Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.12.2005. Es gibt jüdisch-orthodoxe Rapper, erfährt die FR. Die dürfen aber nicht Stage-Diven. Die taz schaut sich Pixar-Trickfilme im MoMA an. Fällt die ehemalige AEG-Fernmeldekabelfabrik von Ernst Ziesel, fällt ganz Berlin- Öberschöneweide, warnt die SZ. Während die Welt grübelt, welche Berechtigung Kultur überhaupt noch hat, stellt die NZZ simbabwische Schriftstellerinnen vor.

FR, 20.12.2005

Der jüdisch-orthodoxe Rapper Matisyahu erklärt im Interview, wie sich Rap-Konzerte mit der Thora vertragen. "Ich suche mir Rat, wenn ich eine Frage habe. Zum Beispiel: Darf ich Stage-Diven, darf ich ins Publikum springen? Ich habe es ein paar Mal ganz spontan getan, bis meine Frau mich darauf hinwies, dass mich dabei Frauen berühren könnten. Es gibt ein Gesetz, dass sich Männer und Frauen nicht berühren dürfen, wenn sie nicht verheiratet sind. Also habe ich den Rabbi gefragt und er hat es mir untersagt."

Weitere Artikel: Oliver Eberl grübelt noch einmal über den Grund der Jugendgewalt in Frankreich. In Times Mager macht sich Harry Nutt Gedanken über Manipulationen der Medien.

Besprochen werden Lessings Stück "Minna von Barnhelm" in Andrea Breths Inszenierung am Wiener Burgtheater ("erschreckend unergiebiges theatralisches Getue", findet Peter Iden), Laurent Chetouanes Inszenierung von Goethes "Iphigenie" an den Münchner Kammerspielen und Wagners "Lohengrin" an der Wiener Staatsoper ("ein Wolke-Sieben-Ereignis für den Wagnerfreund", schwärmt Joachim Lange).

TAZ, 20.12.2005

Mit einer Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art hat das Animationsstudio Pixar den "Ritterschlag der Hochkultur" erhalten, berichtet Tobias Moorstedt, der an der Würdigung für die Trickzeichner nichts auszusetzen hat. "Die Superheldenköpfe und Monsterstudien passen ins Museum. Unter der Vitrine sehen die Ton- und Kunststoffskelette aus wie Ausgrabungsstücke eines Naturkundeforschers. Die Pixar-Paläontologen haben unter anderem einen Anglerfisch ("Nemo") und den bösen Lurch Randall ("Monsters Inc.") ausgegraben. Die Büsten der Superhelden gleichen Statuenköpfen von Königen und Göttern der Vergangenheit. Und vielleicht stellen sich hier nicht nur Kinder die Frage, wer der Gegenwart eigentlich näher steht: der alte Bronzekopf von Hammurapi oder die fiktive Modeschöpferin Edna E. Mode, in deren Antlitz Genie und Wahnsinn von Lagerfeld, Coco und Vivienne Westwood vereint wurden?"

Weiteres: Dirk Baecker entwirft eine Matrix des Deutschseins. "Sich deutsch zu fühlen heißt, sich in einem der sechs Werte Ausländerfeindlichkeit, Ausländerfreundlichkeit, Romantik, Aufklärung, Technik und Komplexität zu Hause zu fühlen und alle anderen fünf Werte mit zu führen." Jan-Hendrik Wulf blättert in den neuen Ausgaben von "Literaturen" und "Lettre".

Vor fünfzig Jahren vereinbarte die Bundesrepublik mit Italien eine Anwerbeabkommen für Gastarbeiter. Mittlerweile sind die damals willkommenen Migranten zur Projektionsfläche für die Abstiegsängste der Arbeiter und Angestellten geworden, meint Eberhard Seidel auf den Tagesthemenseiten. "Der neue Rassismus der Mittelschichten ist kein völkischer, er verkleidet sich in kulturalistische und essentialistische Diskurse über Ehrenmorde, Zwangsheirat und den Islam. Getreu dem Motto: Wir, die aufgeklärten, pluralistische Deutschen und ihr, die rückständigen, antidemokratischen Troublemaker. Eine moralische Überlegenheit wird konstruiert, indem das Wilde, Barbarische, Unzivilisierte, Rückständige, Gewalttätige nach außen verlagert wird. Wachsender Antisemitismus, die Pisakatastrophe und Bildungs- und Sprachmisere, Homophobie, Gewalt in der Familie und in Beziehungen, affektive männliche Sexualität - das alles wird mit wachsender Lust auf Türken, Araber beziehungsweise die Muslime projiziert."

Der Migrationsexperte Dieter Oberndörfer erklärt Thilo Knott im Interview, warum Deutschland keine Zuwanderungspolitik wie andere klassische Einwanderungsländer hat, die sich an demografischen Kriterien orientiert.

