Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.05.2007. In der Welt deckt Benny Morris die wahren Gründe für die enge Bindung der USA zu Israel auf. Die NZZ schildert den irren Kampf ums Überleben in der lateinamerikanischen Literatur. In der SZ schreibt Chris Abana über Los Angeles, eine Stadt, die nur in den Köpfen ihrer Bewohner existiert. Die FR besingt die Helden Hollywoods, die im wirklichen Leben sterben. Die taz plädiert für funke wisdom. Im Tagesspiegel beichtet Thomas Brussig.

NZZ, 26.05.2007

Sehr lesenswerte Samstagsbeilage! Kersten Knipp versucht die südamerikanische Gegenwartsliteratur thematisch zu bündeln und stößt dabei immer wieder auf den "irren Kampf ums Überleben" und das Wissen darum, dass dieser Kampf vergeblich ist. "'Industriespionage und Giftmüll, Religionen und Kulte, von der Kirche des gekreuzigten Außerirdischen bis hin zum komischen Vampir. Dazu Organhandel, Waffenschmuggel und Mietkiller, und natürlich die ehrwürdigsten von allen: Fluchthilfe, Drogenhandel und Prostitution im ganz großen Stil.' So stellt sich das nördliche Mexiko aus der Sicht von Gabriel Trujillo Munoz dar, einem Erzähler mit ganz besonders finsterem Humor. Lateinamerika, Heimstatt einer irren, bedrückenden Wirklichkeit. Lässt sich ihr entfliehen? Ja. Doch leider nur in die Vergangenheit."

Ein Ort, dem man auf jeden Fall entfliehen möchte, ist Managua, wie Julia Schwägerl es beschreibt. "Diese Hauptstadt ist keine Bühne, sie ist der riesige Fundus eines Theaters, wo Neues und Altes wild übereinandergeworfen verrottet, eine Ansammlung funktions- und sinnlos wirkender Versatzstücke der Kulisse 'Metropole'. Da ist ein verwahrloster Park, wo jede Bank für Pepsi wirbt. Da ist das ehemalige Zentrum im Norden der Stadt, wo einmal Tausende von Menschen das Ende der Diktatur feierten, und der Platz, auf dem der Papst sprach - heute eine verlassene und nicht ungefährliche Gegend. Da ist der Managua-See: eine Kloake, stinkend und von Elendsvierteln gesäumt. Im Chorraum der alten Kathedrale wächst Gestrüpp, und eines der steinernen Kreuze auf den Türmen baumelt hilflos nach unten. Die neue Kathedrale liegt wie achtlos fallen gelassen auf einem riesigen Feld, eine riesige Eierschachtel aus Beton, rundherum mehr Kühe als Menschen."

Weitere Artikel: Birgit Sonna untersucht die fast schon zur "Gewohnheitsbeziehung" gewordene Verbindung von Musik und zeitgenössischer Kunst. Auch Claudia Bertling Biaggini spürt dieser Verbindung nach - im "erotischsten Musikerbild der Renaissance", Giorgiones "Konzert". Brigitte Kronauer beschreibt in ihren "Bildansichten" Ivan Albrights "Into the World There Came a Soul Called Ida": "Ein Gesicht, zerdellt und zerknüllt, variationsreich gequetschtes Fleisch im zermürbenden Griff der Zeit. Arme Ida! Phosphoresziert sie nicht, bloßgestellt vom senkrecht auf sie herabstürzenden, ungnädig blauen Licht, zusammen mit ihrem modernen Vanitas-Ambiente - eine sich zu Asche verwandelnde Zigarette, Blumen, Geldscheine, der gleich von der Tischkante rutschende Kamm - wie ein Organismus beim Fäulnisprozess?"

Besprochen werden Bücher, darunter Bernardo Carvalhos Roman "Mongolia" und die Tagebücher der spanischen Dichterin Alejandra Pizarnik (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im Feuilleton anwortet heute Uwe Justus Wenzel auf die Frage: Was ist eine gute Religion? Rolf Niederer schreibt zum 100. Geburtstag von John Wayne. Thomas Grob schreibt zum Siebzigsten von Andrei Bitow. Besprochen werden David Böschs "fulminante" Inszenierung von Schillers "Kabale und Liebe" am Schauspielhaus Zürich und Verdis Oper "Macbeth" beim Glyndebourne Festival.

