Heute in den Feuilletons

Okay, du kannst fliegen. Na und?

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.11.2008. Die NZZ meldet: So langsam trauen sich die Norweger wieder, Knut Hamsun zu verehren. Die Welt meint: Die Berliner Schlossattrappe ist die verdiente Strafe für das Versagen der Moderne in der Architektur. Und dann ist noch die Frage, was hinten reinkommt, meint der Tagesspiegel. In der FR erklärt die Opernsängerin Natalie Dessay, warum sie die tiefen Töne so viel schöner findet als die hohen. Die FAZ staunt über die Intelligenz des Oktopus. Außerdem: Gorbatschow rätselhaft verschwunden.

NZZ, 26.11.2008

Aldo Keel berichtet, dass die Norweger zum bevorstehenden 150. Geburtstag Knut Hamsuns ihre Scheu verlieren, den großen, aber leider nationalsozialistischen Schriftsteller zu verehren. Nächstes Jahr soll endlich der lang geplante Hamsun-Turm des New Yorker Architekten Steven Holl in Hamaroy, 200 Kilometer nördlich des Polarkreises, eingeweiht werden, wo Hamsun "als armer Leute Kind" aufwuchs. "Alte ideologische Positionen gegenüber Hamsun verlieren mittlerweile an Bedeutung. Noch im August forderte ein rechtsgerichteter Regionalpolitiker den Stopp des Turmbaus, den er als Geldverschwendung in einer schwer zugänglichen Gegend versteht, während in Oslo linke Lokalpolitiker für einen Hamsun-Platz kämpfen. Nach den Vorstellungen des Sozialdemokraten Helge Winsvold soll die Piazza, die bei der Oper entsteht, wenn das neue Munch-Museum und andere Kulturbauten errichtet sind, den Namen Hamsuns tragen. 'Gewiss war Hamsun ein Halunke', erklärte der Genosse der Zeitung Aftenposten. 'Aber wir wünschen seinen Namen wegen des Werks.'"

Georges Waser berichtet, wie die Krise den Briten die Stimmung verdirbt: In Schaufenster hängt schon der Weltkriegsslogan "Keep calm and carry on" und in die Pubs bringen sich die Leute ihren Alkohol selbst mit.

Besprochen werden ein Marthaler-Abend in Paris, Augenzeugenberichte zum "Novemberpogrom 1938", Dan Diners Essay "Aufklärungen", Asli Erdogans Debütroman "Der wundersame Mandarin" und Roberto Cotroneos Roman "Diese Liebe" und Dorothea Grünzweig Gedichte "Die Auflösung" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR, 26.11.2008

Naomi Klein versteht überhaupt nicht, warum Barack Obama und seine Leute dem sanften Übergang das Wort reden, ein paar ordentliche Verwerfungen wären ihr lieber: "Je mehr Einzelheiten bekannt werden, desto deutlicher wird, dass Washingtons Abwicklung des Börsen-Rettungspakets nicht nur inkompetent, sondern nahezu kriminell ist. Ende September, auf dem Höhepunkt der Panik, drückte das Finanzministerium im Alleingang eine radikale Änderung der Besteuerung für Bankenfusionen durch - eine Änderung, auf die die Branche seit langem erpicht gewesen war. Lassen wir mal beiseite, dass sie die Regierung um 140 Milliarden Dollar Steuereinnahmen bringt - was den Gesetzgebern auch erst hinterher auffiel. Der Washington Post zufolge sind sich außerdem mehr als ein Dutzend Steueranwälte einig, dass das Finanzministerium nicht einmal die Befugnis hatte, die Änderung zu verabschieden."

Norman Lebrecht porträtiert die Opernsängerin Natalie Dessay, die ihm gegenüber erklärt, dass sie in Zukunft auf die hohen Töne verzichten wird, um mehr aus den tieferen herauszuholen: "'Die hohen Töne scheinen dem Publikum zu gefallen - ich habe nie verstanden, warum. Das ist wie fliegen können. Okay, du kannst fliegen. Na und?"

In einer Times mager weiß Judith von Sternburg zu berichten, dass britische Banken ihre großen Weihnachtsparties nur noch inkognito steigen lassen. Hans-Jürgen Linke gratuliert dem Jazzensemble des HR zum Fünfzigsten. Rolf-Bernhard Essig liest den ersten Band der historisch-kritischen Ausgabe von Goethes Briefen.

Welt, 26.11.2008

Gerwin Zohlen kann die Proteste bekannter Architekten gegen die Errichtung einer Schlossreplik in Berlin gar nicht nachvollziehen: "Wenn die Architektur nach dem Scheitern ihrer Moderne an der Bevölkerung wieder ihre ureigenen Mittel und Instrumente rekonstruieren, also wieder besser, gestaltreicher, greifbarer und augengefälliger bauen würde, würde sich die Frage nach der Rekonstruktion des Berliner Schlosses kaum erst stellen."

