Heute in den Feuilletons

Wetlands

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.06.2008. In der Times plädiert Bob Dylan für Barack Obama. Und durch die New York Times dringt Charlotte Roches "cri de coeur" bis in die Vereinigten Staaten. Die FR findet den von der Türkei finanzierten Frankfurter Lehrstuhl für islamische Religion höchst problematisch. Die FAZ outet den SS-Verschweigefall Ost: Erwin Strittmatter. Die SZ hat herausgefunden: Pop zitiert heute unironisch. Die taz forscht in Hongkong nach dem Schicksal des Cantopop.

TAZ, 09.06.2008

Susanne Messmer fährt nach Hongkong, um sich nach dem Schicksal des Cantopop zu erkundigen, von dem es heißt, dass er vom noch klebrigeren chinesischen Festlandschlager verdrängt wird. Messmer findet den Patienten mutiert, aber recht lebendig vor. "Neben den leicht schrullig charmanten 22 Cats, die an ihren Gitarren x-beinig wirken, bestechen vor allem die Pixel Toys, eine Art fernöstliche Stereo Total nach einem Weichspülgang. Die Sängerin rockt, der Gitarrist trägt eine coole Sonnenbrille und macht ein wenig Lärm, im Hintergrund knurrt verwegen etwas Elektronik und dennoch löst sich am Ende alles in sentimentalen Melodien auf. Man ist versucht, zu sagen: Egal ob Indie oder nicht und trotz aller Bedrohung, die vielleicht zwischenzeitlich von China ausgehen mag: Cantopop lebt und heißt jetzt Cutiepop."

Weiteres: H.- C. Zimmermann sorgt sich um das Festival "Theaterformen", das Braunschweig und Hannover kulturell wiederbelebt, jetzt aber nach zwei Jahren den Weggang des Direktors nach Tallinn verkraften muss. Nicht die Baukosten, sondern der Unterhalt der Kunsthalle könnte in Berlin für Ärger sorgen, prophezeit Nina Apin. Brigitte Werneburg erinnert Berlin daran, dass die vielgelobten "Orte des Erinnerns" von Renata Stih und Frieder Schnock renovierungsbedürftig sind.

Auf der Meinungsseite ärgert sich Steffen Grimberg über die Zeitungsverlage und die öffentlich-rechtlichen Sender und ihr Gehacke ums Internet. "Kühne Entwürfe oder gar Visionen haben beide Seiten nicht zu bieten. Und solange sie nicht einmal selber wissen, was sie genau mit dem neuen Medium wollen und wie sie mit ihm Geld verdienen können, versuchen sie erst mal ersatzweise, den anderen das Recht streitig zu machen, ebenfalls in den Zug einzusteigen. Den Blick über den Tellerrand versagen sich beide Seiten. Dabei reicht ein Abstecher nach Großbritannien, wo für die nicht eben kleine BBC der gesamte Onlinebereich seit Jahren wie selbstverständlich dazugehört - als dritte Säule neben dem klassischen Fernsehen und dem Hörfunk."

Schließlich Tom.

Welt, 09.06.2008

Hanns-Georg Rodek und Günter Agde erzählen die Geschichte der Bibliothek aus Schloss Neuhardenberg, die zum Teil von den Sowjets nach dem Krieg geraubt wurde und zur Zeit in Russland ausgestellt ist - ein mögliches Zeichen für eine Wende im komplizierten Beutekunststreit. Die Autoren erinnern zugleich an Carl Hans Graf von Hardenberg, den einzigen Mitverschwörer des 20. Juli, der das Kriegsende überlebte. Katharina Dockhorn schildert die Probleme vieler freier Schauspieler, die wegen zu kurzer Engagements nicht einmal Anspruch auf Arbeitslosengeld haben, obwohl sie durchaus in die Systeme einzahlen. Wieland Freund unterhält sich mit dem Illusionisten Paul Kieve, der ein Buch über die Geschichte der Zauberei geschrieben hat. Manuel Brug freut sich über das Comeback des Tenors Rolando Villazon nach Burnout und Stimmverlust - er sang in London den Don Carlo mit Bravour!

Besprochen werden eine neue CD Cassandra Wilsons und eine Olafur-Eliasson-Retro in New York.

NZZ, 09.06.2008

Naomi Bubis konstatiert angesichts neuer Korruptionsvorwürfe gegen den israelischen Regierungschef Ehud Olmert: "Misswirtschaft und Korruption durchdringen die israelische Politik auf allen Ebenen bis hinauf in die Führung des Staates. Was ist los mit der israelischen Politik? Selten war die Kluft größer zwischen dem Volk und seinen exekutiven und parlamentarischen Vertretern."

Gegen "ein wochenlang verschandeltes Stadtbild und gereizte Stadtbewohner" glossiert angesichts der EM ein erboster Uwe Justus Wenzel: "'Public Viewing' bedeutet übrigens im Englischen nicht ganz dasselbe wie im modischen Pseudoenglischen; unter anderem wird damit die öffentliche Aufbahrung eines Verstorbenen bezeichnet. Sprachbewusste Zeitgenossen haben darum ein passendes deutsches Wort gesucht und gefunden, das den Aspekt der Gemeinschaftsstiftung gebührend berücksichtigt: 'Rudelgucken'."

