Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.03.2007. Die FAZ widerspricht Ian Buruma: Nicht alles wird gut in Holland. Die FR feiert eine neue Generation an Theaterschauspielern, die sich durch formbewusste Anarchie auszeichnen. Bei jungen Suhrkamp-Autoren entdeckt die taz dagegegen eher ein kollektives Innehalten. Najem Wali erzählt in der NZZ, wie er als einziger Araber auf der Jerusalemer Buchmesse bestaunt wurde.

FAZ, 17.03.2007

Dirk Schümer kann in Bilder und Zeiten nicht an die "flaue" Hoffnung auf gegenseitiges Verständnis glauben, die er in Ian Burumas jetzt auf Deutsch erschienenem Buch "Die Grenzen der Toleranz" über den Mord an Theo van Gogh vorfindet. Er sieht Holland vielmehr auf Konfrontationskurs. "Kann man Zuwanderern tatsächlich Erbsensuppe und Rembrandt, protestantische Ethik und Johan Cruijff als Leitlinien vorgeben, während die Mehrheit der Niederländer sich mit Pasta und Porno, Karibikurlaub und Tennisclub seit langem lustvoll davon freigemacht hat? Und ist es nicht ungemein heuchlerisch, wenn Premier Balkenende unablässig von Gewaltfreiheit redet, sich aber partout nicht für die von ihm inszenierte Kriegsbeteiligung Hollands im Irak verantworten will? Die Illusion von einem toleranten und offenen Holland bricht in den Eruptionen der letzten Jahre ohnehin weg." Die schon seit Monaten wogende Debatte beim Perlentaucher zum gleichen Thema wird nicht erwähnt.

Die Schriftstellerinnen Sybille Lewitscharoff und Felicitas Hoppe begraben im Interview mit Hubert Spiegel die Kollegen Martin Walser und Günter Grass, deren "permanente Zeitgenossenschaft" ihr Werk zerstöre. Lewitscharoff wird recht deutlich: "Ich glaube, das hat ihnen wirklich das Kreuz gebrochen, auch wenn sie heute noch verehrt werden, aber das hat sie wirklich in die Falle gelockt, in die Werksfalle sowieso. Wenn man permanent in dieser Weise kommentieren muss, sich derart dem Zeitgeist aussetzt und ja auch an die Spitze des Zeitgeistes möchte, dann wird auch das eigene Werk infiltriert. Man ist ja jeder Form der Vulgarität ausgesetzt." Nur online wird auf ein dreiminütiges Video hingewiesen, in dem Martin Walser gegenüber Felicitas von Lovenberg bedauert, sich nicht vor neun Jahren mit Ignatz Bubis ausgesöhnt zu haben.

Desweiteren besucht Felicitas von Lovenberg die britische Schriftstellerin Plum Sykes in London. Katja Riedel erinnert an den vor fünfzig Jahren auf einem New Yorker Frsieursessel gestorbenen Mafia-Vordenker Johnny Torrio.

Im Feuilleton feiert Christian Geyer über den Band "Wir müssen unser Land für die Frauen verändern", der Gespäche der Familienministerin Ursula von der Leyen mit Maria von Welser versammelt, als "Revolutionsschrift". Michael Althen sieht beim Deutschen Filmpreis vor allem viel Geld im Spiel. Thomas Thiel war dabei, als Ulf Erdmann Ziegler in Frankfurt acht Tage lang seinen Debütroman "Hamburger Hochbahn" (hier eine Leseprobe) vorlas. Timo Fasch begibt sich nach Plettenberg, um der ersten Sitzung des Carl-Schmitt-Fördervereins beizuwohnen.

Die Plattenseite wartet mit dem neuen Album "Boys and Girls in America" von The Hold Steady und der Platte "Steingarten" des Elektromusikers Pole auf. Besprochen werden zwei Ausstellungen zu Wilhelm Busch in Hannover, Alicia Schersons "barocker" Film "Play", Sandra Leupolds Inszenierung von Per Norgards Oper "Der göttliche Tivoli" in Lübeck, Janusz Kicas Version von Christopher Hamptons Adaption der "Gefährlichen Liebschaften" in Wien, ein Auftritt von Georges Moustaki in Frankfurt, und Bücher, darunter Michael Morpurgos Jugendbuch "Mein Bruder Charlie, Wilhelm Genazinos Roman "Mittelmäßiges Heimweh" sowie Peter Kurzecks Roman "Oktober und wer wir selbst sind" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

An Lyrik findet sich Peter Rühmkorfs Gedicht "Fortes Fortuna adjuvat":
"Als ich endlich war,
was ich früher einmal hatte werden wollen,
wohl gelitten, gern gelesen,
waren meine besten Zeiten offenbar schon gewesen.
..."

