Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.02.2006. Das "Tal der Wölfe" und Gerhard Stadelmaier treiben die Feuilletons weiter um. Ersteren hält die taz für einen antisemitischen Hetzstreifen, die FR als Beispiel für straffreien schlechten Geschmack. In der Welt verteidigt Hellmuth Karasek den FAZ-Kritiker, die SZ tadelt salomonisch beide Seiten. In der SZ fordert auch Jim Rakete für den deutschen Film mehr riskante Stoffe. Die NZZ erklärt ein französisches Grundprinzip: "Je schmaler die Einsicht, umso pompöser der Stil". 

Welt, 22.02.2006

Im Magazin gibt es ein Interview mit dem ehemaligen Geheimagenten Robert Baer, dessen Erinnerungen die Vorlage für George Clooneys Thriller "Syriana" waren. Von seinem Agentenalltag im Beirut von 1983 erzählt er: "Wir haben aus verschiedenen Agentenwohnungen heraus operiert, quer über die Stadt. Ich habe praktisch jede Nacht in einem anderen 'Safe House' geschlafen. Jede Wohnung war komplett ausgerüstet mit Waschmaschine, Schleuder, Waffen, Kommunikation. Am nächsten Morgen habe ich erledigt, was zu erledigen war: Berichte schreiben, Wäsche waschen... Wir haben ständig Sabotageakte ausgeführt, ob gegen Waffen oder Kommunikationssysteme. Man schleust präparierte Waffen in den Markt und hofft, dass der Feind sie kauft. Ein Trick, so alt wie der Krieg. Erinnern Sie sich an die Leiche mit den falschen Kriegsplänen, welche die Engländer im Zweiten Weltkrieg an den Strand bei Lissabon schwemmten, damit die Deutschen die Pläne finden?"

Hellmuth Karasek
bekundet seine Solidarität mit Gerhard Stadelmaier und eine Abneigung gegen die Belästigungen des zeitgenössischen Theaters. "Ich bin froh, dass Stadelmaier angesichts dieses rüden pöbeligen Zwischenfalls sich nicht zu dem Humor gezwungen hat, den die Attacke auf seine Kosten provozieren wollte. Er hat die heuchlerisch sadistischen Erwartungen des politisch korrekten 'Theatervölkchens' nicht erfüllt, hat auf seinen Beruf und die Einhaltung guter Sitten, wenigstens im Mindestmaß, bestanden."

Die Himmelsscheibe von Nebra beweist, dass die frühen Sachsen-Anhaltiner überraschenderweise schon Astronomiekenntnisse besaßen, die in Babylonien erst tausend Jahre später festgehalten wurden, meldet Dankwart Guratzsch. Bei Stephen Kings neuem Roman "Cell" lassen die Handys ihre Besitzer zu Zombies werden, woraufhin Wieland Freund das Mobiltelefon als Ursache eines sozialen Rückschritts brandmarkt. Ulrich Weinzierl berichtet von der Urteilsverkündung im Prozess gegen den britischen Publizisten David Irving. Eckhard Fuhr hält die Aufregung um "Tal der Wölfe" für eine B-Debatte.

Besprochen werden zwei Choreografien, Martin Schläpfers Bearbeitung von Strauß in Mainz sowie Kevin O'Days Tanzstück "Eine Stunde zehn" in Mannheim, das auf Steve Reichs "Music for 18 Musicicans" basiert.

FR, 22.02.2006

Sebastian Moll informiert über das neue Megaprojekt in Las Vegas - Project City Center: "Eine völlig autarke Stadt in der Stadt. 60 Stockwerke hoch soll das City Center werden und 5000 Hotelbetten, 1500 Luxuswohnungen, 50 000 Quadratmeter Edelboutiquen, Privatclubs für die Bewohner und Hausgäste, Bühnen und, ja, sogar Kasinos beheimaten. Um der gewünschten Klientel das Ganze noch schmackhafter zu machen, hat MGM-Mirage-Chef Terrence Lanni ein All-Star-Aufgebot renommierter Architekten auf dem Weltmarkt angeheuert: Cesar Pelli, Norman Foster, Daniel Libeskind, Rafael Vinoly sowie James Cheng sollen durch ihre Mitwirkung an dem Projekt das Prestige und somit die Mietpreise in die Höhe treiben."

