Heute in den Feuilletons

Manipulierte Depeschen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.01.2009. Die NZZ liest neue japanische Romane von "extremer Frustration und Traurigkeit". Nicht Wilhelm II. war der eigentliche Kriegstreiber, sondern Moltke, sagt Wilhelms Biograf John C. G. Röhl in der Welt. Die taz empfiehlt die Palästina-Thriller des Briten Matt Beynon Rees. In der SZ klagt Assaf Gavron über Selbstgerechtigkeit und wachsende Intoleranz in Israel.

NZZ, 27.01.2009

Lisette Gebhardt stellt die neue Generation junger Schriftstellerinnen vor, die Japans konservative Kulturlandschaft mit Romanen "extremer Frustration und Traurigkeit" verstören: "Mit Gewalt pur konfrontiert uns die Autorin Akira Kuroda in 'Made in Japan'. Das Debüt der Kunststudentin aus Tokio ist ein literarisches Snuff-Movie und berührt hier Grenzen, die derzeit vielleicht nur die japanische Literatur ausreizt - die großen internationalen Verlage scheuen deshalb meist vor der Publikation einer Übersetzung zurück. Es geht um eine Gruppe von vier Jugendlichen, die, bedingt durch die Arbeit ihrer Väter, die der japanischen Firmenelite angehören, im Ausland aufgewachsen sind: Takashi (Deutschland/Schweiz), Satoru (Frankreich), Shin (Mexiko) sowie Shu, der Ich-Erzähler (Amerika). Die repatriierten Jugendlichen konsumieren Drogen, befassen sich mit Mode, Einkaufen und Videos. Eine Kassette zeigt die Tötung eines kleinen blonden Knaben. Das Filmmaterial wurde über deutsche Quellen bezogen. Es heißt dazu: 'Takashi kann auch Deutsch wegen des Jobs seines perversen Alten. Er wurde in Berlin geboren... Mit der deutschen Sprache kann man sonst in Japan überhaupt nichts anfangen, aber jetzt ist das für uns ganz praktisch.'"

Weiteres: Robert Nef, Stiftungsratspräsident des Liberalen Instituts, lotet die Chancen eines Korporatismus aus. Lilian Pfass begutachtet Renzo Pianos Neubau der California Academy of Science in San Francisco. Besprochen werden Michael Köhlmeiers Novelle "Idylle mit ertrinkendem Hund", Elif Shafaks Roman "Der Bonbonpalast" und die Gedichte "Steinzwitschern" von R. S. Thomas (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Berliner Zeitung, 27.01.2009

Nicolas Sarkozy hat einem Bailout-Plan für die französische Presse ausgeheckt, berichtet Johannes Wetzel: Er will "Zeitungen und Zeitschriften, wie es seine 'Pflicht' sei, über drei Jahre verteilt mit Fördermaßnahmen und Einnahmeverzicht in Höhe von 600 Millionen Euro unterstützen." Zu den spektakulärsten Maßnahmen gehört die Initiative "Bürger, greift zur Zeitung. Daher sollen alle Jugendlichen zu ihrer Volljährigkeit für ein Jahr ein Gratis-Abo bekommen. Die Kosten tragen die Verleger. Der Staat zahlt die Zustellung."

FR, 27.01.2009

Jörg Plath stattet Heinz Ludwig Arnold einen Besuch ab, der fünf Jahre lang an der Herausgabe des neuen Kindler Literatur Lexikon gearbeitet hat: "Es war dann doch wohl ein rechter Knochenjob." Prima amüsiert hat sich Daniel Kothenschulte bei der deutschen Fassung des Monty-Python-Musicals "Spamalot" in Köln. Zum 150. Geburtags von Kaiser Wilhelm schreibt Harry Nutt in Times mager. Aureliano Sorrento versucht - online - eine Bresche zu schlagen durch das Gewirr italienischer Linksparteien, die seit dem Mauerfall nicht mehr auf die Beine gekommen sind. Hans-Hermann Kotte stellt auf der Medienseite die Initiative "Neue Deutsche Medienmacher" vor, in der sich Journalisten migrantischer Herkunft zusammengeschlossen haben.

Besprochen werden Luk Percevals Bühnversion von Ingmar Bergmans Fernsehfilm "Nach der Probe" in Hannover, Christof Loys Inszenierung der "Arabella" an der Oper Frankfurt, eine Aufführung von Donizettis "Viva la Mamma" in Wiesbaden, Matthias Zschokkes Erzählung "Auf Reisen" und ein Band über jüdische Remigration.

