Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.07.2007. Berlins ehemaliger Baudirektor Hans Stimmann war für die Welt in Schanghai und musste feststellen: Aufwändige Planverfahren mit den Möglichkeiten bürgerschaftlicher Mitsprache gehören hier noch nicht zum Alltag. In der FAZ kritisiert der letzte Nazijäger des Wiesenthal-Zentrums, Efraim Zuroff, die Rolle Osteuropas in Holocaust und Aufarbeitung. Die SZ hat die Erben der Wittelsbacher rappen hören: "Eure Armut kotzt uns an." Die NZZ porträtiert die ghanaische Schriftstellerin Amma Darko.

NZZ, 10.07.2007

Axel Timo Purr besucht die ghanaische Schriftstellerin Amma Darko in Accra, wo sie, obwohl als Autorin in Deutschland ganz erfolgreich, ihr Geld als Steuerinspektorin verdienen muss: "Der Ort hat Vorteile, die unschätzbar sind, sagt Darko: Leute kommen und gehen, sie geht zu Leuten. Keiner will schließlich Steuern zahlen, also müssen die Leute sich erklären, ihre Geschäfte, ihren Hintergrund, über ihr Leben sprechen. Die Offenheit dieser Menschen, deren Lebenslinien sie immer wieder in ihr Werk integriert, verdankt sich auch dem neuen politischen System in Ghana, seit 1992 eine demokratische Verfassung festgeschrieben wurde. Die Dekaden zuvor, mit Coup und Countercoup, mit Jerry Rawlings und einer nicht enden wollenden Diktatur, haben damals auch für Darko dunkle Schatten geworfen. 'Ich war jung, ich war frei, und ich war hungrig, ich wollte mich als Schriftstellerin etablieren. Aber es war zum Ersticken, an Schreiben gar nicht zu denken, ich wollte nur raus!'"

Besprochen werden die Ausstellung "För Hitz ond Brand" mit zeitgenössische Kunst im Appenzeller Museum, Ignacio Aldecoas Roman "Gran Sol", Jürgen Beckers neuer Gedichtband "Dorfrand mit Tankstelle", Steven Halls Debüt "Gedankenhaie" und Arnold Stadlers neuer Roman "Komm, gehen wir" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).
Stichwörter: Deutschland, Geld, Ghana, Tankstellen, Accra

FR, 10.07.2007

Christian Thomas lässt sich durch das Mittelrheintal führen, bedroht durch Ferienparks und Zersiedelung. Daniel Kothenschulte nutzt eine Times mager, um von seiner gemeinsamen Durchleuchtung mit Thomas Gottschalk am Flughafen zu berichten.

Besprochen werden Michael Hofstetters Inszenierung von Glucks Oper "Ezio" auf den Ludwigsburger Schlossfestspielen, Puccinis "Tosca" in Nikolaus Lehnhoffs Amsterdamer Inszenierung bei den Sommerfestspielen Baden-Baden sowie der fünfte Harry Potter-Film.

Welt, 10.07.2007

Berlins ehemaliger gestrenger Baudirektor Hans Stimmann ist in Schanghai gewesen. Und obwohl dort nicht unbedingt Traufhöhe und Blockbebauung als Maßgaben dienen, konnte er den gigantischen Projekten zur Expo 2010 auch Positives abgewinnen: "Aufwändige Planverfahren mit den Möglichkeiten bürgerschaftlicher Mitsprache, Protesten und Klagen gegen Investitionsentscheidungen gehören - jedenfalls nicht in den bei uns bekannten Dimensionen - noch nicht zum Alltag von Politik und Planung. Als ich den Planern und Investoren in Schanghai von der eineinhalb Jahrzehnte dauernden Planungsphase für die Erweiterungen des neuen Berliner Großflughafens in Schönefeld erzählte, hielt man die Zeitangaben zunächst für einen Übersetzungsfehler. Bezogen auf die Planverfahren gäbe es für beide Seiten viel zu lernen. "

Manuel Brug schreibt in der Randspalte die alljährlich im Sommerprogramm laufende Soap um die Bayreuth-Nachfolge Wolfgang Wagners fort. Rainer Haubrich berichtet, dass das Berliner Architekturbüro Leon Wohlhage Wernik den Wettbewerb für das neue Regierungsviertel im libyschen Tripolis gewonnen hat. Hendrik Werner besucht das neue Kriminalroman-Museum in Butjadingen-Stollhamm.