NZZ, 17.03.2007

Im Feuilleton erzählt der irakische Schriftsteller Najem Wali von seiner ersten Reise nach Jerusalem, als wahrscheinlich einziger arabischer Gast der Jerusalemer Buchmesse. "Zev Birger, der würdevolle Direktor der Buchmesse, bestand darauf, während des Treffens 'Voices From the Hilltop' neben mir zu sitzen und meine Hand zu halten. Dann und wann hob er den Kopf, lächelte mir zu und tätschelte mir die Hand, als wolle er sagen: 'Herzlich willkommen! Ich kann immer noch nicht glauben, dass Sie hier sind!'"

Weiteres: Andrea Köhler sammelt die positiven Reaktion auf die Berufung Gerard Mortiers an die New York City Opera 2009. Zu lesen ist eine kleine Erzählung von Romesh Gunesekera zu Regen und Klima.

In der Beilage Literatur und Kunst schildert Sabine Richebächer die Geschichte von Isaak Spielrein, Bruder der Psychoanalytikerin Sabina Spielrein und Vertreter der russischen Psychotechnik. "'Maschinisazija' heißt das Zauberwort der Stunde. 'In Maschinen und Instrumenten hat man alles berechnet und justiert. Wir werden das Gleiche machen mit der lebenden Maschine, d. h. mit dem Menschen', schwärmt Alexei Gastew. Spielrein findet Gastews Ansatz zu mechanistisch. Er ist froh, als er den Auftrag erhält, selber eine psychotechnische Abteilung an der Ersten Moskauer Universität einzurichten. Es ist der Beginn einer beispiellosen Karriere, die ihn ins Zentrum der Macht führt."

Stefan Zweifel porträtiert den Maler Andreas Walser, der 1930 im Alter von 22 Jahren starb. Heinz Bütlers Film "Die Nacht ist heller als der Tag" über den Maler wird einige Seiten voher rezensiert. Klaus Merz analysiert Arnold Böcklins Bild "Bergschloss mit Kriegerzug". Vom Philosophen Hans Blumenberg ist eine kurze Betrachtung zu Ernst Jünger zu lesen. Passend dazu wird eine Schau mit Stücken aus dem Nachlass des Philosophen im Marbacher Literaturmuseum und der postum veröffentlichte Band "Beschreibung des Menschen" vorgestellt.

Besprochen werden die Ausstellung "Merowingerzeit - Europa ohne Grenzen" im Moskauer Puschkin-Museum, und weitere Bücher, darunter Joseph Czapskis Vorträge über Proust im Lager Grjasowez, Irene Nemirovskys Roman "Jesabel" sowie Antje Ravic Strubels Roman "Kältere Schichten der Luft" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 17.03.2007

Antje Korsmeier hat die Bücher der vier Suhrkamp-Jungautoren Paul Brodowsky, Kevin Vennemann, Thomas Melle und Ariane Breidenstein gelesen und klare Gemeinsamkeiten entdeckt, zum Beispiel einen Trend zur Ernsthaftigkeit: "Als Besinnung auf die Kunst des Schreibens statt des Konkurrierens mit Texten des Feuilletons oder gar der blitzschnellen Weblogs. Wo kollektives Innehalten, Rechenschaftslegung und die Reduktion auf das Essenzielle den gesellschaftlichen Ton angeben - vom Plädoyer für Energiesparlampen über das Lob der Disziplin bis hin zur Feier des sparsamen Autofahrers -, passt es da nicht gut ins Bild, wenn auch die Belletristik sich auf ihr vermeintlich Eigentliches konzentriert?"

Weitere Artikel: Christian Werthschulte hat sich das Marathon-Lesen bei der lit.Cologne angehört, unter anderem mit Jonathan Franzen, Silke Scheuermann, Clemens Meyer und Andres Veiel.