Aus den Blogs, 27.01.2009

Don Alphonso zitiert aus einer Mail des WAZ-Konzerns, der ja gerade das dpa-Abo gekündigt hat, an die Blogger von derwesten.de: "Liebe Bloggerinnen, liebe Blogger, liebe Westropolis-Kollegen, hiermit bitten wir Euch, dass Ihr umgehend alle dpa-Fotos und alle dpa-Texte aus Euren Blogs und aus Euren Beiträgen entfernt. Dies sollte bis zum kommenden Dienstag, den 27.1.2009, geschehen sein..."
Stichwörter: Blogs, Don Alphonso

Welt, 27.01.2009

Nicht Wilhelm II. war der hauptsächliche Kriegstreiber 1914, sondern Moltke, erklärt Wilhelms Biograf John C. G. Röhl im Interview: "Vielmehr galt er bei den eigentlichen Leitern der deutschen Politik wie Generalstabschef von Moltke und Reichskanzler von Bethmann Hollweg als ein Unsicherheitsfaktor, der notfalls neutralisiert werden müsse. Auch dieses Motiv spielte bei der Entscheidung, den Kaiser auf die Nordlandreise zu schicken, eine Rolle. Nach seiner Rückkehr nach Potsdam und Berlin wurden dem hochgradig erregten Monarchen manipulierte Depeschen vorgelegt und seine Befehle stillschweigend übergangen. So unbesonnen, rassistisch und kriegslustig er sich auch in der Julikrise 1914 benahm, nicht Wilhelm II., sondern Moltke konnte sich später damit brüsten, den Großen Krieg 'vorbereitet und eingeleitet' zu haben."

Weitere Artikel: Ronald D. Gerste erzählt von der schweren Geburt Wilhelms II., bei der sein Arm verkrüppelt wurde. Sven F. Kellerhoff stellt kurz drei neue Biografien zu Wilhelm II. vor: von Christopher Clark, John C. G. Röhl und Eberhard Straub. Ute Baier wünscht sich differenziertere Beutekunstverhandlungen mit Russland. Hanns-Georg Rodek rechnet vor, wieviel Geld eine Oscarnominierung wert ist. Gerhard Knauck berichtet von der Entdeckung eines Massengrabes aus dem Zweiten Weltkrieg im polnischen Marienburg. Eckhard Fuhr war dabei, als die neuen Fellows in der American Academy begrüßt wurden.

Besprochen werden Luk Percevals Inszenierung von Ingmar Bergmans "Nach der Probe" in Hannover und Strauss' Oper "Arabella in der Frankfurter Inszenierung von Christof Loy.

TAZ, 27.01.2009

Andreas Fanizadeh hat Lob und Kritik für die zur Zeit viel besprochenen Palästina-Thriller des Briten Matt Beynon Rees: "Mit Omar Jussuf lernten die Leser ein widersprüchliches palästinensisches Bethlehem kennen und ein, wie es schien, halbwegs glaubwürdiges Mosaik von Politik und Verbrechen in der Westbank. Die Literatur des Europäers schien sich den eingefahrenen nationalistischen Erzählmustern zu widersetzen. Rees ließ seine Hauptfigur - einen Palästinenser - unter Palästinensern agieren und schälte so in 'Der Verräter von Bethlehem' eine Gesellschaft heraus, die viel differenzierter ist, als dies aus der Ferne zumeist wahrgenommen wird."

Weitere Artikel: Christian Bröcking besucht die Tonstudios des Jazzproduzenten Rudy Van Gelder in New Jersey. Heide Oestreich liest das aktuelle Heft der mittlerweile 25-jährigen Feministischen Studien (Website). Und Sascha Zastiral berichtet aus Neu Delhi über Proteste gegen Danny Boyles Film "Slumdog Millionaire".

Besprochen wird das Bühnenspektakel "60 years" über die Beziehung Deutschland/Israel der israelischen Regisseure Guy Weizman und Roni Havers.