Weiteres: Paul Widmer, Botschafter und Ständiger Vertreter der Schweiz beim Europarat in Straßburg, stellt drei Thesen zur "kosmopolitischen Offenheit" der Schweiz auf. Christoph Egger schreibt zum Tod des italienischen Filmregisseurs Dino Risi.

Besprechungen: Hans-Joachim Müller stellt die Ausstellung "Robert Delaunay - Hommage a Bleriot" im Kunstmuseum Basel vor, die ihm nichts Geringeres als einen "Hymnus auf Kenntnis und Können" zeigte. Kein Wunsch offen blieb Peter Hagmann beim Besuch der Richard Strauss-Oper "Capriccio" in der Wiener Staatsoper. Und Barbara von Reibnitz bespricht den unlängst erschienenen Band 12 der Zeitschrift Rechtsgeschichte.

FR, 09.06.2008

Arno Widmann hat eine offenbar sehr interessante Veranstaltung des Frankfurter Lehrstuhls für Islamische Religion besucht, die ihn aber mit etlichen unbeantworteten Fragen zur aufgeklärten Ankaraer Schule oder zum Verhältnis von Staat und Islam zurückließ: "Soll der Staat wirklich der Glaubensbringer sein? Und welcher Staat? Sollen türkische staatliche Institutionen wirklich zuständig sein für die Glaubenserziehung der deutschen Staatsbürger? Mit welchem Argument aber will der säkulare Staat Muslimen, Buddhisten, Konfuzianern, Hindus, Sikhs verweigern, was er Katholiken und Protestanten zugesteht? Allein im Raum Frankfurt leben derzeit - so sagt Wikipedia - 150 zarathustrische Familien. Wenn die Geld genug haben - werden sie sich auch einen Lehrstuhl an der Frankfurter Universität kaufen können für ihre Kinder? Der von der Türkei finanzierte Frankfurter Lehrstuhl für islamische Religion schafft mehr Probleme als er zu lösen scheint."

Thomas Winkler hat das Comeback-Album von Donna Summer nicht ohne Genuss gehört: "Ihre Produzenten, die sonst für Rihanna, Shakira oder Lily Allen den aktuellen Soundstandard abzirkeln, haben knallige Beats, die auch auf einem Tanzboden von heute bestehen können, aktuelle Sound-Gimmicks und vorsichtige Ausflüge ins Lateinamerikanische so geschickt verschmolzen, dass ähnliche Reanimierungsversuche von Konkurrentinnen wie Cher im Vergleich geradezu peinsam wirken."

Weiteres: Elke Buhr berichtet von einer schillernd besetzten, aber doch wieder recht harmlosen Diskussion zu 1968 in der Berliner Akademie der Künste. Daniel Kothenschulte schreibt zum Tod des italienischen Regisseurs Dino Risi. In Times Mager sinniert Hans-Jürgen Linke über Public Viewing und Handy Screening. Besprochen werden eine Retrospektive auf Fernand Leger in der Fondation Beyeler und ein etwas überinszenierter "Macbeth" in Bochum ("Aber Lisa Nielebock ist eine Regisseurin mit Zukunft", versichert Stefan Keim).

Weitere Medien, 09.06.2008

Alan Jackson hat für die Londoner Times Bob Dylan zu einem seiner raren Interviews getroffen. Er äußert sich auch politisch: "'Well, you know right now America is in a state of upheaval,' he says. 'Poverty is demoralising. You can't expect people to have the virtue of purity when they are poor. But we've got this guy out there now who is redefining the nature of politics from the ground up... Barack Obama. He's redefining what a politician is, so we'll have to see how things play out. Am I hopeful? Yes, I'm hopeful that things might change."

Aus der New York Times erfahren wir, wie "Feuchtgebiete" auf englisch heißen werden: "Wetlands". Nicholas Kulish schreibt über die feministischen Auseiandersetzungen im heutigen Deutschland und porträtiert nebenbei Charlotte Roche: "Germans have been accused, on occasion, of overanalyzing. Sometimes a funny, dirty book is just a funny, dirty book, but not this one, according to its author. Ms. Roche, 30, has long identified herself as a feminist and, in a vein first explored in 1960s-era American feminism, describes the book as a cri de coeur against the oppression of a waxed, shaved, douched and otherwise sanitized women's world."

SZ, 09.06.2008

Gibt's was Neues in der Popmusik? Man zitiert jetzt nur noch unironisch. Aber sonst versucht niemand, originell zu sein, beruhigt Dirk Peitz und fragt: "Wäre es schlimm, wenn es dabei bliebe, wenn nichts originär Neues mehr und nichts von echter Bedeutung käme? Bevor man sich in Theorien verliert, sollte man versuchen, das Gefühl der Freiheit selbst zu erleben."