Besprochen werden die "große" Retrospektive auf den Fotografen Lee Friedlander im Münchner Haus der Kunst sowie die auf Deutsch eingespielte Beatles-Platte "Helft" von Klaus Beyer ("Du machst mich hitzig Miss Lizzy" inklusive) sowie eine DVD mit einem Querschnitt aus seinem Schaffen.

Und Tom.

SZ, 20.12.2005

Die Online-Enzyklopädie Wikipedia wird es zukünftig auch in einer von Profis überprüften unveränderbaren Fix-Version geben, wie Bernd Graff erfahren haben will. Ira Mazzoni warnt vor einem Abriss der ehemaligen AEG-Fernmeldekabelfabrik von Ernst Ziesel (und anderen) in Berlin-Oberschöneweide (mehr). "Fällt der Zieselbau, dann fällt auch Oberschöneweide." Tobias Moorstedt berichtet, wie konservative Organisationen in den USA den christlichen "Merry Christmas"-Wunsch vor dem neutraleren "Happy Holiday" retten wollen. Claus Heinrich Meyer wettert in der "Zwischenzeit" wegen acht Stunden Fahrtzeit zwischen Zürich und München über Bahnchef Hartmut Mehdorn. Tobias Timm preist Fernando Menis' "rohes, brutales und charmantes" Kongresszentrum "Magma" an der Playa de las Americas auf Teneriffa, das von der einen Seite wie ein Stealth-Bomber, von der anderen Seite wie eine Lavalandschaft aussieht. Henning Klüver feiert den hundertsten Geburtstag der Villa Romana, des deutschen Künstlerhauses in Florenz, und weist auf eine diesbezügliche Ausstellung im Neuen Museum von Weimar hin.

Im Medienteil lobt Welt-Chefredakteur Roger Köppel im Gespräch mit Hans-Jürgen Jakobs sich selbst: "Wir haben aber zum Beispiel einige gute Autoren geholt, unser 'Forum' neu organisiert und den Wissenschaftsteil erweitert. Außerdem haben wir die beste Literaturbeilage des Landes."

Besprochen werden Laurent Chetouanes "prätentiöse" Inszenierung von Goethes "Iphigenie" an den Münchner Kammerspielen, Johan Simons' Aufführung von Michel Houellebecqs Roman "Plattform" als "warmes Weihnachtsmärchen" am ehemaligen flämischen Publiekstheater und jetzigen NT Gent, zwei Ausstellungen mit Zeichnungen und Karikaturen von Volker Kriegel und Manfred von Papen alias papan im Wilhelm-Busch-Museum Hannover, eine Schau mit Werken des Malers James Ensor in der Frankfurter Schirn, "fatalerweise" in thematischer wie motivischer Hängung, ein Auftritt des "höchst talentierten" Cellisten Misha Maisky im Münchner Prinzregententheater, und Bücher, darunter Christoph Türckes "fulminante" kritische Theorie der Schrift "Vom Kainszeichen zum genetischen Code", Attila Bartis' Roman "Die Ruhe" (hier eine Leseprobe) sowie Sergio Pitols Erzählungen "Mephistowalzer" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 20.12.2005

Wozu wird eine Akademie der Künste heute eigentlich noch gebraucht, fragt Tilman Krause und formuliert am Ende seiner Überlegungen eine Aufgabe: "Wie können wir heute, in einer Zeit, die nur noch kommerzielle Parameter gelten lassen will, bei gleichzeitigem rapiden Ansehensverlust der gesamten Welt der Kultur und der Künste, wie kann man heute überhaupt Kultur noch legitimieren? ... Um diese Debatte führen zu können, muss man sich hineinversetzen in Menschen, die nicht im kulturellen Sinne dazugehören. Das fällt aber nicht nur den Mitgliedern vergreister, in ihren Privilegien erstarrter Akademien schwer. Die Akademie hat ein Problem. Aber es ist das Problem, das wir heute alle haben."

Weitere Artikel: Berthold Seewald beklagt den Verfall italienischer Denkmäler. Josef Engels stellt Deutschlands erfolgreichsten Nachwuchs-Cartoonisten, Joscha Sauer, vor. Gabriela Walde erzählt, wie die Berliner Gemäldegalerie den Altar der Franziskanerkirche Santa Croce in Florenz rekonstruiert hat, der zur Zeit in der Ausstellung "Geschichten aus Gold" zu sehen ist. Marion Leske erklärt, warum der Versuch, das Wallraf-Richartz-Museum in eine GmbH zu überführen, nach drei Jahren Verhandlungen gescheitert ist. Werner Weidenfeld denkt über die Kraft religiöser Zeichen nach. Hanns-Georg Rodek meldet, dass Mickey Rooney gerade seinen 79. Film abgedreht hat. Kein Wunder: Sein Filmdebüt gab er 1926.