In der zweiten taz informiert Barbara Oertel über ihre Reise nach Kasachstan, zu der die 20th Century Fox zum deutschen DVD-Start des "Borat"-Films 23 Journalisten geladen hatte. Nicola Mohler berichtet, dass es in der Schweiz angesichts der vielen Deutschen eine Kampagne gegen die "Überfremdung" des Landes gibt. Jan Feddersen freut sich, dass der unter Politverdacht stehende israelische Beitrag zum Grand Prix nun doch nicht disqualifiziert wird.

Im Dossier des taz mag stellt Thomas Feix eine Frau vor, für die der Zusammenbruch der DDR bis heute ein Unglück ist. Jan Feddersen schreibt über eine Ausstellung zur "Homosexuellen-Verfolgung in Hamburg" unter den Nazis und danach. Vorabgedruckt aus einem Band, in dem Schriftsteller sich an ihre literarischen Debüts erinnern, wird der Beitrag der Autorin Emine Sevgi Özdamar.

Die Literaturbesprechungen widmen sich im unter anderem Boris Barths "vollkommen misslungener" Einführung in die internationale Genozid-Forschung, einer Reportage "Zur Lage der chinesischen Bauern", Louis Begleys Roman "Ehrensachen", Peter Hoegs neuem Roman "Das stille Mädchen" und Massimo Carlottos Kriminalroman "Arrivederci amore, ciao" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 17.03.2007

Peter Michalzik erklärt, "warum es dem Theater besser geht, als alle glauben" - weil nämlich eine neue Generation von Schauspielern - von Sophie Rois bis Joachim Meyerhoff, von Constanze Becker bis Philipp Hochmair - die eigene Rolle anders begreift: "Die neuen Schauspieler haben in der Tat das Potential, das Theater neu zu erfinden. Es geschieht bereits Abend für Abend, es wird auch durchaus vom Publikum gewürdigt, aber es wird als Phänomen nicht wahrgenommen. Diese Schauspieler verbinden die urwüchsige Anarchie, die immer eine der wichtigsten Wurzeln des Schauspiels war, mit ausgeprägtem Formbewusstsein. Sie besitzen die Fähigkeit, immer wieder weit aus sich heraus zu gehen ohne sich dabei zu verlieren. Sie gehen in ihrem Spiel immer wieder jenes Risiko ein, das eine der vornehmsten Facetten der Kunst ist. Damit zeigen sie jeden Abend, dass der Widerspruch zwischen Texttreue und Bühnenfreiheit nur ein scheinbarer ist."

Weitere Artikel: Der Psychologe Martin Altmeyer liest den (Ex-) RAF-Terroristen und all jenen Linken, die in irgendeiner Weise noch mit ihnen sympathisieren, die Leviten. Christian Thomas kommentiert den neuen Frankfurter Hochhausplan. In Carin Ceballos Betancurs "Bonanza"-Kolumne geht es um Katzen, Hunde, Goldfische.

Besprochen werden Gregor Schneiders Guantanamo-kritisches Werk "Weiße Folter", das jetzt in Düsseldorf zu bewundern ist, Falk Richters Wiener "Julius Caesar"-Inszenierung, eine Rüsselsheimer Ausstellung zur Musik in der Bildenden Kunst, ein Konzert des Orquestra Nacional d'Espana und eine "Lenz"-Inszenierung in Darmstadt. Eine Rezension gibt es zur ersten vollständigen Ausgabe von Werner Bräunigs Roman "Rummelplatz" (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 17.03.2007

Für Hanns-Georg Rodek gehen die diesjährigen Lola-Nominierungen weitestgehend in Ordnung, die befürchtete Kommerzialisierung kann er dem in die Hände der Filmakademie übergebenen Filmpreis nicht nachsagen. Sven Felix Kellerhoff sieht durch die Nachforschungen des pensionierten Diplomaten Heinz Schneppen sämtliche Gerüchte um die vermeintliche SS-Fluchthelferorganisation Odessa widerlegt. Was bleibt, sei, dass eine Handvoll Nazis in Argentinien untergetaucht seien und dabei Unterstützung von kommerziellen Schlepperbanden gehabt hätten. Manuel Brug spürt den neuesten Musical-Trends in Deutschland nach. Stefan Klein nutzt die Bochumer Aufführung von Botho Strauß' "Die Zeit und das Zimmer", um einmal deutlich zu sagen, dass Regisseur Dieter Giesing "konstant gutes Theater" macht. Berthold Seewald stellt fest, dass die Moskauer Merowinger-Ausstellung politisch sensationell sein mag, vom Publikum aber eher langweilig gefunden wird.