Tom.
Stichwörter: Boyle, Danny, Neu, Mosaik, Delhi

FAZ, 27.01.2009

Christian Geyer erklärt wort- und zitatreich, warum es zum "Dschungelcamp" und "Wetten, dass..." wenig zu sagen gibt und warum trotzdem so viel gesagt wird. In der Glosse kommentiert Rose-Maria Gropp den Umstand, dass Charles Saatchi jetzt in der BBC eine Superstar-Sendung für junge (Möchtegern-)Künstler starten will. Über die durchaus auch selbstverschuldete Krisensituation im französischen Verlagswesen informiert Jürg Altwegg. Außerdem beschreibt er auch, wie (nicht nur) die französische Rechte von der französischen Theorie die manipulative Kunst des "Storytelling" lernte. Martin Kämpchen schildert recht geteilte indische Reaktionen auf den in Bombay spielenden britischen Film "Slumdog Millionaire" (mehr). Vom Leipziger Literaturfestival berichtet Alexander Cammann. Nicola von Lutterotti porträtiert den Mediziner Werner Hacke, dessen Aufsatz zum Thema Schlaganfall von Fachkollegen zum "Paper of the year 2008" gewählt wurde (hier gegen kostenlose Registrierung nachzulesen). Einen knappen Nachruf gibt es auf den im Alter von 102 Jahren verstorbenen Historiker Helmut Hirsch.

Besprochen werden eine von Christoph Loy inszenierte und von Sebastian Weigle dirigierte Aufführung von Richard Strauss' "Arabella" in Frankfurt, Theateraufführungen nach den Bergman-Filmen "Nach der Probe" in Hannover und "Persona" in Berlin, die Stadtkonzepte-Ausstellung "Multiple City" in München, zwei CDs mit Quartett-Kompositionen von Richard Wagner bis Jörg Widmann, und Bücher, darunter den von Melissa Müller und Monika Tatzkow herausgegebenen Band "Verlorene Bilder, verlorene Leben", der in fünfzehn Beispielen dem Schicksal jüdischer Kunstsammler nachgeht und Pia Reinachers Essays "Liebe, Lüge, Libertinage" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 27.01.2009

Der Sänger und Autor Assaf Gavron schickt einen traurigen Text aus Israel: "Was ich während des Gazakriegs als besonders niederschmetternd und verstörend empfand, war die wachsende Intoleranz auf israelischer Seite - nicht nur gegenüber dem Leid der Palästinenser, sondern gegenüber jedweder Meinung, die dem Chor des Mainstreams zuwiderlief, gegenüber jedem Argument, das die Operation in Frage stellte."

Eine ganze Seite ist dem "digitalen Leben" gewidmet. Dirk von Gehlen (hier sein Blog) wendet sich gegen kulturindustrielle Lobbyisten wie Dieter Gorny, der morgen bei der Bundesregierung vorstellig wird, um Musikfans vom Internet aussperren zu lassen, falls sie illegal Dateien tauschen: "Die Creative Commons-Szene und im Softwarebereich die Open-Source-Bewegung zeigen: Es gibt tragfähige Konzepte, die sich allerdings abseits dessen bewegen, was man immer schon gemacht hat." Und weiter: "Zum zweiten schafft die aktuelle Debatte eine auf vermeintliche Originale fixierte Atmosphäre der Angst: Kultur basiert von jeher auf dem Prinzip der Adaption, der Anspielung und der Kopie." (Fein! Dann schlagen wir also vor, dass die Süddeutsche die unsinnige Urheberrechtsklage gegen den Perlentaucher fallen lässt.)

Außerdem schreibt Georg Diez über Facebook, das sich zum Massenmedium für Sozialkontakte wandle. Und Christian Kortmann bespricht die Ausstellung "Bookmarks - Wissenswelten von der Keilschrift bis YouTube" in Hannover.

Weitere Artikel: Im Aufmacher erinnert Franziska Augstein an den fatalen Wilhelm, unseren letzten Kaiser, der vor 150 Jahren geboren wurde. Johann Schloemann meditiert über Franz Münteferings Lektüren - zuletzt das Nietzsche-Buch "Das entfesselte Wort" von Heinz Schlaffer. Jörg Häntzschel spekuliert über die künftige Kulturpolitik Obamas, der von den Künstlerlobbys unter Druck gesetzt wird, etwas vom gerade üppig fließenden Staatsgeld auch für die Künste abzuzweigen. In der Zwischenzeit erinnert Gustav Seibt an den Schriftsteller und Goethe-Biografen Wilhelm Bode, dem die Goethe-Forschung bis heute viel verdankt.

Besprochen werden der "Rosenkavalier" unter Christian Thielemann in Baden-Baden, die Ausstellung "Embedded Art - Kunst im Namen der Sicherheit" in der Berliner Akademie der Künste und Bücher, darunter Hans-Christoph Buchs neues Buch "Sansibar Blues"

Auf Seite 2 schreibt Elder Statesman Joschka Fischer über den Gazakrieg und seine Rezepte zur Lösung der Krise. Auf der Medienseite unterhält sich Hans Hoff mit dem Schauspieler Jürgen Vogel, der die Talkshow "Schillerstraße" bei Sat 1 moderieren wird.