Heute in den Feuilletons

Auf dieser papiernen Basis

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.08.2011. Newsweek bringt die erste deutliche politische Äußerung Ai Weiweis nach seiner Verschleppung - eine bittere Kritik an Peking. The Atlantic fragt, ob die Stimmung in China brenzliger ist als hier bekannt.  In Slate sieht Christopher Hitchens die immer bizarreren religiösen Bekenntnisse republikanischer Politiker als reines Kalkül.  Die taz kann Sarrazin doch noch was Gutes abgewinnen. Die Welt erklärt, warum die Cherokee die Nachfahren ihrer schwarzen Sklaven nicht an den Casino-Einnahmen beteiligen. Ringier kauft Literaturen, meldet Meedia.

Weitere Medien, 30.08.2011

Christopher Hitchens sieht in Slate die zunehmend bizarreren religiösen Bekenntnisse republikanischer Politiker in den USA als schieren Zynismus: "Religion in politics is more like an insurance policy than a true act of faith. Professing allegiance to it seldom does you any harm, at least in Republican primary season, and can do you some good. It's a question of prudence."

NZZ, 30.08.2011

Die Zürcher Medienforscher Otfried Jarren und Christian Wassmer haben die sozialen Medien untersucht und vermissen vor allem Klarheit und Verantwortlichkeiten bei Facebook und Twitter: "Der Verzicht auf klare Regeln und eindeutige Normen ist für die Anbieter charakteristisch. Es wird nicht klar zwischen einem Verbot, einem Gebot oder einer Empfehlung unterschieden. Selbst als Verbot aufzufassende Regeln werden nicht klar formuliert: 'Du wirst Facebook nicht verwenden, wenn du ein registrierter Sexualstraftäter bist.'"

Weitere Artikel: Ueli Bernays besucht das Jazzfestival Willisau. Joachim Güntner beobachtet, wie Amazon seine Fangarme um den Online-Buchmarkt schlingt. Gemeldet wird, dass der chinesische Dissident Liao Yiwu ein Buch mit Augenzeugenberichten des Tiananmen-Massakers 1989 plant, das nächstes Jahr erscheinen soll.

Besprochen werden Roberto Bolanos erst jetzt veröffentlichter Romanerstling "Das dritte Reich" ("zwischen dem Jargon brettspielerischer Eigentlichkeit, manisch-depressiver Disco-Kultur und dämonischer Iberienkunde", wie Andreas Breitenstein findet) und Andri Snaer Magnasons Manifest für die isländische Wasserkraft, "Traumland" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 30.08.2011

Newsweek präsentiert einen bitteren Text Ai Weiweis über Peking: "None of my art represents Beijing. The Bird's Nest - I never think about it. After the Olympics, the common folks don't talk about it because the Olympics did not bring joy to the people." Und er attackiert chinesische Funktionäre, die sich Westlern gegenüber so zivil geben: "Officials who wear a suit and tie like you say we are the same and we can do business. But they deny us basic rights."

Dazu passt James Fallows Artikel in The Atlantic, der fragt, ob die Stimmung in China vielleicht brenzliger ist, als man von außen wahrnimmt. Auf jeden Fall erfährt man hier, dass die Innere Sicherheit in China heute einen höheren Etat hat als das Militär. In Peking sieht das dann so aus: "Church meetings were disrupted. Members of 'sensitive' ethnic groups - Tibetans, Muslim Uighurs, Inner Mongolians, all of whose home districts had been scenes of ongoing protest - came in for special scrutiny. One day in March, major boulevards in Beijing suddenly were lined with older women, bundled up in overcoats and with red armbands identifying them as public-safety patrols, who sat on stools at 20-yard intervals and kept watch for disruption. They had no practical effect except as reminders that the authorities were on guard and in control."