Weitere Artikel: Hendrik Werner begibt sich mit Langenscheidt auf die Suche nach dem "Jugendwort des Jahres". Peter Dittmar untersucht die höchst unterschiedlichen Tarife internationaler Museen und fragt nach dem angemessenen Eintrittspreis. Wolf Lepenies schreibt über die Wiederbelebung der Idee der "Latinität" in Frankreich, die etwa hinter der gescheiterten Mittelmeerunion stand und dem in Frankreich genetischen antiamerikanischem Reflex gehorchte. Natascha Freundel gratuliert Israels Nationaltheater Habima in Tel Aviv zum Neunzigsten. Hendrik Werner meldet, dass die Bremer Kunsthalle wegen Bauarbeiten bis auf weiteres geschlossen ist.

Besprochen wird eine CD der Newcomer-Band The Killers.

Aus den Blogs, 26.11.2008

Alan Posener antwortet in der Achse des Guten auf Frank Schirrmachers Apokalypso in der gestrigen FAZ: "Nun verkündet Schirrmacher, was so wenig originell wie verantwortungslos ist, das Ende der kapitalistischen Welt, wie wir sie kennen. (Man schaudert bei dem Gedanken daran, was er 1929ff. verkündet hätte.) Dabei verfällt er in einen merkwürdigen Relativismus: 'Reden wir, fast zwanzig Jahre nach Mauerfall (sic: Propheten brauchen keine Artikel) so wie einst Günter Mittag und das Politbüro und kaufen zur Beruhigung der Massen noch ein paar billige DVD-Rekorder ein?' Nö. Völlig andere Situation. Aber Schirrmacher meint, Obama sei 'ein Gorbatschow des Westens', könnte aber zu spät kommen. Tja, dann fällt die Mauer, und alle hauen ab nach China oder was? " (Online sind die Bezüge auf Gorbatschow leider gekürzt - siehe unten).


Via Netzpolitik. Wenigstens die SPD Marburg ist noch fähig zur Selbstironie:

TAZ, 26.11.2008

Auf den Tagesthemenseiten erklärt Klaus Raab, warum den Zeitungsverlagen - die derzeit durch brutale Ausdünnung von Redaktionen und Zusammenlegung oder Einstellung von Titeln drastisch sparen - die Bankenkrise als Begründung ihrer in Wirklichkeit lang geplanten Maßnahmen wie gerufen kommt, weil sie "die öffentliche Akzeptanz für harte Maßnahmen" stützt: "Wirtschaftskrise als Wetterbericht. Als gäbe es keine handelnden Personen, sondern nur Naturkatastrophen. So verkauft man Einsparungen als Schicksalsentscheidung. Die Medienbranche droht in den Sog der Wirtschaftskrise gezogen zu werden, und jeden Tag gibt es eine neue Meldung, die den Sog bestätigt. Der Sturm ist schuld. Die raue See. Was für eine Chance."

"Aufrüttelnd" findet Dietrich Kuhlbrodt im Kulturteil Ken Loachs Film "Its a Free World", in dem eine Arbeitslose zur Unternehmerin wird und Opfer- und Täterrolle tüchtig durcheinandergewirbelt werden. "Loach hat es sich mit seinen Filmen bisher leicht gemacht. Er wählte die klare Perspektive auf Arbeiter, Arbeitslose, Immigranten und Opfer der Privatisierung. Wir konnten das, was zu sehen und analysieren war, abnicken und uns empören... In 'It's a Free World' ist es vorbei mit der Bequemlichkeit."

Weiteres: Jürgen Gottschlich schildert, warum Kemalisten durch das Dokudrama "Mustafa" über die privaten Seiten des ersten türkischen Präsidenten Kemal Atatürk dessen Erbe bedroht sehen und die Emotionen hochkochen (hier und hier Ausschnitte). Ursula Wöll berichtet über die Ausstellung der Preisträger des Annual Photography Award in der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main, die zwischen postsozialistischem Slapstick und sozialdokumentarischem Anspruch oszilliere.

Besprochen wird schließlich ein Buch von John McWhorter, der untersuchte, wie die afroamerikanische Mittelklasse über Hiphop denkt: "All About the Beat. Why Hip-Hop can't save Black America" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und hier Tom.

Tagesspiegel, 26.11.2008

Die Schlossattrappe wird errichtet, aber was rein soll, ist nach wie vor unklar, meint Rüdiger Schaper, den allenfalls Klaus-Dieter Lehmanns Idee eines "Hauses der Weltkulturen" überzeugen würde: "Es war ein Durchbruch. Aber nicht etwa für weltläufige Visionen des 21. Jahrhunderts, sondern wieder nur für den historischen Schwindel. Seitdem hört man von den Humboldt-Freunden nicht mehr viel. Lehmanns Nachfolger Hermann Parzinger schreibt, so ist zu hören, an einem Konzept. Und die Jury, die am Freitag einen Gewinner des Architekturwettbewerbs zu küren hat, zerbricht sich die Köpfe, ob und wie Humboldt und Hohenzollernschloss zusammenpassen. Keine Angela Merkel, kein Bernd Neumann und auch kein Klaus Wowereit hat sich je für ein großes Haus der Weltkulturen - und was wäre das Humboldt-Forum sonst - nachhaltig engagiert."