Welt, 26.05.2007

In der Literarischen Welt kommt der israelische Historiker Benny Morris noch einmal auf die Israel-Lobby zurück, die angeblich die USA zu einer irrationalen Israel-freundlichen Politik treibt. Die entsprechende Thesen von John Mearsheimer und Stephen Walt hält er entweder für komplett falsch oder bestensfalls halbwahr: "Vielen Europäern fällt es schwer zu begreifen, dass die amerikanische Außenpolitik sich zu Teilen auf moralische, idealistische Erwägungen stützt und dass wirtschaftliche und realpolitische Überlegungen nicht alles bedeuten. Der ehrliche Wunsch nach Demokratie und liberalen Werten hat in Amerika Tradition; die Amerikaner haben immer geglaubt, dass die Welt so zu einem besseren Ort werde. Auch ihr Antikommunismus im Kalten Krieg rührte zu Teilen aus diesen Beweggründen (welchem unmittelbaren nationalen Interesse Amerikas war mit dem Krieg in Vietnam schon gedient?). Das gleiche gilt für die amerikanisch-israelischen Beziehungen, die sich zu einem großen Teil auf ein Bewusstsein gemeinsamer Werte stützen. In den Augen Amerikas sind Israel und der Zionismus der Underdog, der die Hilfe des Westens verdient."

Weiteres: Abgedruckt ist ein Auszug aus Heinz Schlaffers (mehr) Nietzsche-Buch "Das entfesselte Wort. In seiner Klartext-Kolumne genießt Tilman Krause unverfälschten Schiller.

Im Feuilleton feiert die Redaktion den Haudegen John Wayne, der vor hundert Jahren geboren wurde. Uta Baier berichtet, dass ein neues Gutachten zu dem Schluss kommt, dass die Rückgabe von Kirchners "Straßenszene" rechtmäßig war. Besprochen werden eine große Ausstellung zum Frührenaissance-Maler Piero della Francesca in Arezzo und die neue ARD-Realityshow "Steinzeit".

Auf dem Forum hält die frühere Leistungssportlerin und heutige Autorin Ines Geipel, die Doping-Bekenntnisse der Radsportler für Schnee von gestern. Die Epo-Ära sei eh längst zu Ende. "Die Pharmafront steht längst woanders." Jetzt gibt es nämlich transgenes Doping, etwa mit PPAR: "Marathonmäuse, die eine zusätzliche Kopie dieses Gens enthalten, laufen einfach mal doppelt so weit."

SZ, 26.05.2007

Im letzten Teil der "Megacitys"-Serie schreibt der Schriftsteller Chris Abani über Los Angeles - eine Stadt, die sich ihre Bewohner in Gedanken selbst zurechtlegen: "Sie haben mal eine Untersuchung gemacht: Leute, die hier lebten, wurden gebeten, die Stadt zu zeichnen, in der sie zu Hause sind. Die korrektesten Zeichnungen stammten von jenen, die am kürzesten da waren, ungefähr fünf Jahre. Nach zehn Jahren zeichneten die Leute ihre täglichen Wege und Abkürzungen, die nichts mehr mit einem maßstabsgetreuen Stadtplan zu tun hatten. Nach zwanzig Jahren hatte ihr Stadtbild nichts mehr zu tun mit irgendetwas außerhalb ihrer eigenen Vorstellung."

Weitere Artikel: Jörg Häntzschel war dabei, als Al Gore in New York sein neues, wütend mit der Regierung George Bush abrechnendes Buch vorstellte - und die Frage, ob er vielleicht doch noch einmal für die Präsidentschaft kandidieren will, offen ließ. In seinem Bericht aus Cannes schreibt Tobias Kniebe vor allem über Filme mit Asia Argento. Fritz Göttler erinnert an John Wayne, Petra Steinberger an die amerikanische Umweltaktivistin Rachel Carson, die beide dieser Tage ihren hundertsten Geburtstag gefeiert hätten. Über große Akzeptanzschwierigkeiten für Joachim Lux, den designierten neuen Leiter des Hamburger Thalia-Theaters, berichtet Christopher Schmidt. Wolfgang Schreiber bat Claus Guth zum Interview, der mit seiner Inszenierung von Verdis "Luise Miller" sein München-Debüt gibt. Stefan Koldehoff informiert über ein Gutachten, das zu dem Schluss kommt, dass Ernst Ludwig Kirchners "Berliner Straßenszene" zu Recht restitutiert wurde.

Auf der Literaturseite wird - stark gekürzt - die Laudatio abgedruckt, die der Schriftsteller Ingo Schulze anlässlich der Verleihung des Erwin-Strittmatter-Preises auf seinen Kollegen Wolfgang Hilbig hielt. Jens Bisky stellt die zweite Nummer der in diesem Jahr neu gegründeten "Zeitschrift für Ideengeschichte" vor.

Besprochen werden Thomas Langhoffs Münchner Inszenierung von Ibsens "Klein Eyolf" und das kuriose Cover-Album "No. 1 Hits" der Band Erdmöbel.