Besprochen werden die enzyklopädische Schau "Lichtkunst aus Kunstlicht" im ZKM in Karlsruhe, Lessings Stück "Minna von Barnhelm" in der Inszenierung von Andrea Breth in Wien und die Ausstellung "Migrationen. Zuwanderungsland Deutschland 1500-2005" im Deutschen Historischen Museum.

NZZ, 20.12.2005

Marcela Knapp stellt die Zimbabwe Women Writers vor, die seit fünfzehn Jahren Schriftstellerinnen und alle Frauen unterstützen, die der Öffentlichkeit etwas mitzuteilen haben. "Hierzu gehörte das Projekt, ehemalige Freiheitskämpferinnen im unabhängigen Simbabwe zu interviewen mit speziellem Fokus auf ihre jetzige Situation. Besondere Aufmerksamkeit verdient zudem das Buch 'A Tragedy of Lives - Women in Prison', das die Geschichten von ehemaligen weiblichen Gefangenen wiedergibt. Das Buch zeigt, dass die meisten Frauen aus Not kriminell wurden, um ihre Familien ernähren zu können."

Besprochen werden die Ausstellung "Fashion in Colors" im New Yorker Cooper Hewitt National Design Museum, die zusammen mit dem Kyoto Costume Institute organisiert wurde, die Premiere einer neuen Aufführung des "Nussknacker" am Grand Theâtre de Geneve mit einer Choreographie von Benjamin Millepied, weiterhin Domenico Starnones herzzerreißender Künstlerroman "Via Gemito" sowie Anita Albus' Requiem auf seltene und ausgestorbene Vögel "Von seltenen Vögeln".

FAZ, 20.12.2005

In der FAZ-Familienreihe, die wir schon abgeschlossen wähnten, greift Andreas Rosenfelder das Leiden der deutschen Väter auf: "Da fast jede zweite Ehe geschieden wird und die Kinder nur in jedem siebten Fall beim Vater verbleiben, kann sich jeder Mann das mit dem Zeugungsakt eingegangene Risiko ausrechnen, später zur Kategorie der Scheidungsväter zu gehören. Der Bremer Soziologe Gerhard Amendt, Zwillingsbruder des linken Sexualforschers Günter Amendt, legte vor einem Jahr die erste empirische Studie zum Thema vor. Fast die Hälfte der 3600 befragten Männer sieht die eigenen Kinder nach der Trennung nur noch selten oder gar nicht mehr. 42,1 Prozent betrachten sich als bloße 'Wochenendväter', 24,9 Prozent empfinden sich als 'Zahlväter', und zehn Prozent fühlen sich ihrer Vaterrolle vollständig beraubt."

Weitere Artikel: Heinrich Wefing stellt den von Herzog und de Meuron entworfenen Neubau des De-Young-Museums (Bilder) in San Francisco vor. Gina Thomas berichtet in der Leitglosse, dass man in Oxford und Cambridge nach andauernder Kritik die Praxis des College-Interviews, mit der die Studienbewerber ausgewählt werden, überprüfen will. Joseph Hanimann greift die vor einigen Wochen von Regis Debray in einem kleinen Buch aufgeworfene Debatte um das Theaterfestival von Avignon und ein angeblich eitel um sich selbst kreisendes Theater auf. In der Reihe "Wir vom politischen Archiv" stellt Maria Keipert eine Randnotiz Wilhelms II. auf einem Dokument aus der Zeit vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor. Pia Reinacher gratuliert dem Schweizer Schriftsteller Jürg Laederach zum Sechzigsten. Hansgeorg Herrmann hat Mikis Theodorakis besucht, der jüngst achtzig Jahre alt wurde, und würdigt sein Lebenswerk. Joseph Croitoru wirft einen Blick in osteuropäische Zeitschriften, die sich mit der Rolle von Jazz und Rock im Ostblock auseinandersetzen.

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld, dass Springer Sat 1 einem Fernsehbeirat unterstellen würde, um beim Kartellamt die Fusion von Verlagshaus und Pro 7 Sat 1 genehmigt zu bekommen. Michael Hanfeld schreibt auch über die drastischen Gewinnvorgaben der neuen Besitzer des Berliner Verlags, und er meldet, dass Stasi-Experte Jochen Staadt den Fall Boßdorf für die ARD untersucht.

Auf der letzten Seite porträtiert Dietmar Dath den Naturforscher und New-Age-Mystagogen Jack Sarfatti. Wiebke Huester stellt den neuen Leipziger Choreografen Paul Chalmer vor. Jürgen Dollase kritisiert in harten Worten neumodische Restaurantführer, die auf Voten des Publikums beruhen.

Besprochen werden Goethes "Iphigenie auf Tauris", inszeniert von Laurent Chetouane in München, Konzerte Zeitgenössischer Musik beim "Moskauer Herbst" und eine Installation Rachel Whitereads in der Londoner Tate Modern.