Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.03.2007. Die NZZ porträtiert die Theaterautorin Debbie Tucker Green, die mit ihren Kürzest-Theaterstücken in London (und bald auch Berlin) Furore macht. Die FR fragt  aus Anlass des 400. Geburtstages von Paul Gerhardt: Was sind Tulipan? Die FAZ steigt bei Tschechow ins Entwicklungssäurebad. In der SZ schreibt Tony Judt über die UNO und die USA.

NZZ, 12.03.2007

Patricia Benecke porträtiert die afrokaribische Theaterautorin Debbie Tucker Green, die mit ihren Kürzest-Theaterstücken in London Furore macht und bald auch in Berlin an der Schaubühne aufgeführt wird. Eines der Stücke heißt "Generations" und dauert gerade mal 20 Minuten. In dem Stück wird ein fröhlicher Familiendialog mal um mal wiederholt, "während zuerst die zwei Töchter, dann der Ehemann, schließlich auch die Frau wortlos den Raum verlassen. Die zunehmend traurigen Hinterbliebenen streuen neue ominöse Textbrocken wie 'ich vermisse sie' oder 'diese Krankheit' ein. Zum Schluss sitzen die zwei Großeltern gebrochen in der leeren Küche, ihre Wortspiele sind nur mehr Requiem statt lebendiger Unterhaltung... Tucker Greens Aussparung des Wortes Aids spiegelt intelligent, wie lange die politischen Kreise in Südafrika versuchten, die Epidemie totzuschweigen. Der Abend ist ein kurzes, kraftvolles politisches Statement."

Weitere Artikel: Zu Ostern wird die Sinfonica de la Juventud Venezolana Simon Bolivar aus Venezuela beim Lucerne Festival auftreten. Shirley Apthorp hat Venezuela besucht und beschreibt das inzwischen berühmte Sistema Nacional de Orquesta Juvenil, das Ghettokinder an die klassische Musik heranführt und inzwischen Nachahmer in ganz Lateinamerika findet. Philosoph Robert Spaemann versucht zu klären, was eine gute und was die beste Religion ist. Und Marc Zitzmann besucht die aufstrebende Stadt Nantes, wo das Schloss der Herzöge der Bretagne restauriert und zum Museum für Sadtgeschichte umgewidmet wurde. Außerdem wirft Barbara von Reibnitz einen Blick in die Zeitschriften Vorgänge und Widerspruch. Und der Schriftsteller Lukas Bärfuss schickt einen "Brief aus der Provinz".

TAZ, 12.03.2007

Christian Werthschulte hätte sich auf der lit.cologne etwas mehr Literatur gewünscht. Antje Korsmeier porträtiert die amerikanische Journalistin und Pulitzer-Preisträgerin Katherine Boo, die die Armut in den USA zu ihrem Thema gemacht hat. Hier eine Auswahl ihrer Artikel. Auf der Meinungsseite schimpft Rudolf Walther über nicht linke französische Intellektuelle im Präsidentschaftswahlkampf.

Die Besprechungen umfassen Michael Thalheimers "harmlose und farblose" Inszenierung von Bertolt Brechts "Herr Puntila und sein Knecht Matti" am Thalia Theater Hamburg sowie das Adressbuch Heinrich Manns aus den Jahren 1926 bis 1940 als Faksimile.

Und endlich Tom.

Welt, 12.03.2007

Berthold Seewald will die heute im Moskauer Puschkin Museum eröffnende Ausstellung über die Merowinger nicht als neues Kapitel in der Geschichte der deutsch-russischen Beutekunst-Verhandlungen ansehen, höchstens als neue Form im Umgang mit den bisher meist verwahrten Kunstschätzen. Bisher unbekannte Briefe, die demnächst bei Bonhams in London versteigert werden, könnten endlich zeigen, dass Albert Speer doch Heinrich Himmlers berüchtigte Posener Rede zur Vernichtung der Juden vom 6. Oktober 1943 gehört hat, berichtet Sven Felix Kellerhoff.

