Heute in den Feuilletons

Die Loyalität, die Bereitschaft mitzumachen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.05.2010. Die taz begrüßt den deutsch-ivorischen Kulturaustausch. In der Welt erklärt der Freejazzer und Musiklobbyist Dieter Gorny, warum er den Jazz so sehr mag, dass er eine Echo-Gala für ihn organisiert. In der FR spricht der Historiker Michael Wildt über die Neupräsentation der "Topografie des Terrors" in Berlin. Die SZ bringt letzte Aufwallungen der Popkritik gegen das Internet und eine Theorie des katholisch-evangelischen Theologen Klaus Berger zur Missbrauchsbewältigung.

TAZ, 04.05.2010

Christiane Kühl betrachtet mit Wohlgefallen den Kulturaustausch zwischen ivorischen und deutschen Künstlern beim Festival Rue Princesse in Abidjan: "Vom Rest der Welt wahrgenommen zu werden, ist in Afrika wichtiger, als wir es uns mit unserer politisch korrekten Angst vor dem eurozentristischen Blick vorstellen können. Kulturschaffende sind extrem stolz auf ihr Land, das Schriftsteller wie Ahmadou Kourouma und Popmusiker wie Alpha Blondy hervorgebracht hat. Von Fußballstars wie Drogba ganz zu schweigen. Dass im Rahmen des Festivals überhaupt weißes Publikum auf die Rue Princesse kommt, wird als Auszeichnung begriffen und in den Clubs stets mit den allerbesten Plätzen vergolten. Eine Aufwertung, die die europäischen Gäste sowohl angesichts des Gebotenen wie auch der Geschichte natürlich als völlig unangemessen empfinden, aber 'richtiges' Verhalten ist im fremden Kontext gleichermaßen schwer."

Stefan Reinecke war bei einem von Milli Görüs veranstalteten Symposium über Identität in Wuppertal. Mit dabei: der britische Islamforscher Hisham A. Hellyer, der Kulturanthropologe Werner Schiffauer und die Psychologin Birgit Rommelspacher, die alle drei antimuslimische Bewegungen in Europa beklagten. "Diese Kritik herrschender Diskurse stammt aus dem Fundus linker und libertärer Theorien", schreibt Reinecke. "Offenbar ist sie verwendbar, um die Anerkennungswünsche konservativer religiöser Gruppen wie Milli Görüs zu untermauern. Vieles ist dabei durchaus einleuchtend, die Ausgrenzung, die wortreich beklagt wurde, keine Erfindung. Allerdings hat diese Kritik einen blinden Fleck. Es ist eine Rhetorik der Selbstviktimisierung, in der die Muslime nur Opfer sind. Wer aber auf den Marktplatz geht, muss auch riskieren, mal Unerfreuliches über sich zu hören. Doch die Rolle des Kritikers des konservativen Islams war, der Einfachheit halber, in Wuppertal nicht besetzt."

Weitere Artikel: Micha Brumlik weist anlässlich der Kritik am Amtseid von Aygül Özkan - "So wahr mir Gott helfe" - darauf hin, dass der in der Präambel des Grundgesetzes genannte Gott nicht zwangsläufig ein christlicher sein muss. Cristina Nord kann Roman Polanskis Appell, ihn nicht an die USA auszuliefern, nichts abgewinnen: Wer ihn entlastet, müsste bei "Priestern und Pädagogen, die Kinder und Jugendliche zu sexuellen Handlungen nötigten, genauso verfahren", meint sie. Ulrike Winkelmann versucht zu ergründen, warum die Frauen bei der Grünen Jugend "ungewöhnlich früh" - heißt hier mit unter 30 - Nachwuchs bekommen und stellt fest: Es liegt an der Quote. Besprochen wird eine Retrospektive des Künstlers Uwe Lausen in der Frankfurter Schirn.

Und Tom.

Welt, 04.05.2010

Eigens für den Jazz, ein von vielen bereits tot geglaubtes Genre, wird demnächst eine Echo-Gala mit Preisen in 31 Kategorien organisiert. Josef Engels unterhält sich mit dem einstigen Freejazzer und heutigen Musikindustrielobbyisten Dieter Gorny, der sich freut, dass im Jazz die etablierten Strukturen der Plattenindustrie noch am besten erhalten sind: "Das Label ist nicht nur ein Transporteur in den Laden, sondern durch seine bewusste Ansammlung von Künstlern steht es ja auch immer für eine bestimme Form von Musik. Deshalb ist es wiederum für Künstler wichtig, bei diesem oder jenem Label zu sein. Und da stimmt ja auch die Mär von dem unendliche Möglichkeiten bietenden Internet nicht, auch im Jazz nicht. Wenn Sie als Musiker in dieser unendlichen Datenflut drin sind, muss Sie auch jemand rausholen und sagen: Guckt mal. Dafür brauchen Sie traditionelle Medien."