Im Aufmacher der SZ am Wochenende schickt Heribert Prantl, dem nichts unmöglich ist, eine Reportage vom Hambacher Fest, das am 27. Mai 1832 stattfand. Holger Liebs porträtiert den Künstler Maurizio Cattelan. Maren Preiß hat Tillmann Hahn besucht, der in Heiligendamm die G-8-Gäste bekocht. Marion von Boxberg schreibt über ihren letzten Besuch bei der Anfang Mai verstorbenen Grande Dame der britischen Modewelt, Isabella Blow. Auf der Historien-Seite erinnert Birgit Weidinger an den deutschen "Bäder-Antisemitismus". Im Interview spricht der Theaterregisseur Luc Bondy über das "Sehen" und darüber, warum er nicht Schauspieler geworden ist: "Ich war nicht unschuldig genug, und ein Schauspieler muss unschuldig sein."

TAZ, 26.05.2007

Inspiriert vom Rapper Kool Moe Dee plädiert Mark Terkessidis für eine Pädagogik des "funke wisdom", die mit dem bildungsbürgerlichen Kanon nur noch wenig gemein hat: "Körper-, Detail- und Organisationswissen sowie das Wissen über Wissen sind Formen, die in der hiesigen Pädagogik bislang so gut wie keinen Platz haben. Dabei handelt es sich um Kenntnisse, die in der so genannten Wissensgesellschaft längst zwingend notwendig geworden sind. Das betrifft zunächst Konsum. Statt Computerspiele regelmäßig zum Objekt einer moralischen Erregung zu machen, wäre es notwendig, den Kindern eine Art 'popkulturelle Alphabetisierung' zu ermöglichen, die ihnen den selbstbewussten Umgang mit den Spielen ermöglicht. Um dann jene Fertigkeiten weiter zu fördern, die das Spielen mit dem Computer hervorbringt - Lesekompetenz in Sachen Bilder, Vertrautheit mit technischen Details, Geschicklichkeit und Koordination."

Weitere Artikel: Aus Cannes berichtet Cristina Nord über Catherine Breillats neuen Film "Une vieille maitresse" - und andere Werke mit Asia Argento. Dirk Knipphals hat auch nachts zwischen drei und vier im Berliner Spreebogen keine dunkle Nische gefunden. Julian Weber und Thomas Winkler fragen sich und mehrere deutsche Rapper: "Ist intelligenter Rap möglich?" Besprochen wird Rodrigo Morenos Film "El Custodio - Der Leibwächter".

In der zweiten taz informiert Steffen Grimberg über die dubiosen Methoden deutscher Call-In-Sender - und das Desinteresse der Medienaufsicht.

Das taz mag-Dossier widmet sich diesmal in mehreren Erinnerungs- und Besinnungsaufsätzen der pfingstlichen Frage nach der Möglichkeit des Glaubens. Besprochen werden unter anderem der Suhrkamp-Band "Und jetzt?", der über Protestformen der Gegenwart nachdenkt, Arnold Stadlers neuer Roman "Komm, gehen wir" und Hans-Joachim Schädlichs Erzählungen "Vorbei" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 26.05.2007

Aus Los Angeles beziehungsweise Hollywood berichtet Christian Schlüter von der Verleihung der Taurus-Awards, des ersten Preises, mit dem die Filmindustrie ihre Stuntmen (und -women) auszeichnet: "Hollywood feiert seine Helden. Mit der Stuntszene tat man sich allerdings immer etwas schwer, denn hier wird nicht auf der Leinwand gestorben, sondern im wirklichen Leben. Das ist ein eher unerfreuliches, gerne verdrängtes Thema, setzt es doch den branchenüblicherweise unbegrenzten Machbarkeitsfantasien klare Grenzen. Von daher ist es wenig überraschend, dass nicht Hollywood, sondern ein österreichischer Getränkehersteller mit einem Faible für schnelle und gefährliche Sportaktivitäten sein Geld für den Taurus-World-Stunt-Award locker machte - und für eine Stiftung, die sich der verletzen Stuntleute annimmt."

Weitere Artikel: Gerhard Midding erinnert an John Wayne, der heute seinen hundertsten Geburtstag gefeiert hätte. Der Geiger Marat Dickermann spricht im Interview über den Verein "Musica Judaica". In der Bonanza-Kolumne von Karin Ceballos Betancur geht es nochmal um Rocko Schamoni, der auf Vorwürfe aus der letzten Kolumne reagiert hat.