Besprochen werden die große Albrecht-Dürer-Schau in den Scuderien des Quirinal in Rom, Michael Thalheimers kühle Inszenierung von Brechts "Herr Puntila und sein Knecht Matti" und neu erschienene DVDs, darunter David Lynchs "Twin Peaks" und "Kontraste"-Sendungen zum Niedergang der DDR.

FR, 12.03.2007

Arno Widmann erinnert an den Kirchenlieddichter Paul Gerhardt, für viele Deutsche der erste Lyriker überhaupt. "Sie saßen als Kinder in den Kirchenbänken - in den evangelischen und den katholischen - und lernten von ihm, dass Freud und Zeit sich reimen. Sie rätselten über 'Narzissus und die Tulipan'. Sie mussten die ersten Lateinstunden abwarten, in denen ihnen der Genetiv erklärt wurde, um endlich zu begreifen, was 'Salomonis Seide' bedeutet. Zu diesem Zeitpunkt konnten sie 'Geh aus, mein Herz, und suche Freud' längst auswendig. Sie liebten das Wort 'Tulipan', lange bevor sie wussten, was es bedeutete."

Weiteres: Harry Nutt macht in einer Times mager auf die heute in Moskau beginnende "Merowinger"-Ausstellung aufmerksam, bei der einige aus dem Krieg aus Deutschland deportierte Stücke zu sehen sind. Christian Schlüter hat sich bei einem Frankfurter Auftritt der kanadisch-portugiesischen Sängerin Nelly Furtado professionell unterhalten gefühlt. Besprochen werden Norbert Abels' Montagekunst-Übung "Mozart und Salieri. Ein Requiem" in der Frankfurter Oper und Christoph Quests Aufführung von Udo Zimmermanns "Weiße Rose".

FAZ, 12.03.2007

"Es ist einfach allerbester Tschechow", schreibt Gerhard Stadelmaier über Stephane Braunschweigs Inszenierung der "Drei Schwestern" in Straßburg. "Stephane Braunschweig, einer der interessanteren und klügeren jüngeren europäischen Regisseure, Herr des Straßburger Nationaltheaters, begreift Tschechows 'Drei Schwestern', diese einhundertundvier Jahre alte Komödie, in der nichts geschieht, außer dass Zeit vergeht und am Ende ein Schuss fällt, als großes Entwicklungssäurebad, in dem die nachbelichteten Bilder merkwürdig ferner Menschen auf altem Fotopapier merkwürdig junge, nahe Konturen bekommen. Auf den Jahrmarktseffekt eines Rummelplatz-Fotoateliers umgerechnet, wäre es so, als steckten Tschechows Menschen ihre alten Köpfe durch moderne Figuren-Umrisse. Hier aber blenden sie das Historische nicht aus, sondern lassen es ingeniös durchscheinen. So ist in Straßburg eine der witzigsten und intelligentesten Tschechow-Inszenierungen dieser Tage zu bestaunen."

Heinrich Wefing hält den Streit um die Rekonstruktion der Berliner Museumsinsel, der sich am Neubau-Entwurf des Architekten David Chipperfield entzündete, für produktiv - und erklärt auch, warum die von Prominenten erhobene Forderung nach Rückkehr zum Vorkriegszustand problematisch ist: "Historisierende Imitate, so die Generallinie, werde es nicht geben: 'Man kann nicht so tun', hat Chipperfield wiederholt erklärt, 'als wäre das Gebäude nie beschädigt gewesen.' Das entspricht den internationalen Standards der Denkmalpflege, die das Authentische höher bewertet als den ungetrübten Augenschein."

Weitere Artikel: Andreas Rossmann hat eine Gedenkveranstaltung zu Ehren der ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja auf der lit.cologne besucht. Beate Tröger weiß in ihrem Bericht von Darmstadts Literarischem März eine ästhetisch freilich etwas konventionelle "neue Sturm-und-Drang-Phase der Lyrik" zu vermelden. In der Glosse macht sich "jöt" über eine Image-Kampagne für den Tee lustig, die auf der Website www.tea-up-your-day.de zu bestaunen ist. Auf der Medien-Seite berichtet Heiko Behr über Aktuelles rund um YouTube: Die BBC stellt dem Internet-Angebot eigene Programmschnipsel zur Verfügung - während in der Türkei ein Gericht den Zugang zu YouTube wegen eines angeblich von griechischer Seite hochgeladenen Videos sperren ließ, in dem Kemal Atatürk als schwul bezeichnet wird.

