Heute in den Feuilletons

Hippiehall, Haschischhall, Geisterhall

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.04.2011. In der Welt protestert der chinesische Autor Ma Jian gegen die Inhaftierung Ai Weiweis. Die Berliner Zeitung liest chinesische Propagandaäußerungen zu Ai Weiwei. Die FR beklagt den Konkurs des Philadelphia Orchestras. Und Neues von den Öffentlich-Rechtlichen: ARD und ZDF werden die Hochzeit des Prinzen William parallel übertragen, und die GEZ wird noch fetter.

Welt, 19.04.2011

Der chinesische Autor Ma Jian kommentiert auf der Forumsseite Ai Weiweis Inhaftierung: "Die entsetzliche Nachricht... lässt mich erneut über Ais 100 Millionen handbemalte Sonnenblumenkerne aus Porzellan nachdenken, die zurzeit in der Londoner Tate Modern ausgestellt werden. Das chinesische Volk, so scheint es Ais Installation zu implizieren, ist wie die Millionen von Samen, die in der riesigen Eingangshalle der Tate Modern ausgestreut worden sind. Es kümmert niemanden, ob sie Erniedrigungen ausgesetzt sind oder auf ihnen herumgetrampelt wird"

Im Feuilleton berichtet Ulrich Weinzierl, dass Peter Stein in Petersburg den Europäischen Theaterpreis bekommt. Harald Peters glossiert Gerüchte, dass sich Madonna, nachdem sie mit einem dubiosen Rabbi gebrochen hat, nun mit dem Opus Dei flirte. Und Manuel Brug unterhält sich mit dem Bassisten Rene Pape, der eine neue Recital-CD vorlegt.

Besprochen werden Stücke von Feridun Zaimoglu und Rainald Goetz an den Münchner Kammerspielen.

NZZ, 19.04.2011

Bernard Imhasly berichtet vom indischen Streit um den womöglich schwulen Gandhi und das Verbot von Joseph Lelyvelds entsprechender Biografie. Alexandra von Arx stellt die Spoken-Word-Gruppe "Bern ist überall" vor. Sven Siedenberg war auf dem Münchner Theaterfestival "Radikal jung".

Besprochen werden die Berliner "Wozzeck"-Inszenierung von Andrea Breth und Daniel Barenboim, ein Beethoven-Konzert mit Mariss Jansons und Mitsuko Uchida; Giacomo Leopardis "Operette morali" im Theater Turin, Najem Walis Roman "Engel des Südens und Lorrie Moores Roman "Ein Tor zur Welt" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Berliner Zeitung, 19.04.2011

Bernhard Bartsch liest chinesische Propagandaäußerungen zu Ai Weiwei: "Während andere Regimekritiker wie Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo totgeschwiegen werden, lanciert man systematisch kompromittierende Nachrichten über Ai. So verbreiteten die von Peking finanzierten Hongkonger Blätter Wen Wei Po und Ta Kung Pao Gerüchte über Ais Privatleben und warfen dem unter anderem für Aktfotos bekannten Künstler vor, im Internet Pornografie verbreitet zu haben. Zudem gebe es 'hinreichende Beweise für Steuerhinterziehung'."

Im Interview auf der Medienseite hat ZDF-Chefredakteur Peter Frey kein Problem damit, dass ARD und ZDF die Hochzeit des Prinzen William gleichzeitig übertragen: "Das ist das Ereignis des Jahres."

TAZ, 19.04.2011

Sabine Leucht berichtet vom Theaterfestival "Radikal jung" ("Hier begegnet garantiert jeder seinem persönlichen 90-er-Jahre-Schrecken wieder"). Oranus Mahmoodi war beim Hamburger Pop-Kongress "Operation Ton" (Johanna "Zeul lebt auf eigenen Beinen von ihrer Kunst - so auch die Sängerin Bernadette Hengst"). Claudia Lenssen resümiert das Frauenfilmfestival in Dortmund. Jan Scheper stellt die Internetsendung "TV Noir". Klaus Staeck weiß auch nicht, was man in Sachen Ai Weiwei tun soll.

Besprochen wird Silke Scheuermanns Roman "Shanghai Performance" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 19.04.2011

Jürgen Otten beklagt den Konkurs des ehrwürdigen Philadelphia Orchestra (14,5 Millionen Dollar Defizit bei einem Budget von 46 Millionen) und macht das System privater Spenden dafür verantwortlich, das mit der Finanzkrise ins Stocken geriet: "Ist der Gönner spendabel und liquide, läuft der Laden luxuriös. Ist er eines von beidem nicht, läuft der Laden voll. In Philadelphia war der laut einem Bericht des Philadelphia Inquirer bedeutendste Gönner der Stadt, die Pew Charitable Trusts, nicht länger bereit, das malade Orchester finanziell aufzufangen.

Weiteres: Jens Balzer vermerkt die Rückkehr des Halls in den Pop: "Hippiehall, Haschischhall, Geisterhall." Online gemeldet werden die Pulitzer Preise, von denen einer in diesem Jahr auch an das gemeinnützige Recherche-Portal ProPublica ging.

Besprochen werden Guy Cassiers' "Walküre" im Berliner Schillertheater ("So geht es nicht", meint Jürgen Otten), Bastian Krafts Inszenierung des "Bildnis des Dorian Gray" beim Münchner Festival "Radikal jung", Pascal Touzeaus getanzte Michelangelo-Hommage "Heaven?s Sky", Hermann Kinders Textcollage zu Berthold Auerbach "Einst fast eine Weltberühmtheit" und Parag Khannas Schrift "Wie man die Welt regiert" (Mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 19.04.2011

Die chinesischen Behörden glauben, bei ihnen sei eine Jasmin-Revolution in Gange, schreibt Cory Doctorow bei BoingBoing, mit Hinweis auf John Robbs Blog Global Guerillas: "Anonymous international bloggers have been writing in Chinese about a 'Jasmine revolution' in China, calling on Chinese people to show their discontent for local corruption by going to places that are normally crowded and walking around, not doing anything special. The Chinese authorities freaked out and blocked these sites, and most people in China have never heard of them -- but because people keep turning up and walking around in the normally crowded places, the politburo is convinced that the Jasmine Revolution is in full swing."