Besprochen werden eine Schau von Kanzler-Porträts in der Berliner Villa Grisebach, der "ergreifende" Comic "Komm zurück, Mutter" des Autors Paul Hornschemeier und eine Aufführung von Mozarts Frühwerk "Finta Semplice" in Wien.

TAZ, 10.07.2007

Die Soziologin Christa Wichterich will Muhammad Yunus im Meinungsteil nicht seinen Nobelpreis aberkennen, die er für seine Idee mit den Kleinstkrediten an Arme bekommen hat. Nur beinahe. "Inzwischen belegen unzählige Forschungen eine in etwa dreigeteilte Wirkung: Ein Drittel der Kreditnehmerinnen schafft den Aufstieg, ein Drittel kann die ein oder andere Not lindern, aber krebst in einem ständigen Auf und Ab um die Armutsgrenze herum, ein Drittel gerät in eine neue Verschuldungsspirale und bleibt arm. Je ärmer die Frauen, desto weniger verbessert der Kleinkredit ihre wirtschaftliche Situation. Die Allerärmsten werden nicht erreicht. Es geht nicht darum, positive Wirkungen von Mikrokrediten zum Beispiel auf das Selbstwertgefühl von Frauen, ihr öffentliches Auftreten und ihr Ansehen im Dorf zu bestreiten, sondern den Mythos zu knacken, dass ein Mikroinstrument Individuen in die Lage versetzen kann, die Armut nachhaltig zu beseitigen."

Das Feuilleton: Cristina Nord bekommt auf der Werkleitz-Biennale in Halle das Verhältnis von Kino und Arbeiterkultur vorgeführt. Andreas Becker wäscht den Schlamm vom Rockfestival in Roskilde weg. Helmut Höge skizziert die informelle Wirtschaft in Berlin. Brigitte Werneburg verpasst die Kunst im Hotel "Baur au Lac" am Zürichsee, erholt sich aber trotzdem gut. Im Interview mit David Denk in der zweiten taz behauptet der Moderator Ulrich Meyer, der "Derrick des Privatfernsehens" zu sein.

Besprochen werden Florian Boeschs "knallige" Inszenierung von Mark Ravenhills Stück "pool (no water)" im Münchner Marstalltheater und Jürgen Beckers Gedichtband "Dorfrand mit Tankstelle".

Und Tom.

SZ, 10.07.2007

Die reichen Münchner Kinder schlagen zurück: Die Band "Stehkrägen" rappt vom Reichsein, das Label heißt Aggro Grünwald. Alles nur Parodie? Nicht ganz, hat der hart in der Starnberger Society recherchierende Tobias Kniebe herausgefunden. "Hier agiert nicht nur die jüngste Generation der Wittelsbacher, sondern auch die der Habsburger. Ludwig Heinrich Prinz von Bayern, 25, ist der Sohn von 'Bierbrauer' Prinz Luitpold und Nachfahre der bayerischen Könige. Severin Meister dagegen ist ein Enkel Otto von Habsburgs und damit Sprössling der österreichischen Kaiserfamilie. Zusammen mit Mauritz von Einem (Junge-Union-Aktivist, niedersächsischer Landadel) und ein paar bürgerlichen Kumpanen haben sich hier also zwei legendäre Dynastien zusammengetan, um dem Rest der Welt mal eine deutliche Botschaft zu übermitteln: Eure Armut kotzt uns an."

