Heute in den Feuilletons

Einst war das Medium ehrgeiziger

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.08.2009. In der FR fragt Ismael Kadare: Warum hebt die EU die Visumspflicht für Serbien auf, aber nicht für Bosnien und andere Opfer Serbiens? Die Welt ist beruhigt: Das Theater ist gut aufgestellt für die Krise. In der SZ gibt Joachim Kaiser zu bedenken: Es gab einmal Fernsehen mit Anspruch. Die taz empfiehlt den Grünen, bei Schwarzen nicht nur auf den Hintern zu gucken.

FR, 26.08.2009

Die Entscheidung der EU, die Visumspflicht für Serbien, Mazedonien und Montenegro aufzuheben, für Albanien, Kosovo und Bosnien aber beizubehalten, wird sich nicht stabilitätsfördernd auf die Balkanländer auswirken, meint der albanische Schriftsteller Ismail Kadare. "Zwei Dinge sind Besorgnis erregend: Erstens handelt es sich bei einem der begünstigten Länder um Serbien, das noch vor nicht allzu langer Zeit Sanktionen seitens der EU und Nato zu befürchten hatte wegen seiner Kriegsverbrechen der letzten Jahre. Damit nicht genug, sind die benachteiligten Länder, Bosnien und Kosovo, die Opfer eben jener Kriegsverbrechen. So entsteht der Eindruck, dass Europa sein militärisches Eingreifen auf dem Balkan, wodurch das Morden beendet wurde, bereue und jetzt vielleicht seine politische und moralische Position überdenke. Nach Meinung vieler Experten wäre das ein sehr bedauerlicher Rückschritt in Europas moderner Geschichte. Ein weiterer, sehr heikler Umstand ist die Tatsache, dass die drei von der EU übergangenen Länder große muslimische Bevölkerungsanteile haben, was wieder ein altes Missverständnis aufkommen lässt, das man in Europa eigentlich seit einiger Zeit ausgeräumt wähnte."

(Es ist einfach skandalös, wie schwierig es ist, Informationen auf den Internetseiten der EU zu finden! Die Begründung zur EU-Entscheidung war dort nicht zu finden.)

Weitere Artikel: Elke Heidenreich spricht im Interview über ihre Projekte, ihren neuen Geliebten, den 38-jährigen Komponisten Marc-Aurel Floros, und ihre "alte Liebe", ihren Ehemann Bernd Schroeder, mit dem sie gerade ein Buch gleichen Titels zusammen geschrieben hat. In Times Mager erzählt Ina Hartwig von einem Bekannten, der fleißig Doktorarbeiten für andere schrieb, es aber nie schaffte, seine eigene zu verfassen.

Besprochen werden ein Konzert von Tortoise in Frankfurt und Bücher, darunter Oleg Jurjews Roman "Die russische Fracht" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 26.08.2009

Samuel Herzog bestaunt im Wiener Museum für Angewandte Kunst das Hamzanama, das illustrierte Heldenepos von Amir Hamza aus der Zeit des Moguls Akbar der Große: "Mehr als hundert Künstler aus ganz Indien kamen zusammen, um unter der Leitung von Meistern der persischen Miniaturmalerei in einem gänzlich neuen Stil ein Konvolut aus 1400 Blättern zu schaffen, eines kostbarer und prächtiger illustriert als das nächste."

Weitere Artikel: Georg-Friedrich Kühn berichtet von dem von Nike Wagner geleiteten Kunstfest Weimar. Mit Grauen blickt Joachim Güntner auf Kölns Kulturkahlschlagspläne.

Besprochen werden eine Ausstellung über den amerikanischen Gründervater Thomas Paine in Washingtons National Portrait Gallery, Shmuel Feiners Biografie des Aufklärers Moses Mendelssohn, Taras Prochaskos Band "Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen" und Val McDermids Krimi "Nacht unter Tag" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 26.08.2009

Israel fordert eine Entschuldigung von Schweden, weil eine Boulevardzeitung behauptet hatte, israelische Soldaten hätten im Gaza-Krieg die Leichen von Palästinensern ausgeweidet, um mit ihren Organen zu handeln. Nun inszenieren auch die Israelis ihren Karikaturenstreit, meinte dazu Malte Lehming im Tagesspiegel. Das Blog Lizas Welt sieht es anders: "Beim 'Karikaturenstreit' ging es um zwölf Zeichnungen, die sich mehr oder weniger humorvoll mit dem islamistischen Terror beschäftigten, dessen mörderische Existenz nun mal nicht von der Hand zu weisen ist. Boströms Aftonbladet-Beitrag hingegen käut mit vollem Ernst die uralte antisemitische Ritualmordlegende in modernisierter Form wieder... Schon angesichts dieser schwer wiegenden inhaltlichen Unterschiede ist Protest nicht gleich Protest, Streit nicht gleich Streit und Vorwurf nicht gleich Vorwurf."

