Heute in den Feuilletons

Nichtrealist zu sein

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.12.2008. In der Welt beschreibt der Asienexperte Hermann Kulke die konfliktuelle Komplizenschaft zwischen Islamisten und Hindunationalisten in Indien. Die SZ hat sich in ein Märchenschloss in Dubai zum deutsch-arabischen Kulturdialog einladen lassen. Außerdem erzählt sie die Geschichte der Juden in Indien. In der FR erklärt Herfried Münkler die Weltlage. Hinzu kommt die Lage in Ost-Sibirien.

FR, 02.12.2008

Im Gespräch mit Arno Widmann erklärt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler die geopolitische Weltlage: "Wenn ich die derzeitige Situation Russlands richtig beurteile, dann gelingt es dem Land allerdings nicht, das Öl-Geld in einen breiten ökonomisch-technologischen Take-off umzusetzen. Wir beobachten doch eher das klassische Dritte-Welt-Syndrom: obszöner Reichtum und Überfluss auf der einen Seite und Armut und Elend in weiten Teilen des Landes. Hinzu kommt die Lage in Ost-Sibirien. Die von den Zaren oder vom Gulag-Regime dorthin verbrachten Europäer ziehen sich zurück. An ihre Stelle tritt eine dynamische chinesische Bevölkerung. Ostsibirien wird sinisiert. Russland ist sicher nach wie vor ein wichtiger Akteur, aber nicht auf einer vergleichbaren Höhe wie die USA, die EU und China."

Weiteres: Hans-Jürgen Linke erklärt die Hintergründe des aktuellen Streiks der Orchestermusiker, denen am Wochenende "nicht nur Vorstellungen oder Proben, sondern auch Premieren" zum Opfer gefallen sind. In der Times Mager versucht Harry Nutt, Thailands Farbenlehre zu verstehen. Tom Mustroph erzählt von den Verwerfungen, die der - abgelehnte - Vorschlag in Mailand ausgelöst, Roberto Saviano den städtischen Ambrogino-Preis zu verleihen. Christoph Schröder stellt die neue vierteljährliche Bestenliste "Weltempfänger" mit Büchern aus Afrika, Asien und Lateinamerika.

Daland Segler erklärt in einem langen Text die aktuelle Medienlage: "Kein Verlag, keine Zeitung mehr ohne Online-Auftritt, kein Sender mehr ohne Internet-Angebote. Das ist weniger der Einsicht zu verdanken, dass das World Wide Web das nächste große Ding sei als dem Geschäftssinn."

Besprochen werden die bestreikte Verdi-Premiere "I Masnadieri" ( "Die Räuber") im Frankfurter Opernhaus, Waltraud Lehner ebenfalls recht bruchstückhafte Inszenierung von Tschaikowskis "Eugen Onegin" in Stuttgart und Gus Van Sants neuer Film "Milk" über den Bürgerrechtler Harvey Milk.

Welt, 02.12.2008

Der Asienhistoriker Hermann Kulke spricht in einem ganzseitigen Interview über die Wurzeln des Terrors in Indien, die Hintermänner und die Profiteure unter Islamisten und Hindunationalisten. "Ein Kollege in Indien, ein Historiker, sagte mir, Bombay sei auch ein Anschlag auf die gewählte Regierung von Pakistan. Der äußere Druck auf sie soll erhöht werden. Durch derartige Anschläge soll die BJP, die hindunationalistische Partei, in Indien wieder an die Macht gebracht werden. Es kann kein Zufall sein, dass am vergangenen Wochenende, drei Tage nach dem Anschlag in Bombay, Wahlen in Delhi stattfanden, weitere in wichtigen Bundesstaaten bevorstehen. Und im nächsten Frühjahr wird wohl das Unterhaus gewählt. ... Eine hindunationalistische Regierung würde zum einen den Druck auf Pakistan erhöhen, zum anderen könnte sie Mitglieder der muslimischen Minderheit in Indien selbst den Fundamentalisten stärker in die Arme treiben, als dies bislang geschehen ist."

