und mit Zubin Mehta, ein Gastspiel der Choreografen und Tänzer Akram Khan und Sidi Labi am Berliner Hebbeltheater, und Bücher, darunter David Means Erzählband "Coitus" und die Studie "Der Pharma-Bluff" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).