Welt, 26.08.2009

Das beste Stück über den Kapitalismus bleibt für Matthias Heine Brechts "Heilige Johanna der Schlachthöfe", aber auch sonst sieht er das deutsche Theater ganz gut aufgestellt, um sich in der nächsten Saison mit der großen Krise zu beschäftigen: "In beiden Welten ist die Krise Dauerzustand. Weil übersteigerte Renditeerwartungen sich genauso selten erfüllen wie die Hoffnung, seinen Klassiker auf der Bühne wiederzuerkennen, werden sowohl die freie Marktwirtschaft als auch das Theater von Enttäuschten ständig für tot erklärt. Auch gibt es Parallelen zwischen Regietheater und Neoliberalismus: Beides mag das Volk einfach nicht, obwohl Journalisten ihm hartnäckig erklären, es gebe keine Alternative dazu."

Weitere Artikel: Hannes Stein fasst die amerikanischen Kritiker-Reaktionen auf Tarantinos "Inglourious Basterds" zusammen (wir berichteten hier oder hier). Gestern war Pirate Bay vorübergehend offline, Thomas Lindemann verfolgt die ins Kraut schießenden Theorien. Im Interview mit Michael Loesl erklären die als Langweiler verschrienen Coldplay, warum sie lieber wilde Musik als wilde Schlagzeilen machen wollen. Hansgeorg Schmidt-Bergmann schreibt zum Achtzigsten des Lyrikers Walter Helmut Fritz.

Besprochen werden der Struwwelpeter in der Version der Berliner Comiczeichner Fil und Atak und die ProSieben-Serie "Harper's Island".

Auf der Forumsseite erinnert der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk an den vor zehn Jahren verstorbenen Dissidenten Jürgen Fuchs.

TAZ, 26.08.2009

Das Popo-Plakat der nordrheinwestfälischen Grünen war rassistisch. Noch dümmer ist nur die Art, wie die Grünen, die das Plakat nach Protesten zurückgezogen haben, jetzt abwiegeln, ärgert sich Hilal Sezgin auf der Meinungsseite. "Nach einem solchen Fehler, für den es keine Entschuldigung gibt, könnte nur eins helfen: die uneingeschränkte Bitte um Entschuldigung. Stattdessen wiegeln die Sprecher gleich doppelt ab: In einem ersten Schritt wird der Einwand, etwas sei rassistisch, als subjektive Befindlichkeit irgendwelcher Betroffenen interpretiert und deren Kritik damit herabgewertet: Menschen FÜHLEN sich verletzt oder diskriminiert, sie WERDEN es vermeintlich nicht. In einem zweiten Schritt wird die Kritik an einer spezifischen Handlung zu einer verallgemeinerten Kritik ausgewalzt - und damit die Beweislast für die Kritiker noch weiter vergrößert: 'Weder die NRW-Grünen noch die Kaarster Grünen denken oder handeln rassistisch oder sexistisch ...' Dass sie generell so handelten, hat niemand behauptet. In diesem Fall haben sie es aber nun mal getan."

Es gibt kaum Institutionen in Polen, in denen Gegenwartskunst ausgestellt wird. Das ändert sich gerade, berichtet Dominikus Müller im Kulturteil. So eröffnete 2008 "der erste wirkliche Museumsneubau in Polen seit dem Jahr 1939", das Centre of Contemporary Art Znaki Czasu, in Torun. "Das altehrwürdige Museum von Lodz etwa, das - 1930 gegründet - Europas ältestes Museum für zeitgenössische Kunst darstellt, hat soeben einen Neubau bekommen. In Warschau ist eine große Diskussion über ein repräsentatives staatliches Museum für Gegenwartskunst entbrannt, das dort gebaut werden soll. Dessen Team, zu dem die Mitgründerin der Galeria Foksal Foundation, Joanna Mytkowska gehört, macht bis zur Fertigstellung schon einmal mit dem Magazin Muzeum und einer Reihe von Veranstaltungen von sich Reden. Gdansk hat seit 2004 mit dem Wyspa Institute of Art ein schnell bekannt gewordenes Museum für zeitgenössische Kunst, und in Poznan plant eine der wenigen Großsammlerinnen Polens, Grazyna Kulczyk, mit dem japanischen Stararchitekten Tadao Ando das erste private Museum Polens."