Der türkische Film "Tal der Wölfe" sei ein "Beispiel dafür, dass schlechter Geschmack ärgerlich - aber eben nicht verboten" ist, findet Daniel Kothenschulte. In Times mager berichtet Elke Buhr über die Pressekonferenz zur documenta 12 im nächsten Jahr, auf der bereits die Namen zweier Künstler verraten wurden: Artur Zmijewski aus Warschau und der Koch Ferran Adria aus Barcelona, der mit seiner Versuchsküche nun offenbar den Sprung in die Kunst geschafft hat.

Besprochen werden Franz-Xaver Kroetz' "überflüssige" Inszenierung des Volksstücks "Servus Kabul" von Jörg Graser, eine Ausstellung über den Architekten Engelbert Kremser im Deutschen Architektur-Museum in Frankfurt und Bücher, darunter eine Wiederauflage von Ernst Augustins Roman "Eastend", Thomas Palzers Roman "Ruin" und der biografische Bericht "Zwischen zwei Welten" von Zainab Salbi und Laurie Becklund über das Leben in Saddams Irak (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 22.02.2006

Robert Misik sieht in dem türkischen Film "Tal der Wölfe" einen "panislamischen, antiwestlichen und degoutant antisemitischen Hetzstreifen". Ein Vergleich mit Rambo- und ähnlichen Kalten-Kriegs-Filmen führe dabei in die Irre. "Diese waren in eine Systemauseinandersetzung eingebettet, und die 'bösen' Russen oder Vietnamesen in solchen Streifen sind in ihrer Eigenschaft als Kommunisten böse, nicht in ihrer ethnischen Identität als Slawen oder Asiaten."

Weiteres: Enttäuschend fand Ulf Erdmann Ziegler die große Kippenberger-Schau in der Londoner Tate Modern. In Deutschland würde zumindest das Sprachproblem wegfallen. "Zugegeben, 'Abschied vom Jugendbonus!' ist nicht leicht zu übersetzen, aber ein 'youth bonus' ist, im britischen Sprachgebrauch, gewiss nicht des Pudels Kern. Was hätte ein literarisch geschulter Übersetzer aus dem Kippydeutsch machen können!"

Wolfgang Müller staunt schließlich über die Begründungen, mit denen im polnischen Lublin kürzlich eine Ausstellung von T-Shirts mit "provokanten" Aufschriften wie "Ich bin schwul" und in Warschau eine schwul-lesbische "Gleichberechtigungsparade" verboten wurden.

Und hier Tom.

NZZ, 22.02.2006

Andrea Köhler hält die Ergebnisse von Bernard-Henri Levys Reporterreise durch Nordamerika für unbedeutend bis ärgerlich. "Seine Stationen - Mount Rushmore, Las Vegas, Beverly Hills, Graceland, New Orleans, Highway Nr. 1 - unterscheiden sich nicht von den Schauplätzen eines Geo-Heftes; Levys Analysen kommen über Selbstverständliches selten hinaus. Ja, alles ist groß in Amerika, die Fast-Food- und die Diät-Industrie, die Mega-Kirchen und Mammut-Malls (diese 'Tempel des Konsums'), die Geldgier und die Frömmigkeit, der naive Patriotismus und der grenzenlose Pragmatismus, an dem jede Ideologie zerschellt. So sind sie, die Amerikaner. BHL ist Franzose; je schmaler die Einsicht, umso pompöser der Stil."

Angelo Garovi würdigt die Turiner Hinterlassenschaften des Tessiner Barockarchitekten Michelangelo Garove. Besprochen werden "Villa Jelmini", eine Anti-Hommage an den Kurator Harald Szeemann in der Kunsthalle Bern und Bücher, darunter Simon Sebag Montefiores Biografie von "Stalin. Am Hof des roten Zaren" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 22.02.2006

Zum Kinostart von Oskar Roehlers "Elementarteilchen" seufzt Verena Lueken: "Wäre das Ganze wenigstens skandalös! Doch Roehler erzählt mit einer Betulichkeit, die die hundertfünf Filmminuten wie eine kleine lebenszeitvernichtende Ewigkeit erscheinen lassen." So bleibt ihr nur Spott: "Die männliche Sexualität: ein großes Drama ohne Ausweg außer der Flucht in den Wahn. Vielleicht muss man ein Mann sein, um das volle Ausmaß dieser Tragödie zu ermessen."

Weiteres: Reinhard Olt berichtet von einer Petition, in der Nobelpreisträger Imre Kertesz und rund achtzig Wissenschaftler fordern, die Universität im siebenbürgischen Klausenburg (Cluj-Napoca) wieder in eine ungarische Universität umzuwandeln. 1959 wurde sie von Nicolae und Ion Iliescu zwangsrumänisiert. Malte Herwig hat den Wiener Prozess gegen den Holocaust-Leugner David Irving verfolgt, der offenbar auch von einem großen Aufgebot an arabischen und iranischen Medien beobachtet wurde. Andreas Platthaus hat sich in Dresden zusammen mit der 93-jährigen Zeitzeugin Leopoldine Krüger die Premiere des Fernsehfilms "Dresden" angesehen.