Franco Stella, der das Berliner Schloss wiederaufbauen wird, hat die Schlossdebatte nie so recht verstanden, wie er im Interview erklärt: "Wieso muss die Moderne überall die Geschichte ersetzen? Ich habe etwas gegen diesen Integralismus des Modernen, gegen das Entweder-Oder. Jede Stadt braucht beides, und die Moderne ist in Berlin ja sehr präsent."

Außerdem: Manuel Brug weist die streikenden Orchestermusiker in Deutschland darauf hin, dass sie als "bestbezahlte Beschäftigungsgruppe mit den wenigsten Dienststunden" sehr gut dastehen, verglichen mit anderen Theaterangestellten. Dankwart Guratzsch schreibt zum Tod des Architekten Jörn Utzon.

Besprochen werden ein "Tannhäuser" an der Deutschen Oper Berlin, drei Tschaikowski-CDs, Fatih Akins "Gegen die Wand" als Oper in Bremen, eine CD von Ret Marut, der Band des Schauspielers Bernd Michael Lade, und Briefbände

NZZ, 02.12.2008

Thomas Hunkeler schreibt einen Nachruf auf die belgisch-französische Schriftstellerin Beatrix Beck. Ansonsten gibt es heute Rezensionen: Besprochen werden die große Schau "D'une Revolution a l'autre" im Pariser Palais de Tokyo, die vom Orchester bestreikte Premiere von Verdis "I masnadieri" in der Oper Frankfurt und Bücher, darunter Paul Austers neuer Roman "Mann im Dunkel", Steinunn Sigurdardottirs Roman "Sonnenscheinpferd" und Anton M. Fischers Psychogramm eines Denkers "Martin Heidegger" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Berliner Zeitung, 02.12.2008

Nach einer Pressekonferenz, auf der die Deutsche Welle alle Vorwürfe gegen ihr chinesisches Programm zurückwies, so Sabine Pamperien in einem kurzen Bericht, erklärte der Autor eines DW-kritischen Berichts im Deutschlandfunk: "Die Kommunikationsstrategie der Deutschen Welle ist seltsam. Erst lehnt man Kritik als haltlos ab. Und auf Nachfrage wird fast jedes Zitat bestätigt." Auch der in den USA lebende chinesische Dissident Wei Jingsheng habe die Art, wie die DW mit ihm umging, kritisiert.

TAZ, 02.12.2008

Raul Zelik, zur Zeit Gastprofessor an der Nationaluniversität in Bogota, schreibt über den fortgesetzt glücklosen Drogenkrieg der Amerikaner in Kolumbien. Ralf Sotschek porträtiert die irische Erfolgsautorin Cecelia Ahern. Isolde Charim berichtet über die Reaktionen einiger linker Theoriegurus wie Zizek, Butler und Eagleton auf die Wahl Obamas und beantwortet nebenbei die Frage, was links ist ("nichtzynisch, Nichtrealist zu sein"). Auf der Medienseite berichtet Frida Thurm, dass sich die CDU auf Youtube "ein menschliches Gesicht" gibt (während sie überall sonst nur ihre unmenschlichen Grimassen zieht).

Besprochen wird Kirsten Harms' "Tannhäuser"-Inszenierung in Berlin.

Und Tom.

FAZ, 02.12.2008

Andreas Rossmann stellt, gebührend beeindruckt, den von Albert Speer jun. und Mitarbeitern entworfenen Masterplan für die Kölner Innenstadt vor. In der gedruckten Zeitung gibt es Strips, die Volker Reiche ("Strizz") bei der Lektüre der Sammlung "Breakdowns" mit alten Arbeiten von Art Spiegelman zeichnete. Im Netz gibt es dazu eine Sonderseite, mit der schon ein paar Tage alten Einführung von Andreas Platthaus, einer kommentierten Bildergalerie und einem Interview, das ebenfalls Platthaus mit Spiegelman führte. Pia Reinacher hat in Zürich ein Gespräch zwischen Monika Maron und Lars Gustafsson erlebt. Matthias Hannemann war dabei, als der marxistische Historiker Eric Hobsbawm den Bochumer Historikerpreis entgegennahm. Martin Fritz schildert, wie in Japan schon die Kindergartenkinder für ihre Aufnahmeprüfungen zur Schule büffeln müssen. Jürg Altwegg porträtiert Henri Guaino, den vielleicht wichtigsten "Einflüsterer" von Nicholas Sarkozy. In der Glosse schreibt Gerhard Rohde über durchaus "hinreißende" Notlösungen angesichts derzeit stattfindender Orchesterstreiks. Lorenz Jäger hat einen Nachruf auf die Philologin Dorothea Hölscher-Lohmeyer verfasst.