Weiteres: Josef Winkler liefert in seiner "Zeitschleife" fünf Minuten Schmalspureskapismus. Besprochen werden Jette Steckels Dramatisierung von Ilija Trojanows Roman "Die Welt ist groß und Rettung lauert überall" in Salzburg und das neue Album der Arctic Monkeys.

Schließlich Tom.

FAZ, 26.08.2009

Mark Siemons ist nach Taipeh gefahren und hat mehrere taiwanesische Intellektuelle getroffen, um über das Land, das "zwischen allen Stühlen sitzt", zu sprechen. Die Situation scheint bei allen Widersprüchen eher entspannt: "Bei Umfragen sieht sich heute eine überwältigende Mehrheit als Taiwaner und nicht etwa als Chinesen, doch zugleich ist der Anteil derer, die eine formelle Unabhängigkeitserklärung von China befürworten, auf zwanzig Prozent gefallen. Das hat gewiss mit der Kriegsdrohung aus Peking zu tun - und mit den massiven Warnungen Washingtons vor einer Abänderung des Status quo -, aber auch mit einer größer gewordenen Gelassenheit im Umgang mit Traditionselementen jenseits von politischen Zuschreibungen."

Weitere Artikel: In der einen Glosse kommentiert Tobias Rüther die der Weltöffentlichkeit bekannt gegebenen Urlaubslektürepläne von Barack Obama. In der anderen Glosse bekennt Frank Schirrmacher: "Ich war dabei" - nämlich bei der umstrittenen Ackermann-Fete im Bundeskanzleramt. Hingerissen berichtet Jan Brachmann aus dem Park Altenstein, wo nun eine Gedenkstätte an Johannes Brahms erinnern soll. Wie der Hamburger Künstler Boran Burchhardt ein Minarett zum Kunstwerk gestaltet, darüber informiert Iris Wenderholm. Gemeldet wird, dass auch die Berliner Akademie der Künste durch das Google Books Settlement bedrohliche "rechtsfreie Zonen" im Internet entstehen sieht. Rüdiger Volhard schreibt zum Tod des Anwalts Manfred Schiedermair.

Besprochen werden ein vom rumänischen Regisseur Silviu Purcarete auf zwei Stunden gekürzter "Faust" (beide Teile!) beim Theaterfestival in Edinburgh, das Abschiedskonzert des Beaux Arts Trio im Leipziger Gewandhaus, Davis Guggenheims Musik-Doku "It might get loud" und Bücher, darunter die dreibändige Ausgabe des Werks von Walter Helmut Fritz (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 26.08.2009

Joachim Kaiser wendet sich gegen eine Äußerung der ZDF-"Vorleserin" Amelie Fried, die davor warnte, das Literaturpublikum im Fernsehen mit allzu spitzfindigen Diskussionen zu belästigen: "Einst war das Medium ehrgeiziger. Noch in den sechziger und siebziger Jahren konnten vielstündige Gesprächssendungen, falls sie interessanten, kontroversen Gegenständen galten, im Kultur-Fernsehen stattfinden."

Weitere Artikel: Bernd Graff greift die Rede Udo Di Fabios über die freie Presse und die Gefährdung des bürgerlichen Individuums durch das Internet auf, ist aber nicht einverstanden. David Steinitz meldet, dass nach der deutschen auch die amerikanische Wikipedia einen "Lektoren"-Status für bestimmte ihrer Autoren einrichtet. Florian Kesseler lässt hundert Jahre Jugendherberge Revue passieren. Alexander Kissler liest NPD-Comics, mit denen die Jugend vor der Wahl propagandistisch aufgewühlt wird. Stephan Speicher wohnte der Eröffnung des Antikenkongresses in Berlin bei und bringt eine gute Nachricht mit: "Das Historische und das Schöne, genauer: das Kunstschöne, gehören in der Antike zusammen." Thomas Steinfeld gratuliert dem Dichter Walter Helmut Fritz zum Achtzigsten. Egbert Tholl besuchte einen Arienabend in Salzburg und musste nach dreißigminütigem Jubel und mehreren hohen Cs konstatieren: "Juan Diego Florez sitzt in der Belcanto-Falle."

Besprochen werden die Ausstellung "Das Libretto - Vom kleinen Buch zur großen Oper" in Zürich, Nick Cassavetes' Film "Beim Leben meiner Schwester" und Bücher, darunter Ben Katchors Comic "Der Jude von New York" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).