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr besucht die Bauerntochter und von Martin Walser geförderte Schriftstellerin Maria Beig, die gerade neunzig Jahre alt geworden ist, am Bodensee. Uwe Wittstock unterhält sich mit mit dem ehemaligen Intendanten der Kölner Oper und heutigen Lissabonner Opernchef Christoph Dammann über die Auswirkungen der Krise in Portugal. Paul Jandl glossiert Proteste der kleinen österreichischen Gemeinde Hallstatt gegen ein von den Autoritäten des Landes gewünschten Status als Unesco-Kulturerbe mit dem daraus folgenden Bürokratismus. Dankwart Guratzsch gratuliert der Deutschen Stitung Denkmalschutz zum 25.

Besprochen werden das Tanztheaterstück "Babel" in Brüssel, Ausstellungen des deutschen Impressionismus in Weimar und Köln, ein Konzert von Rihanna in Berlin und eine deutsche Übersetzung des "Hagakure", des Ehrenkodex der Samurai.

NZZ, 04.05.2010

Andreas Ernst erinnert an den vor 30 Jahren gestorbenen Tito. Marc Zitzmann berichtet über den Umzug des Pariser Manuskript-Museums.

Auf der Medienseite analysieren Roger Blum und Marlis Prinzing am Beispiel des - jetzt eingestellten - Schweizer Zweigs der AP die Lage der Nachrichtenagenturen, und ras. redet anlässlich des Tages der Pressefreiheit "in medias res".

Besprochen werden Martin Schläpfers Choreografie von Morton Feldmans Oper "Neither" mit in Düsseldorf, ein Ligeti-Abend mit dem Keller-Quartett in der Tonhalle in Zürich und Bücher, darunter Julian Barnes Band "Nichts, was man fürchten müsste" und eine neue Edition der Schriften Walter Benjamins (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 04.05.2010

Harry Nutt rekapituliert fünf Jahre Holocaust-Mahnmal und die Diskussion um die Ausstellung "Topographie des Terrors". Und der Historiker Michael Wildt, der an der Konzeption mitgearbeitet hat,  erklärt im Interview, was er sich von der Ausstellung im neu eröffneten Dokumentationszentrum erhofft: "Ich finde wichtig, dass die NS-Gesellschaft dargestellt wird, nicht nur die Institutionen des Terrors, sondern die Beteiligung einer ganzen Gesellschaft, auf ganz unterschiedliche und vielerlei Weise, an den Verbrechen. Das Profitieren auch vieler kleiner Leute vom Raub jüdischen Vermögens bis hin zu dem Machtgefühl, das selbst Arbeiter haben konnten, wenn sie Zwangsarbeiter unter sich kommandieren konnten."

Gehässig kritisiert Daniel Kothenschulte Roman Polanskis Verteidigung, die auf der Website des "französischen Publizisten Berhard-Henry Levy" (sic!) veröffentlich wurde, als lächerlich: "Für den nationalistischen Kulturkritiker Levy, der sich gegenwärtig vor allem gegen eine angebliche Islamisierung Europas wehrt, ist die Öffentlichkeit ein Schlachtfeld, in dem Kampagnen mehr zählen als Argumente, und so sieht sich auch Polanski als Opfer einer Kampagne." (Hier die deutsche Übersetzung von Polanskis Appell an die Schweizer Behörden, ihn nicht an die USA auszuliefern.)

Außerdem: Thomas Winkler berichtet über das Comeback von Hole-Sängerin Courtney Love.

Besprochen werden Vera Nemirovas "Rheingold"-Inszenierung an der Frankfurter Oper (sehr gelobt von Hans-Jürgen Linke), eine Ausstellung mit Fotografien aus Leipzig in den Rüsselsheimer Opelvillen, die Aufführung von Joanna Murray-Smiths Boulevardkomödie "In allen Ehren" im Frankfurter Fritz-Remond-Theater und Patricia Dunckers Krimi "Der Komponist und seine Richterin" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 04.05.2010

Alles in allem hat sich die Katholische Kirche bei den Missbrauchsfällen korrekt verhalten, meint der katholische (oder war er evangelisch?) Theologe Klaus Berger: "Das, was dem Außenstehenden als Vertuschung erscheint, war eine solche keineswegs generell. Es gab mindestens einen Beauftragten der deutschen Bischöfe, der jeden Tag bis in die Nacht hinein mit der Sorge um die 'Täter' befasst war und gegen die Wiederholungsgefahr kämpfte. Die Irritation, die freilich keinem Außenstehenden erklärt wurde und die nun die Menschen hysterisch macht, besteht darin, dass man bis vor kurzem Pädophilie für heilbar hielt."