Besprochen werden die Ausstellung "Made in Germany" in Hannover, Armin Holz' Bochumer Inszenierung von Arthur Schnitzlers "Der einsame Weg", Wanda Golonkas Frankfurter Inszenierung von Jean Daives "Erzählung des Gleichgewichts 4.W", das neue Wir sind Helden-Album mit dem Titel "Soundso", Antony Rizzis Choreografie "Some opinions curated by Antony Rizzi", das neue Rufus-Wainwright-Album "Release the Stars" und Lokales.

Tagesspiegel, 26.05.2007

Auch Schriftsteller Thomas Brussig bekennt, gedopt gewesen zu sein und spricht über die finsteren Machenschaften einer ganzen Branche: "Ich will niemanden verdächtigen oder beschuldigen. Aber es gibt Momente, in denen ich glaube, dass die ganze Literaturszene gedopt ist. Da lädt sich ein Daniel Kehlmann Gauß und Humboldt auf, und keiner fragt da mal nach. Auch darüber, dass ein fast achtzigjähriger Grass, ein fast achtzigjähriger Walser noch immer aktiv sind, scheint sich niemand zu wundern. Die schreiben zum Teil noch richtig dicke Wälzer, stehen damit ganz oben auf den Bestsellerlisten, kriegen die großartigsten Verrisse, und niemand findet etwas dabei. Es scheint keiner so genau wissen zu wollen. Da hat sich eine Kultur des Nicht-Hinterfragens etabliert, in der sich alle wohlfühlen. Die Leser wollen tolle Bücher, die Verlage hohe Auflagen, die Agenten horrende Abschlüsse, die Kritiker Erregungsobjekte und die Ehefrauen Business-Class-Flüge. Als Schriftsteller ist man da total in der Zwickmühle. Und da die Kontrollen lasch sind, ist die Versuchung groß."

FAZ, 26.05.2007

Für Bilder und Zeiten durfte Andreas Platthaus mitkosten, als der Dresdner Richter Helmut Kaiser seine im letzten Jahr erworbenen Weinraritäten öffnete. Unter den Flaschen befand sich auch eine Edelbeerenauslese von 1917, ein "Aßmannshäuser Höllenberg Rotweiß". Verena Lueken und Michael Althen werfen einen langen Blick in die Kulissen von Cannes. Jenny Erpenbeck wirft einen kurzen Blick auf Dinge, die verschwinden. Ruzica Djindjic, die Witwe des größten serbischen Reformpolitikers, spricht im Interview über ihren Mann und die neunziger Jahre, in der die serbische Opposition erste Erfolge errang.

Im Feuilleton beklagt Heinrich Wefing den verdrucksten Umgang der Bundesregierung mit dem von Andreas Merck entworfenen Bundeswehr-Ehrenmal. Michael Althen sah in Cannes Julien Schnabels "Le scaphandre et le papillon", "ein Wunder von einem Film". Andreas Kilb referiert den Streit um Fassbinders Erbe, den Ingrid Caven mit ihrem Zeit-Interview in eine neue Runde getragen hatte. Kerstin Holm schreibt zum Siebzigsten des russischen Schriftstellers Andrej Bitow. Abgedruckt ist die Rede, die Richard von Weizsäcker heute morgen zur Eröffnung des Hambacher Festes gehalten hat.

Besprochen werden Herbert Grönemeyers Leipziger Eröffnungskonzert für seine Deutschlandtournee ("Der Protestsong gegen die Regierung Merkel-Müntefering kommt nicht zum Vortrag, obwohl die Stadionkulisse ihn gefordert hätte", notiert Patrick Bahners), die Ausstellung "Made in Germany" in Hannover (das Label "hält, was es verspricht: eine Parade solider Markenartikel", schreibt Thomas Wagner), Rodrigo Morenos Film "El Custodio" und Bücher, darunter Andreas Eschbachs Roman "Ausgebrannt" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Schallplatten- und Phono-Seite geht's um das dritte Album von Wir sind Helden ("wenn nur diese Musik nicht wäre", stöhnt Eric Pfeil), Clytus Gottwalds Transkriptionen für Chor, Tzimon Bartos Einspielung von Maurice Ravels Gaspard de la nuit, Miroirs, Jeux d'eau, CDs von Cloud Cult und Ladytron, und Zwölfton-Musik von Norbert von Hannenheim und Johann Ludwig Trepulka, die der Pianist Herbert Henck eingespielt hat.

In der Frankfurter Anthologie stellt Dieter Wellershoff ein Gedicht von Rolf Dieter Brinkmann vor:

"Samstagmittag Alltäglichkeit

Ein Männerarm (nackt) mit einem
Stückchen Unterhemd
zieht die Gardine wieder zu.
..."