(Via hemartin) Der FAZ-Redakteur "Dr." Michael Spehr erklärt auf seinem privaten Blog, warum Medien in Deutschland keine medienübergreifenden Angebote wie flipboard akzeptieren werden, auf denen sich Nutzer ihre Feeds verschiedener Medien selbst zusammenstellen: "Zuletzt twitterte Christoph Keese vom Spinger-Verlag: 'Flipboard holt 50m$ frisches Geld auf Basis einer Bewertung von 200m$. Kein Cent geht an die Inhaber der Rechte, die den Grundstoff liefern.' (@ChristophKeese). Weitere Ausführung in Richtung Leistungsschutzgeld erspare ich mir hier."

Zahi Hawass, umstrittener alter und neuer Minister für Altertümer in Ägypten, wurde wegen Korruption zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, meldet Maggie Koerth-Baker mit Verweis auf weitere Quellen bei BoingBoing.

Sehen Sie nur, was Google Demand Media angetan hat! Seit die Suchmaschine im Februar angefangen hat, ihren Suchalgorithmus umzustricken, sind die Klicks in den Keller gerauscht wie nichts gutes, berichtet Ryan Tate bei Gawker. "The ramifications go beyond Demand. How many Google tweaks would it take, for example, to pummel the stock of AOL, which is reshaping itself around Google friendly content?"

SZ, 19.04.2011

Thomas Steinfeld macht bei den siegreichen Rechtspopulisten in Finnland, den "Wahren Finnen", einen "Willen zu einer neuen Nationalromantik" aus, "mit Überhöhungen bis weit ins Skurrile hinein. Sie erweist sich schon am Namen der Partei, der, korrekt übersetzt, nicht die Wahren Finnen, sondern die Gewöhnlichen Finnen heißen müsste und an einen gemeinsamen Urgrund im Volk oder in den 'lokalen Kulturen' (Jussi Halla-aho) appelliert".

Weitere Artikel: Henning Klüver zitiert italienische Reaktionen auf Nanni Morettis neuen Film "Habemus Papam" (mit Michel Piccoli in der Rolle des Papstes). Gemeldet wird, dass der ägyptische Chefarchäologe Zahi Hawass wegen Missachtung eines Urteils zu einem Jahr Zwangsarbeit verurteilt wurde. Johan Schloemann gratuliert dem Historiker Jürgen Kocka zum Siebzigsten. Tanjev Schultz liest eine wenig überzeugende Selbstrechtfertigung des Reformpädagogen Hartmut von Hentig in der Zeitschrift Akzente.

Besprochen werden eine Ausstellung des Malers Carlfriedrich Claus in Berlin, Arthur Schnitzlers "Professor Bernhardi" in der Regie Dieter Giesings am Wiener Burgtheater, Wagners "Siegfried", inszeniert von Barrie Kosky, in Hannover, die große Manet-Ausstellung im Pariser Musee d'Orsay, eine Choreografie von Constanza Macras an der Berliner Schaubühne und Bücher, darunter Abbas Khiders Roman "Die Orangen des Präsidenten" und Richard Wagners neuer Roman "Belüge mich".

Auf der Medienseite berichtet Claudia Tieschky, dass die GEZ durch die Umstellung der Fernsehgebühren auf die Haushalte keineswegs schrumpfen, sondern wachsen wird: von 1150 auf 1400 Mitarbeiter, zumindest vorerst.

FAZ, 19.04.2011

Die GEZ will vierhundert neue Mitarbeiter einstellen, um in Betrieben und bei Behinderten nachzuforschen, wieviel Zwangsgebühren sie künftig zahlen sollen, berichtet Michael Hanfeld auf der Medienseite: "Eine Volkszählung ist nichts dagegen. [...] Bemerkenswerterweise weiß niemand mit Sicherheit vorherzusagen, wozu die Gebührenreform, die rechtlich so fragwürdig wie grundstürzend ist, wirklich führt. Unsere Wette: zu mehr Gebühren und zu einer dauerhaft fetteren GEZ."

Im Feuilleton stellt Dirk Schümer die polemische Benes-Biografie des tschechischen Autors Jiri Grusa vor, der Benes "bei den Gartenzwergen der europäischen Geschichte" einordnen möchte (mehr dazu hier). Clementine Deliss, Direktorin des Museums der Weltkulturen in Frankfurt, beschreibt ausführlich Bau und Konzept des Museums, das kürzlich von Ulf Erdmann Ziegler kritisiert worden war. Oliver Jungen berichtet vom Frauenfilmfestival in Dortmund, das in diesem Jahr offenbar das ganze Elend dieser Welt umarmte: "Energiewende, Antirassismus, Pazifismus, Auflehnung gegen Unterdrückung in Afrika oder Südamerika, Hausbesetzungen, Aktionen gegen ein inhumanes Finanzsystem, Korrekturen am europäischen Islambild..."

Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken von Odilon Redon im Grand Palais in Paris, Michael Simons Inszenierung von Jelineks "Winterreise", eine Ausstellung der Karikaturen von Steve Bell und Jean-Maurice Bosc im Wilhelm-Busch-Museum in Hannover und Bücher, darunter Magda Szabos Roman "Die Elemente" in neuer Übersetzung (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).