SZ, 26.11.2008

Deutschland und Frankreich blicken so gebannt nach Amerika, dass sie sich nicht mal mehr für Peter Sloterdijks Provokationen interessieren, seufzt Joseph Hanimann. Am 15. September hat Damien Hirst mit dem Verkauf seiner Jahresproduktion bei Sotheby's 111 Millionen Pfund eingefahren, jetzt hat er 17 Mitarbeiter entlassen, um auf die Krise vorbereitet zu sein - Holger Liebs scheint von dem Mann irgendwie die Nase voll zu haben. Burkhard Müller sieht die Ironie am Ende. Im nächstem Jahr wird das Trappistenkloster Maria Wald bei Euskirchen die alte Messe einführen, meldet Alexander Kissler. Gottfried Knapp schreibt zum Fünfhundertsten von Andrea Palladio. Wolfgang Schreiber berichtet von Versuchen einer in Deutschland ansässigen Internationalen Giuseppe-Verdi-Stiftung, das italienische Verdi-Institut zu retten, für das sich die Italiener selbst nicht mehr zu interessieren scheinen. Klaus Dermutz freut sich über Enrico Lübbes anspruchsvollen Saisonstart am Theater Chemnitz. Florian Kessler berichtet über die üppig ausgestattete Wiener Buchmesse. Jonathan Fischer gratuliert Tina Turner zum Siebzigsten. Abgedruckt ist Daniel Kehlmanns Laudatio auf den frisch gekürten Kleistpreisträger Max Goldt.

Besprochen werden Ken Loachs Film "It's a Free World" und Heinz Strunks Roman "Die Zunge Europas" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 26.11.2008

Aktualisierung vom 27. November: Wie nur? Durch die Hintertür hat sich Gorbatschow wieder in die Geschichte eingeschlichen. Mehr dazu hier und hier auf der Achse des Guten. Der folgende Absatz repräsentiert also den gestrigen Stand:

Manchmal ist Print doch besser als online: Gestern lasen wir in Frank Schirrmachers vierter apokalyptischer Vision über Barack Obama als "Gorbatschow des Westens": "Und was ist, wenn er pünktlich ist, gleichsam ein Gorbatschow des Westens, aber den Erwartungen, die jetzt fast mythisch aufgebaut werden, nicht gerecht wird? " Online fehlen alle Anspielungen auf Gorbatschow. Wieder einmal hat das Netz der Geschichte alle Tiefe genommen.

Julia Voss stellt anlässlich der Diskussionen um das Bremer Menschenaffen-Tierversuchsverbot fest: Der Versuchsleiter versucht - und das Versuchstier denkt längst schon zurück. "Das spektakulärste Beispiel lieferte zuletzt der Oktopus: Wegen seiner dicken Nervenfasern ist er ein klassischer Modellorganismus der Neurobiologen; doch was man sich als vermeintlich einfachen Organismus ins Labor holte, entpuppte sich als intelligentes Lebewesen. Der Oktopus verblüffte die Wissenschaft mit der Fähigkeit, zu beobachten, wie Futter in Marmeladengläsern deponiert wurde. Er sah zu, griff das Glas, schraubte es auf und aß die Garnele."

Weitere Artikel: In der Glosse erkennt Patrick Bahners im Verhalten des fahnenflüchtigen Wolfgang Clement die "Rücksichtslosigkeit eines Typs, den man eher aus der Kriminalpsychologie kennt". Siebenundsiebzig musste der katalanische Autor Juan Goytisolo werden, berichtet Walter Haubrich, bevor er nun erstmals - immerhin mit dem Spanischen Nationalpreis für Literatur - eine Auszeichnung seines Heimatlandes erhält. Den bedenklich heruntergewirtschafteten Zustand der Denkmalmeile - der "National Mall" - in Washington schildert und beklagt Katja Gelinsky. Regina Mönch verteidigt in einem für den Uneingeweihten nicht in jeder Wendung nachvollziehbaren Artikel den umstrittenen Münsteraner Islam-Theologen Muhammad Sven Kalisch - und zwar vor allem gegen orthodoxe Islamverbände, die ihm gerne die Lehrerlaubnis entzogen sähen. Wie und warum in Paris das Centre Pompidou und der Palais de Tokyo an- und ineinander geraten, weiß Angelika Heinick. Oliver Jungen gratuliert dem Historiker Peter Blickle zum Siebzigsten. Gina Thomas schreibt zum Tod des Dirigenten Richard Hickox. Auf der DVD-Seite werden unter anderem Editionen mit Filmen von Djibril Diop Mambety und Georges Franju und Alexander Sokurows "Dialoge mit Solschenizyn" empfohlen.

Besprochen werden ein Berliner Konzert mit dem neuen Star-Dirigenten Yannick Nezet-Seguin, ein Konzert der Foals in Köln, die Ausstellung "Rene Magritte 1948. La Periode vache" in der Frankfurter Schirn, die Ausstellung "Archilab Europe 2008" in Orleans, das Computerspiel "Motorstorm: Pacific Rift" und Bücher, darunter Brock Clarkes Roman "Leitfaden zum Abfackeln von Schriftstellerresidenzen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).