Eine Art "Prag mit Chelsea im Keller" hat Niklas Maak in der Berliner Auguststraße entdeckt. Erlebt hat er nicht nur eine Party mit Matthew Barney und Charlotte Rampling, sondern auch die Eröffnung der "YBA", einer Mischung aus klassischer Ausstellung und "kuratorischem Metakunstwerk". Irene Bazinger berichtet von einer Demonstration gegen den Abriss der Theater am Kurfürstendamm. Wolfgang Schneider berichtet von der "Faust"-Konferenz in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin, Eberhard Straub von einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung zu "Papsttum und Politik".

Auf der Medienseite unterhält sich Michael Hanfeld mit Sat1-Chef Roger Schawinski über die Sanierung seines Senders.

Auf der letzten Seite stellt Regina Mönch Vernor Munoz Villalobos vor, der als UN-Sondergesandter die Lage in deutschen Schulen unter die Lupe nehmen soll. Gustav Falke sieht und hört sich in Kreuzberg unter Einwanderern um. Und Judith Leister meldet zunehmende Verärgerung über das Kulturprogramm der Münchner Schrannenhalle.

Besprochen werden Einojuhani Rautavaaras Oper "Rasputin" in Lübeck, ein Udo-Jürgens-Konzert in der Frankfurter Festhalle, und Bücher, darunter Patrick Roths Heidelberger Poetikvorlesungen "Zur Stadt am Meer" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

SZ, 22.02.2006

Im Aufmacher kommentiert Christopher Schmidt den "Stadelmaier-Eklat" und denkt darüber nach, wie weit Theater gehen dürfe. Er bescheinigt zwar dem durch den Schauspieler Thomas Lawinky tätlich angegriffenen Theaterkritiker der FAZ, er verschleiere mit seinem "Missbrauch die Öffentlichkeit" den "banalen Sachverhalt, dass hier bei einer entgleisten Theaterpremiere eine Privatperson von einer anderen beleidigt wurde". Doch das nun einsetzende "Nachtreten" von Theaterleuten gegen den düpierten Kritiker sei eine "gespenstische Tätereinfühlung". "Dabei sollte es unstrittig sein, dass nicht Stadelmaier, sondern Lawinky dem Theater erheblichen Schaden zugefügt hat."

In der Serie über die Kinobranche im Wandel fordert der Fotograf Jim Rakete für den deutschen Film "riskante Stoffe": "Der deutsche Film hat einen kleinen Schritt auf den Asphalt gewagt, er zeigt Mut zur Realität. Liebt er die Figuren genug, um ihnen Kraft oder gar Poesie zu geben? Noch nicht. Noch sitzen wir im grundsoliden Erklärkino, in dem alles auserzählt wird, alles echt sein will bis ins Letzte, bis ins deutsche Detail. Deutsche Filme leiden darunter, dass ein Polizeiauto hierzulande aussieht wie ein Spielmobil, Reichtum im Lande nicht wirklich reich aussieht, Armut kein offenes Bild hergibt."

Weiteres: Jeanne Rubner kritisiert Jose Manuel Barrosos Konzept einer europäischen Super-Universität, das leider nach "Kopfgeburt, grauem Netzwerk und Prinzip Gießkanne" klinge. Tobias Timm stellt den Kurs "Emergency Design" vor, den man an der Züricher Hochschule für Gestaltung und Kunst belegen kann; gedacht ist er für Manager und Designer, die dabei von Kulturphilosophen und Künstlern lernen sollen, eine "Krise zu gestalten". Henning Klüver informiert über die Krise von Italiens Opern und Orchestern. Zu lesen ist außerdem ein Nachruf auf die Schriftstellerin Sybille Bedford.

Auf der Schallplattenseite werden CDs von Will Oldham und der Band Tortoise, Belle and Sebastian, Damian Marley, Fred Frith und Neil Diamond vorgestellt. Besprochen werden des Weiteren Oscar Roehlers Houellebecq-Verfilmung "Elementarteilchen", Sasha Waltz' Choreografie "Fantasie" in Lyon und Bücher: die Biografie des Staatsmanns Montgelas von Eberhard Weis und der Erzählband "In den Farben der Nacht" von Susanne Heinrich (siehe dazu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).