Gustav Seibt reist durch Ostdeutschland und begutachtet das Ergebnis von Entchristianisierung und Entbürgerlichung - "Arbeitnehmer, die sich das Recht auf Pause nicht nehmen lassen mögen, oder Aufseher, die das Publikum gerne schurigeln und zum Dienstschluss hinauswerfen, kurz: die Überlebenden des sozialistischen Experiments."

Weitere Artikel: Das Deutsche Archäologische Institut (DAI) in Rom ist wegen Sanierung geschlossen; dagegen protestierten "über 400 Archäologen aus aller Welt", die ihre Forschung gefährdet sehen, berichtet Henning Klüver. Die Denkmalpfleger sollen zu Dienstleistern zurechtgestutzt werden, berichtet Ira Mazzoni empört von der Jahrestagung der Denkmalpfleger in München. Tobias Lehmkuhl durchlitt eine Diskussion an der Berliner Akademie der Künste über 1968. Petra Steinberger denkt über eine Welt ohne Öl nach. Miriam Hauck und Christian Kortmann schicken Nachrichten aus dem Netz.

Besprochen werden zwei DVDs - ein Film über den Dirigenten Karel Ancerl und der "Rosenkavalier" als Stummfilm, Armin Petras' Inszenierung von Dorota Maslowskas Stück "Zwei arme Polnisch sprechende Rumänen" am Wiener Schauspielhaus, Andre Schäfers Film "Lenin kam nur bis Lüdenscheid" und Bücher, darunter Thea Dorns Roman "Mädchenmörder" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 09.06.2008

Am Sonntag deckte Werner Liersch in der FAS die "weißen Stellen in der Militärbiographie und die verschwiegene Einsatzgeschichte des Polizei-Gebirgsjäger-Regiments 18" von Erwin Strittmatter auf: "Es ist nicht bekannt, dass Strittmatter in ein Verbrechen der schrecklichen Polizisten verstrickt war, die Daniel Goldhagen 'Handlanger des Völkermords' nannte. Aber er besaß Kenntnisse dieses Krieges von einem ungewöhnlichen Radius. Der Platz in der Truppe kumulierte mit dem Hintergrundwissen eines Bataillonsschreibers, Kriegstagebuchführers und Mitarbeiters der Film- und Bildstelle der 'OrPo'."

Heute kommentiert Oliver Jungen: "Dass junge Menschen durch die jetzige Enthüllung davon abgehalten werden, Strittmatters realsozialistische Romane zu lesen, wäre wohl nur die wunschgetreue Überblendung der Tatsache, dass Strittmatters literarisches Schicksal längst besiegelt ist."

Weitere Artikel: In der Glosse hält Gina Thomas die Ansicht des neuen Londoner Bürgermeisters Boris Johnson, dass man jugendlichen Messerstechern am besten Latein beibringt, auf dass sie weniger Messerstechen, für durch Statistik begründbar. Franziska Seng war dabei, als in Neuhardenberg über Für und Wider der Aufnahme eines "Staatsziels Kultur" ins Grundgesetz debattiert wurde. Beim Blick in osteuropäische Zeitschriften stößt Joseph Croitoru auf durchaus unterschiedliche Ansichten zum politischen Bewusstsein der polnischen Jugend. Andreas Rossmann porträtiert den Mircea Cartarescu-Übersetzer Gerhardt Csejka, der für seine Leistung jetzt den Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW erhielt. Melanie Mühl protokolliert, was der Satiriker und "Partei"-Vorsitzende Martin Sonneborn von seiner Berlin-Umwanderung auf den Spuren der Mauer zu berichten hat. Einen Text über die Bombardierung Dresdens aus dem Nachlass von Kurt Vonnegut hat Lorenz Jäger gelesen. Das Gesamtwerk von Italiens erfolgreichstem Bestsellerautor Joseph Ratzinger wird, meldet Dirk Schümer, in einer dreizehnbändigen Gesamtausgabe ediert, deren erster Band noch in diesem Jahr erscheint. Andreas Kilb schreibt zum Tod des italienischen Komödienregisseurs Dino Risi. Auf der Medienseite erklärt Matthias Rüb, dass der New York Times in einem von Rupert Murdoch runderneuerten Wall Street Journal ein gefährlicher Konkurrent erwächst.

Besprochen werden Lisa Nielebocks Bochumer "Macbeth"-Inszenierung, eine Aufführung von Verdis "Don Carlos" an Covent Garden, die Ausstellung "Das Porträt der Renaissance" im Prado, eine Kölner Ausstellung mit Fotografien der Freunde Man Ray und L. Fritz Gruber, eine Ausstellung zum Aufschwung deutscher Architektur-Exporte in Frankfurt und Bücher, darunter die Neuübersetzung von Italo Svevos Debütroman "Ein Leben" und Norbert Bolz' Respekterweis eines Atheisten "Das Wissen der Religion" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).