Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.05.2007. Die NZZ empfiehlt den Comicautor Patrice Killoffer, der auch sehr hübsche Schweizer Briefmarken gezeichnet hat. Die taz schildert die uneimlichen Symptome des Colony Collapse Disorder unter den Bienen. Der Tagesspiegel staunt über Sasha Waltz' Medeamaterial in Luxemburg: "Die Seele rast, aber man tanzt Slowmotion." Die FR sucht den deutschen Super-Künstler. Die FAZ beschreibt die chinesische Konzeption der Menschenrechte: Man hat sie nicht, sondern zahlt sie zurück.

TAZ, 25.05.2007

In der zweiten taz untersucht Arno Frank das Verschwinden der Bienen. In den USA sind bis zu 70 Prozent aller Bienenkolonien kollabiert, in der Schweiz fehlen rund 3.000 Völker, etwa 500 Millionen Bienen. Die Symptome des - etwas seltsam - Colony Collapse Disorder genannten Phänomen sind aber überall gleich: "In einem frühen Stadium von CCD fehlt es zunächst an Arbeiterinnen, um die Brut zu pflegen; es fällt auf, dass der Anteil älterer Bienen an der Population schwindet; die Tiere verschmähen Zuckersirup und andere Leckereien, mit denen Imker ihre Völker gerne hochpäppeln; die Königin ist anwesend, sieht gesund aus und legt weiter Eier, als wäre nichts geschehen. Das Endstadium dann erinnert an Szenarien, wie sie sich in einer von der Pest befallenen mittelalterlichen Stadt zugetragen haben mögen: Die Kolonie ist wie leer gefegt, der Nachwuchs trotz ausreichender Vorräte (Honig oder Pollen) am Verhungern; die letzten Überlebenden scharen sich um die Königin, und selbst die üblichen Nesträuber und Plünderer (Käfer oder Milben) meiden den Ort des Geschehens auffällig lange, bevor sie eindringen. Tote findet man in einem solchen Staat kaum. Sie alle haben offenbar, wie es sich für kranke Bienen gehört, zum Sterben die Kolonie verlassen."

Im Kulturteil stellt Tim Ackermann das Projekt der südafrikanischen Künstlerin Candice Breitz vor, die 16 Michael-Jackson-Fans dazu gebracht hat, vor der Kamera ihre Lieblingslieder aufzuführen. In Cannes hat Cristina Nord Alexander Sokurows Tschetschenien-Film "Alexandra" gesehen. Für die Achse des Pop bespricht Thomas Winkler neue Alben von Wir sind Helden, Revolverheld und Karpatenhund.

Schließlich Tom.

Tagesspiegel, 25.05.2007

Christiane Peitz hat sich Sasha Waltz' Inszenierung von Pascal Dusapins auf Heiner Müllers "Medeamaterial" basierende "Medea"-Oper in Luxemburg angesehen. In einigen Momenten hat ihr die Medea die Fassung geraubt, doch letzten Endes, vermutet Peitz, ist Waltz vor der rasenden Kindsmörderin zurückgeschreckt: "Auftritt Medea, die Koloratursopranistin Caroline Stein im Callas-Gewand. Die Callas! Pasolini! Rache auf griechisch! Zwar schleudert Caroline Stein den aparten, von Dissonanzen und Mikrointervallen umspülten kleinen Terzen Dusapins, diesem von den vorzüglichen Musikern und Sängern stockend gewebten Klangteppich aus Repetitionen, Schweigen und trancehaften Ostinati wütende Blitze entgegen. Sie entwurzelt Müllers Worte, treibt den Hass auf den untreuen Ehemann - 'Alles an mir dein Werkzeug' - in höchste Höhen, auch die giftige Hysterie gegenüber der Nebenbuhlerin und die Verzweiflung angesichts von Jasons Brut, den eigenen 'Kindern des Verrats', dem 'Herzfleisch'. Dennoch findet Sasha Waltz kein Bild für den Schrei, für die Extrem-Emotionen zwischen Ekstase und Schock. Die Seele rast, aber man tanzt Slowmotion."