Besprochen werden die Op-Art-Ausstellung in der Frankfurter Schirn und die Deutschland-Tournee des irischen Songwriters Damien Rice.

In der Literarischen Welt gibt es ausschließlich Rezensionen. Im Aufmacher empfiehlt Thomas Schmid Karl Otto Hondrichs Studie zur angeblich drohenden demografischen Katastrophe "Weniger sind mehr", die dem Alarmismus "sauertöpfisch-besorgter Bevölkerungswissenschaftler" und "publizistischer Schaumschläger" den Boden entziehe. Besprochen werden auch Antje Ravic Strubels neuer Roman "Kältere Schichten der Luft" (hier eine Leseprobe), Georg Kleins Roman "Sünde Güte Blitz" und der Band "Schöner Denken", in dem Josef Joffe, Henryk M. Broder, Dirk Maxeiner und Michael Mersch erklären, wie man politisch unkorrekt ist.

SZ, 17.03.2007

Lothar Müller kommentiert die derzeitige Zukunfts-Unsicherheit in der Berliner Literaturfestivalszene. Johannes Willms informiert über ein Manifest "francophoner" - also nicht in Frankreich gebürtiger, aber französisch schreibender - Schriftsteller, die nicht mehr als "exotische Varianten" behandelt werden wollen. Carolin Pirch berichtet von der 11. Bonner Videonale. Vorabgedruckt wird ein Auszug aus Jörg Heisers Buch "Plötzlich diese Übersicht", in dem die Frage beantwortet wird, was gute zeitgenössische Kunst ausmacht.

Auf der Literaturseite gibt es ein Interview mit dem ungarischen "Schriftsteller, Übersetzer, Zeichner und Performance-Künstler" Dezsö Tandori - diesjähriger Träger der Goethe-Plakette, der folgende Selbstauskunft gibt: "Ich bin ein evidenzialistischer Existentialist, eine Figur, die man auch als absolut unzeitgemäß bezeichnen kann, da ich trotz meiner Versatilität (hinter ihr, in ihr) statisch, trotz meiner Schwankungen stabil bin." Andreas Strobl referiert einen Artikel der Zeitschrift kritische berichte über die Künstlerin und Sammlerin Annette Messager. Besprochen wird Norbert Hoersters eine Grundsatzfrage stellendes Buch "Was ist Recht?" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Besprochen werden auch ein Münchner Konzert mit dem Violinsolisten Frank Peter Zimmermann, Falk Richters Inszenierung von "Julius Caesar" am Wiener Burgtheater, eine Stockholmer Ausstellung mit eher bizarren Stücken aus Privatsammlungen, Gregor Schneiders in Düsseldorf ausgestelltes Guantanamo-Werk "Weiße Folter", ein Münchner Konzert von Bonnie "Prince" Billy und Marcus Nispels Film "Pathfinder".

Im Aufmacher der SZ am Wochenende schreibt die Autorin Else Buschheuer über ihren Umzug von New York nach Leipzig, über die USA und Sachsen: "Leipzig ängstigt mich. Nachts ist es dunkel und gruselig. In New York hab ich mich nie gefürchtet, nicht mal in der South Bronx." Der Schriftsteller Nicol Ljubic berichtet von der bitteren Erfahrung, seinen ersten Roman schlecht verkauft und dann zu Dämmmaterial verarbeitet zu sehen. Der Autor Joseph von Westphalen erklärt, warum die meisten Schriftsteller sich nicht anziehen wie Tom Wolfe. Auf der Historienseite geht es um eine Geschichte der Schreibblockaden. Vorabgedruckt wird Arno Geigers Erzählung "Streck mir die Zunge raus!" Im Interview spricht Art Garfunkel über Akustik und Perfektion: "Sind wir nicht genau deswegen älter geworden, um die Welt endlich mal perfekt zu machen, genau hier und jetzt und überhaupt?"