In kurzen Auszügen dokumentiert wird ein Ende April hier gehaltener Vortrag des Popkritikers Chris Weingarten (@1000timesyes). Darin spricht sich Weingarten ganz vehement gegen die Gleichförmigkeit algorithmenbasierter Musikempfehlungen (z.B. hypemachine) aus und plädiert für einen entdeckungshungrigen Musikjournalismus: "Nehmt euch eine Stunde Zeit, hört euch einen Radiosender an, der euch kein statistisch berechnetes Programm auftischt, kauft ein Magazin, ladet euch ein Album herunter, von einer Band, von der ihr nur den Namen kennt. Aber lasst Mathematik nicht über euren Musikgeschmack entscheiden." Ein Video des Vortrags gibt es hier.

Weitere Artikel: Am "selbstzufriedenen Kratzen im Genitalbereich" macht Karl Bruckmaier fest, was im Gegenwartscountry schief zu gehen droht (weit weniger zu kratzen scheinen sich die leuchtenden Gegenbeispiele John Hiatt und Delbert McClinton). Im Gespräch erläutert Susanne Gaensheimer ihre Entscheidung, Christoph Schlingensief zur Biennale 2011 den Deutschen Pavillon in Venedig bespielen zu lassen.

Besprochen werden zwei Verfilmungen von Büchern des Schriftstellers Nicholas Sparks, eine "Rheingold"-Inszenierung von Vera Nemirova an der Frankfurter Oper (mehr), gleich drei Picasso-Ausstellungen in New York (im Metropolitan Museum, im Moma und in der Marlborough Gallery) sowie Bücher, darunter das neue Heidegger-Jahrbuch, das neue Erkenntnisse über das geistige Verhältnis des Philosophen zum Nationalsozialismus verspricht (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 04.05.2010

Es ist wieder an der Zeit für einen großen Stadtschlossmahnartikel. Was genau da gebaut werden wird, steht derzeit, so Andreas Kilb, so ziemlich in den Sternen: "Wenn Peter Ramsauer seinen Staatssekretär Ferlemann öffentlich erklären lässt, das Gebäude sei auch ohne Barockfassaden 'machbar', gibt er damit zu erkennen, dass er die Dialektik von architektonischer Form und staatlicher Funktion noch nicht begriffen hat. Ohne Fassade bliebe das Schloss ein Ding ohne Namen. Es wäre ein Zeichen, aber eines der Unfähigkeit der deutschen Politik, geschichtliche Zeichen zu setzen." Der Artikel schließt mit dem Aufruf an Angela Merkel, jetzt doch mal ein Machtwort zu sprechen.

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld über die Ausladung des dänischen Karikaturisten Kurt Westergaard aus der ZDF-Sendung "Markus Lanz" (mehr dazu im Tagesspiegel): "Ich hätte nicht gedacht, dass ein so großer Sender einknickt und Selbstzensur übt", wird Westergaard zitiert.

Weitere Artikel: Vom hochkarätig besetzten PEN-Literaturtreffen in New York berichtet Jordan Mejias und zitiert unter anderem Christopher Hitchens, der die Feigheit und Selbstzensur angesichts islamistischer Drohungen kritisierte: "Die Fäulnis verbreitet sich." Richard Kämmerlings glossiert indische Pläne, Chilischoten als tränengasartige Waffen zum Einsatz zu bringen. Jürg Altwegg liest in französischen Zeitschriften Essays über Pierre Bourdieu und den Algerienkrieg sowie über das Nachleben der Meisterdenker. Er kommentiert auch Roman Polanskis offenen Brief, und zwar als "bisher geschicktestes Plädoyer" für die Verschonung des Regisseurs. Ein wenig konsterniert muss Martin Otto feststellen, dass das Thema "Datenschutz" aus einem hessischen Jura-Lehrbuch mit Ausnahme einer kurzen Erwähnung im Polizeirecht komplett gestrichen wurde.

Besprochen werden der Auftakt zum von Vera Nemirova inszenierten, von Sebastian Weigle dirigierten Frankfurter "Ring" ("insgesamt unentschlossen" findet Julia Spinola die Deutung), Volker Löschs Stuttgarter "Titus Andronicus"-Inszenierung, eine Herta-Müller-Ausstellung im Literaturhaus München, die Vanitas-Ausstellung "C'est la vie" im Pariser Musee Maillol, und Bücher, darunter Marcel Mörings Roman "Der nächtige Ort" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).