Welt, 25.05.2007

"Die neuen Russen ziehen den Reichtum der Freiheit vor", konstatiert Tatjana Tolstaja, Schriftstellerin und Großnichte von Leo Tolstoi, in einem Interview mit Michael Skafidas. "In Russland gehen wir nach Revolutionen oder Veränderungen wie der Perestroika immer zurück auf Start. Es kommt einem Muster gleich: Alles bricht zusammen, und dann müssen wir es wieder aufbauen... Sobald die Russen begreifen, dass ihr Land nicht regiert wird, wie sie es regiert wissen wollen, möchten sie die Obrigkeit stürzen; in ihren Augen ist sie der alleinige Grund für all das Scheitern und alles Schlechte, das den Menschen widerfährt. Es gibt keine Kultur der persönlichen Verantwortung."

Im Feuilleton feiert Hanns-Georg Rodek den diesjährigen Cannes-Jahrgang als einen "Traum von einem Festival". In der Randspalte versucht sich Wieland Freund einen Reim darauf zu machen, dass Starbucks jetzt auch Bücher verkauft. Peter Zander berichtet vom Familienkrach in der alten Fassbinder-Truppe, den Ingrid Caven mit ihrem gestrigen Interview in der Zeit (mehr hier) vom Zaun gebrochen hat. Friedrich Rössler stellt den "midasgleiche" Musikproduzenten Timothy Mosley aka Timbaland vor, der nach Missy Elliott, Jay-Z und Snoop Dogg jetzt auch für Justin Timberlake arbeitet. Dankwart Guratzsch schildert, wie sich Trier, Worms und Mainz im Rennen um den Titel, Deutschland älteste Stadt zu sein, aufstellen. Ulrich Weinzierl besucht das neue Hermann-Nitsch-Museum im niederösterreichischen Mistelbach.

Besprochen werden die Schau "Made in Germany" mit Gegenwartskunst aus Deutschland in Hannover, Sasha Waltz' choreographische Operninszenierung "Medea" und Harald Wohlfahrts Kochbuch "Kunst und Magie in der Küche".

NZZ, 25.05.2007

Hingerissen beschreibt Christian Gasser "676 Erscheinungen von Killoffer" (Leseprobe), die Comic-Autobiografie des französischen Zeichners Patrice Killoffer. "Eines Morgens stehen drei Killoffer-Doubles in Killoffers Schlafzimmer, und zwar in Begleitung jener drei Schönheiten, die den originalen Killoffer kurz zuvor noch verschmäht haben. Dieser prügelt sich mit seinen Klonen, doch gelingt es ihm weder mit Gewalt noch mit Überredungskünsten, sie zu vertreiben. Von da weg wird die Erzählung von Killoffers Aufenthalt in Montreal, nunmehr ohne ein einziges Wort geschildert, zum grotesken Reigen: Überall, auf der Straße, in Bars, in seiner Wohnung, stößt Killoffer auf weitere Doppelgänger; sie rauchen und saufen, sie prügeln sich, pöbeln herum, begrabschen Frauen, sie sind faul, überheblich, aggressiv, depressiv und geil, der Menschenfeind trifft auf den Macho, der Schürzenjäger auf den Verlierer, der Sadist auf den masochistischen Künstler. In ihrer Mitte steht der echte Killoffer und erstickt beinahe an Selbstekel." (Killoffer hat übrigens auch einige entzückende Schweizer Briefmarken kreiert, hier noch ein Interview mit dem Mann.)

Weitere Artikel: Samuel Herzog berichtet vom Reykjavik Arts Festival. Julia Franck schickt einen Brief aus der Provinz. Klaus Englert besucht Peter Zumthors Bruder-Klaus-Kapelle (Bilder). Sieglinde Geisel stellt ein Heft der Neuen Rundschau vor, das sich historischen Stoffen widmet. Hubertus Adam schreibt zum 100. Geburtstag des Architekten Hans Brechbühler.

Besprochen werden die Ausstellung "Parteidiktatur und Alltag in der DDR" im Deutschen Historischen Museum in Berlin, eine HipHop-CD von Sa-Ra Creative Partners und Bücher, darunter eine Steve-Jobs-Biografie (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Medien- und Informatikseite schildert Marc Zitzmann Nicolas Sarkozys - vorsichtig ausgedrückt - problematisches Verhältnis zu den Medien. Die Journalisten klagen, aber viele lassen sich auch einwickeln: "Umgarnen ließen sich etwa die Journalistinnen Myriam Levy vom Figaro und Catherine Pegard von der Wochenzeitung Le Point sowie der Publizist Georges-Marc Benamou. Letzte Woche stießen sie zum Beraterteam des Präsidenten beziehungsweise seines Premierministers Fillon. Ihre Ernennung ist völlig legitim, illustriert aber erneut Sarkozys Nähe zur Medienwelt."