Auf der Forschung-und-Lehre-Seite berichtet Mara Delius, wie sie auf deren Jahrestagung die deutschen Komparatisten miteinander streiten und um ihr Selbstverständnis ringen sah. Marlene Weiss fragt, wie sich die Finanzkrise auf die Forschungslandschaft dies- und jenseits des Atlantiks auswirken wird. Auf der Medienseite findet der Fernsehmoderator Holger Weinert an seinem Medium nicht sehr viel Gutes.

Besprochen werden die Münchner Uraufführung von John Birkes Stück "Armes Ding", Johann Simons' Pariser "Fidelio"-Inszenierung mit Martin-Mosebach-Libretto, ein Darmstädter Auftritt des Jazz-Stars Till Brönner, eine Einspielung der Chorlieder von Felix Mendelssohn Bartholdy durch den RIAS Kammerchor, und Bill Brysons neues - für Margret Fetzer reichlich misslungenes Buch - "Shakespeare, wie ich ihn sehe" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 02.12.2008

Ijoma Mangold erzählt, wie der Scheich von Dubai ihn und einige hochmögende Schriftsteller a la Enzensberger zum deutsch-arabischen Kulturdialog in ein Märchenhotel einlud. Das Hotel war super, der Dialog ganz nett: Immerhin "spürt man vor allem bei den arabischen Teilnehmern eine echte Beteiligung und Begeisterung, dass sie auf arabischem Boden so offen über die Freiheit des Individuums, die Rolle der Religion und die Aufgabe der Literatur sprechen können. Und das alles vom Scheich persönlich finanziert."

Naresh Fernandes, Herausgeber des Time Out Mumbai-Magazins, erzählt die Geschichte der indischen Juden. "Einer von ihnen ist mein Freund Robin David, der Autor des Buchs 'Stadt der Angst', ein unglaublich gutes Buch, in dem er die grauenhaften Pogrome gegen Muslime in seinem Heimatbundesstaat Gujarat beschreibt, deren Augenzeuge er 2002 wurde. Er erklärt darin auch seine Enttäuschung über Israel. Drei Anläufe hat er unternommen, dorthin zu ziehen, nur um am Ende jedesmal wieder zurückzukehren."

Weitere Artikel: Im Aufmacher meditiert Kia Vahland über die Frage, warum immer mehr Menschen alte Kunst sehen wollen ("Offenbar spüren die Leute, dass sie sich in den Museen - und nur in den Museen - etwas zurückerobern können, das ihnen zu entschwinden droht: ein sinnliches Gespür für die eigene Geschichte und die des Landes und Kontinents"). Helmut Mauro spürt den Motiven der deutschen Opernorcherster für ihren Streik nach (man fürchtet um die Anbindung an den Öffentlichen Dienst). Niklas Hofmann schreibt über die Rolle von Diensten wie Twitter und Flickr, auf denen sich viele über die Attentate von Bombay informierten. Jörg Königsdorf sieht das Berliner Radialsystem als Modell für eine neue Generation von Konzerthäusern. Henning Klüver stellt den neuen Generaldirektor der italienischen Museen Mario Resca, einen ehemaligen McDonald's-Manager, vor.

Besprochen werden eine Pipilotti Rist-Ausstellung im Moma, John Birkes Stück "Armes Ding" an den Münchner Kammerspielen, ein "Tannhäuser" in der Regie Kirsten Harms' an der Deutschen Oper Berlin und Bücher, darunter Karen Gloys "Philosophiegeschichte der Zeit".