Auf der letzten Seite porträtiert Christian Schwägerl den soeben mit dem Leibniz-Preis ausgezeichneten Klimawissenschaftler Gerald Haug, der jetzt in die Schweiz geht. Joachim Müller-Jung stellt neue Erkenntnisse zum "Mafiavogel" vor, dem Kuhstärling, der mit einiger Brutalität fremde Vögel zur Aufzucht seiner eigenen Eier zwingt. Reiner Burger freut sich, dass der Freistaat Sachsen sein Kulturraumgesetz verlängert.

Besprochen werden eine große Dürer-Schau in Rom, ein Konzert der br-Symphoniker mit Gustav Mahlers 7. Symphonie unter Mariss Jansons, Michael Thalheimers Hamburger Inszenierung von Brechts "Herr Puntila und sein Knecht Matti", eine Berliner Ausstellung zur Erinnerung an den vor 400 Jahren geborenen Lieddichter Paul Gerhardt und Bücher, darunter Edwin Camerons Aids-Bericht "Tod in Afrika" und Bodo Kirchhoffs neuer Roman "Die kleine Garbo" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 12.03.2007

In einer aus der New York Review of Books übernommenen Besprechung von Büchern zur Uno betont der amerikanische Historiker Tony Judt, dass die Vereinten Nationen noch eine Weile mit der Ablehnung der USA leben müssen. "Das ist neu. Damals im Kalten Krieg war es Chruschtschow, der in den UN mit seinem Schuh auf das Rednerpult schlug. Es war Moskau, das bei jeder geringsten UN-Initiative einschneidende Änderungen forderte und jede Einschränkung seiner souveränen 'Rechte' vehement ablehnte. Nun hat Washington diese Rolle übernommen. Das ist ein Zeichen. Allerdings keines für Stärke, sondern (wie bei der Sowjetunion) eines für Schwäche."

Weitere Artikel: Die Kinderfeindlichkeit ist es, die nicht nur die CDU, sondern Deutschland im Innersten zusammenhält, glaubt Andreas Zielcke herausgefunden zu haben. Der homosexuelle HipHopper Deadlee trommelt in den USA aufsehenerregend dafür, ihn und andere "Gayngsta"-Rapper zu akzeptieren, wie Jonathan Fischer berichtet. Bei der amerikanischen Wikipedia wird wieder einmal gefordert, dass sich die Autoren mit ihren wahren Namen beteiligen sollen, weiß Alex Rühle. Der Artikel, der angeblich Winston Churchills Antisemitismus belegt, könnte auch von seinem Ghostwriter stammen, meint Alexander Menden.

Auf der Medienseite kolportiert Wolfgang Koydl, dass sich die Leiter der britischen Fersnehsender ITV, Channel 4 und Channel 5 vor dem Parlament verantworten müssen, weil sie Zuschauer bei Anrufsendungen über den Tisch gezogen haben.

Besprochen werden die Ausstellung "Blicke auf Europa" mit Europa-Bildern deutscher Maler des 19. Jahrhunderts im Palais des Beaux-Arts Brüssel, Michael Thalheimers "trocken gelegte" Inszenierung von Bertolt Brechts "Herr Puntila und sein Knecht Matti" am am Hamburger Thalia Theater, Phil Morrisons Film "Junebug", Larry Clarks Film "Wassup Rockers" und Pedro Almodavars "Volver" auf DVD, und Bücher, darunter Gerard Pruniers "nüchterne" Analyse des "Darfur"-Konflikts, Uwe Neumahrs Biografie des Cesare Borgia sowie Mordecai Richlers Roman "Die Lehrjahre des Duddy Kravitz" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).