Weitere Artikel: Dies könnte das Jahr sein, in dem Internet-TV seinen Durchbruch erlebt, meint S.B. Er stellt einige der interessantesten Projekte vor: Joost, Kyte und Zattoo. Rdg meldet das Ende der Zeitschrift American Heritage.

FAZ, 25.05.2007

Aus Anlass von Horst Köhlers China-Besuch konstatiert Mark Siemons, dass die Chinesen von der westlichen Auffassung der Menschenrechte doch irgendwie dauerhaft irritiert sind, und er zitiert einen Aufsatz des offiziellen chinesischen Philosophen Zhao Tingyang, der den westlichen Universalismus einen "verborgenen Fundamentalismus" nennt und ihm folgende Einsicht entgegensetzt: "Alle menschlichen Rechte, einschließlich derjenigen auf Leben und Freiheit, sind etwas, was zurückgezahlt werden muss." Und die Partei hält die Hand auf!

Weitere Artikel: Christian Geyer meditiert noch einmal über Ralph Giordanos umstrittene Pinguin-Äußerung. Verena Lueken spekuliert in ihrer Cannes-Kolumne über die Goldene Palme - aber es gibt in diesem reichen Jubiläumsjahr allzu viele Prätendenten. Jochen Hieber knüpft fußballtheoretische Erwägungen an das Finale der Champions League. Die Wissenschaftshistorikerin Anne Christine Nagel weist nach, dass der einstige Guru DKP-naher Studenten in Marburg, Wolfgang Abendroth, 1985 ein innigeres Verhältnis zur DDR pflegte als bisher bekannt. Thomas Wagner gratuliert dem Künstler Gerhard Merz zum Fünfzigsten. Eleonore Büning gratuliert dem Autor Friedrich Dieckmann zum Siebzigsten. Gina Thomas meldet den Fund bisher unbekannter Hitler-Fotos, die ihn in bester Laune 1939 in Bayreuth zeigen.

Auf der Medienseite schildert Josef Oehrlein, wie Hugo Chavez die letzten missliebigen Medien in Venezuela gleichschaltet. Michael Hanfeld trägt eine durch einen Piepton überdeckte Passage im Gespräch zwischen Reinhold Beckmann und dem dopinggestehenden Radler Bert Dietz nach. Hannes Hintermeier hat sich die Pressekonferenz von Erik Zabel und Rolf Aldag zu Gemüte geführt.

Für die letzte Seite unterhält sich Patrick Bahners mit den Musikern von Erdmöbel. Tobias Rüther hat einer Lesung der saudiarabischen Autorin Rajaa Alsanea in Berlin zugehört, die in ihrem Roman "Girls von Riad" von den Nöten saudiarabischer Mädchen erzählt, ihr Kopftuch aber mit Stolz trage. Und Andreas Rossmann berichtet, dass die CDU-CSU-Fraktion im Bundestag einen Neuanfang bei der ins Gerede geratenen Bundeskunsthalle fordert.

Besprochen werden ein Konzert des San Francisco Symphony Orchestra unter Michael Tilson Thomas und Bücher, darunter eine Ausgabe des heute fast vergessenen Rainer Maria Gerhardt.

FR, 25.05.2007

Elke Buhr besucht die Ausstellung "Made in Germany" in Hannover, in der die Thirtysomethings der in Deutschland lebenden Künstler gezeigt weden, ein kleiner kunstpolitischer Nadelstich: "Wenn 'Made in Germany' nun, pünktlich zum Auftakt des Mega-Kunstsommers mit der documenta in Kassel, der Biennale in Venedig und den Skulptur Projekten in Münster, aus dieser breiten Basis einen Querschnitt präsentiert, dann ist das natürlich ein frecher Versuch der Kanonbildung: Deutschland sucht seine Super-Künstler. Zumindest innerhalb der Szene geht das Spiel auf: Schon jetzt gilt Dabeisein für manche als ein Karrieresprung, für andere als Trostpflaster dafür, es zu den wirklichen Großevents nicht geschafft zu haben."