Weiteres: Im Interview erklärt der Architekt Jacques Herzog von Herzog & de Meuron Prada in Tokio Aoyama, die Sammlung Goetz in München und das Pekinger Olympiastadion zu seinen Lieblingsbauten. Die unnötige Aufregung um Tom Cruise, Stauffenberg und den Bendlerblock hat dazu geführt, dass nun alle die Religionsfreiheit und Scientology verteidigen mussten, klagt Andrian Kreye. Filmschauspieler kommen oft schlecht von ihrem Image weg, lehrt Fritz Göttler. Evelyn Roll braucht eine Zwischenzeit, um sich für den Klimawandel und den damit einhergehenden Sauvignon blanc aus Deutschland einzusetzen. Kathrin Kommerell resümiert eine Berliner Tagung über arabischen Humor. Das analoge Aufnehmen von abgespielter Musik mittels eines Programms ist legal, informiert Mirjam Hauck anlässlich des Streits um "Napster DirectCut". Jürg Drews gratuliert dem Dichter Paul Wühr zum achtzigsten Geburtstag.

Besprochen werden eine Ausstellung zur Heiligen Elisabeth in der thüringischen Wartburg bei Eisenach, eine Schau mit Skulpturen von Asger Jorn in der Münchner Villa Stuck, die letzte Aufführung der Neue-Musik-Reihe musica viva in München, eine CD mit den "witzigsten Originaltönen aus 100 Jahren Geschlechterkampf" sowie ein Bildband über die Kunst unter Karl IV.

FAZ, 10.07.2007

Der letzte Nazijäger des Wiesenthal-Zentrums, Efraim Zuroff, findet im Gespräch mit Johanna Adorjan sehr kritische Worte über die Rolle der osteuropäischen Länder während des Holocausts und bei der Aufarbeitung: "Der Holocaust war nicht: Deutsche gegen die Juden. Er war: Europa gegen die Juden. In jedem europäischen Land haben die Nazis Helfer gefunden. Aber in den westlichen, südlichen und nördlichen Ländern hörte die Kollaboration an den Bahnhöfen auf. Die Juden wurden nicht von holländischen Polizisten ermordet, sie wurden von ihnen nur in den Zug gesetzt. Umgebracht hat man sie im Osten... In Litauen wurden 98 Prozent der Juden in ihren Heimatdörfern ermordet. Es gab nur einen einzigen Transport nach Auschwitz. In Estland, Kroation oder der Ukraine fanden die Deutschen sehr viele Menschen, die bereitwillig gemordet haben. Das will natürlich in diesen Ländern niemand hören."

Weitere Artikel: Kerstin Holm schickt eine Reportage über die putinistischen Jugendorganisationen wie die "Unsrigen" in Moskau und Petersburg ("Für europäisch denkende Russen und Soziologen sind die 'Unsrigen' ein protofaschistischer Verein unter antifaschistischem Etikett"). In der Leitglosse schildert Dirk Schümer die Schwierigkeiten der Scala-Dirigenten mit dem Loggione, dem stets buhenden Volk im Theaterolymp. Thomas Poiss gratuliert dem Lyriker Paul Wühr zum Achtzigsten. Joseph Hanimann schickt einen ersten Bericht vom Theaterfestival in Avignon. Edo Reents gratuliert dem Folksänger Arlo Guthrie zum Sechzigsten.

Auf der DVD-Seite geht's um eine "Hammer-Horror-Box", um "Zatoichi meets Yojimbo" von Okamoto Kihachi, um "Der Kreis" des iranischen Regisseurs Jafar Panahi, um eine Kassette mit den besseren Belmondo-Action-Filmen und um Jean-Pierre Jeunets "Mathilde". Auf der Medienseite schreibt Michael Hanfeld über die Intendantenwahl beim NDR, und Jürg Altwegg meldet, dass der französische Sender TF1 gegen YouTube und Dailymotion klagt. Auf der letzten Seite konstatiert Paul Ingendaay, dass die Protestbewegung gegen den ETA-Terror gefährlich an Schwung verloren hat. Und Patrick Bahners erklärt Amartya Sens Theorie über die "Identitätsfalle" aus frühkindlichen Traumata ("Diese Lektion ersetzt die Empirie, wenn Sen die von der Regierung Blair geförderten Bekenntnisschulen verwirft, obwohl es ein Akt der freien Wahl ist, wenn Eltern ihre Kinder dort anmelden").

Besprochen werden eine nachgelassene CD von Elliott Smith und Julian Josephs Jazzoper "Bridgetower" in London.