Schon wegen der eingespielten Musik ist Peter Michalzik noch ganz erschüttert von der "Erzählung des Gleichgewichts 4.W", einem Text des französischen Autors Jean Daive, den Wanda Golonka in Frankfurt inszenierte: "Die 6. Klaviersonate der vor kurzem verstorbenen russischen Komponistin Galina Ustwolskaja ist wie ein unangespitzter Pfahl, der unter regelmäßigen Hammerschlägen in einen ausgetrockneten Boden gerammt wird. Heftigere, härtere Klänge als das, was die Pianistin Laura Konjetzky da im Kleinen Haus des Frankfurter Schauspiels spielt, sind von einem Klavier vermutlich nicht zu haben."

Weitere Artikel: Stefan Schickhaus unterhält sich mit dem Geiger Marat Dickermann vom Sinfonieorchester des HR über den Verein "Musica Judaica". Hans-Jürgen Linke extemporiert in der Kolumne "Times mager" über die Dopingaffären. Es wird gemeldet, dass der siebte und letzte Harry-Potter-Band am 27. Oktober auf deutsch erscheint. Besprochen werden die Ausstellung "Made in Germany" über aktuelle deutsche Kunst in Hannover und Kulturereignisse des Raums Frankfurt.

SZ, 25.05.2007

Was bleibt von Tony Blairs Kulturpolitik, wenn man vom Geld mal absieht, fragt Alexander Menden. "Was ist sein wahres Vermächtnis an die Künstler Großbritanniens? Der Dramatiker Kwame Kwei-Armah sagt: 'Widersinnigerweise war der Irakkrieg hervorragend für die Künste. Wie die Kopfsteuer unter Thatcher hat er uns etwas gegeben, womit wir arbeiten können. Er hat eine ganze Generation politisiert, weil er die große Katastrophe unseres Zeitalters ist.'"

Christoph Schlingensief hat dem Münchner Haus der Kunst eine Installation geschenkt: "18 Bilder pro Sekunde". In Interview erzählt er, was es damit auf sich hat. "Für mich ist Lüderitz der Ort, an dem ich die Nachricht bekam, dass mein Vater zusammengebrochen ist. Mitten in der Wüste. Der Arzt sagte: Sie können hier sowieso nichts machen, also bin ich geblieben, aber nie in Afrika angekommen. Es ging mir wie Mastroianni in 'Achteinhalb'. Es gab Ton, zig Kameras, aber ich wollte diesen Film gar nicht. Es darf keinen Anfang und kein Ende geben, keinen Ton, nur das Knattern des Projektors. So sind diese 18 Stunden, die jetzt in München gezeigt werden, bis auf drei, vier Eingriffe ungeschnitten. Eigentlich ist es ein Beatnik-Film, auch wenn ich keine Drogen genommen habe. Die Cutterin, inzwischen die vierte, will ihn zu Ende bringen. Aber ich verweigere die Fertigstellung."

Weitere Artikel: Zwei amerikanische Wissenschaftler haben eine Formel für die Erfolgsaussichten eines Attentats errechnet (pdf), meldet Petra Steinberger. Sie lautet: y1=E (y | Erfolg = 1,X) - E (y | Erfolg = 0,X), in der Praxis heißt das: "Nun ja. Vielleicht. Manchmal." Susan Vahabzadeh sah in Cannes Filme von Alexander Sokurov, Marjane Satrapi und Steven Soderbergh. Christiane Dössel referiert die Zicken im Streit um Peter Zadeks geplatzte Inszenierung von "Was ihr wollt". Jonathan Fischer porträtiert den senegalesischen Rapper Akon. Augsburg feiert den fast vergessenen Komponisten Joseph de Bologne de Saint-Georges, berichtet Helmut Mauro.

Besprochen werden ein Konzert mit Vokalem von Lasso und Lechner, aufgeführt in München von Philippe Herreweghe und seinem Collegium Vocale Gent, ein "fulminantes" Jazzalbum von Michael Brecker, die Rostocker Ausstellung "Art goes Heiligendamm" (mehr hier), eine Aufführung von Wanda Golonkas "Erzählung des Gleichgewichts 4. W" in Frankfurt, Julien Temples Dokumentarfilm über Joe Strummer, eine Ausstellung in Frankfurt zur Architektur von Gefängnissen und Bücher, darunter Thomas Melles Erzählungsband "Raumforderung" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).