Anonymous
haben Time Warner ein kleines Einkommenshoch beschert, berichtet Nick Bilton in der NYT. An der Guy-Fawkes-Maske - bekannt aus dem Film "V for Vendetta" - die sie bei ihren öffentlichen Auftritten benutzen, hat Warners das Copyright! "'Wir verkaufen über 100.000 dieser Masken im Jahr und sie sind bei weitem die bestverkauften Masken, die wir verkaufen', sagt Howard Beige, Vizepräsident von Rubie's Costume, einer New Yorker Kostümfirma, die Masken herstellt. 'Im Vergleich: Wir verkaufen normalerweise nur um die 5.000 andere Masken.' Die Vendetta-Maske, die bei den meisten Händlern um die sechs Dollar kostet, wird in Mexiko oder China hergestellt, sagt Mr. Beige." Mehr zum Thema bei Techcrunch.

FR/Berliner, 30.08.2011

Martin Hossbach plaudert mit Bernard Sumner über die guten alten Zeiten von Joy Division und New Order, zumindest soweit sich Sumner daran erinnert. Matthias Nöther stellt die Datenbank Musical Instrument Museums Online vor.

Besprochen werden Willy Deckers Inszernierung von "Tristan und Isolde" bei der Ruhrtriennale, Veit Helmers Liebesfilm "Baikonur", das Album "Dedication" des Dubstep-Produzenten Zomby, Axel Honneths Studie "Das Recht der Freiheit" und Ursula März' Geschichten "Fast schon kriminell" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 30.08.2011

Hannes Stein erklärt, warum die Cherokee die Nachfahren ihrer schwarzen Sklaven aus dem Stamm geworfen haben: "Es geht dabei ums Geld. Wie alle 300 Indianervölker in Amerika haben auch die Cherokee das Recht, Casinos zu betreiben und Tabak ohne Steuern zu verkaufen. Ein Cherokee hat Anspruch auf eine gesetzliche Krankenversicherung (die es für normale Amerikaner nicht gibt); die Nachkommen der Sklaven sollen diesen Luxus künftig nicht mehr genießen. Der Oberste Gerichtshof der Cherokees in Oklahoma hat diesen schändlichen Beschluss jetzt gerade bestätigt."

Hanns-Georg Rodek steht morgens um halb fünf auf, um den Filmregisseur Veit Helmer bei einem Dreh auf dem russischen Raketengelände Baikonur zu begleiten: "Zwei Riesenleinwandbilder hat er heute schon eingefangen, das Erwachen des Kolosses und den altertümlichen Charme des Kommandoraumes, und es hat keinen Euro gekostet, so wenig, wie der auf das Hirtendorf regnende Raketenmüll. In Kapchagai war das, weitere 1100 Kilometer gen Osten, wo sein Ausstatter ihm ein Dorf aus echten Raketenteilen aufgebaut hatte: "Ich weiß nur, dass sie kurz vor Drehbeginn auf ominösen Lkws kamen und gleich nach Drehschluss wieder abgeholt worden."

Weitere Artikel: Clemens Bomsdorf beschreibt Reykjaviks neues Konzerthaus mit der Fassade von Olafur Eliasson. Auf der Forumsseite bewundert Hannelore Schlaffer das erfolgreiche "Gender Marketing" von Alice Schwarzer und Charlotte Roche.

Besprochen werden die Inszenierung des "Sommernachtstraums" auf Platt am neuen Ohnsorg Theater in Hamburg und Willy Deckers buddhistische Inszenierung von "Tristan und Isolde" bei der Ruhrtriennale.

TAZ, 30.08.2011

Ein Jahr später kann Jan Feddersen Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" auch Positives abgewinnen: "Es war gut, dass Sarrazin schrieb, was er schrieb - auf dieser papiernen Basis hat sich gut streiten lassen. Und das wird auch weiter so sein. Die Debatte geht weiter. Sarrazin und seine Freunde wissen doch genau: Niemand von jenen, die sie nicht mögen, wird gehen. Sie sind da. Sie sind Deutsche. Es sind Millionen."

In der Kultur: Christian Semler berichtet von einer Diskussion über Europas Zukunft mit den beiden Goethe-Preisträgern John Le Carre und Adam Michnik. Rudolf Walther berichtet von den Erschütterungen, die der starke Franken der Schweizer Stabilitätskultur beschert. Tobias Schwartz weist auf Neuerscheinungen zu Theophile Gautiers zweihunderstem Geburtstag hin.

Besprochen werden die Blockbuster-Ausstellung "Gesichter der Renaissance" im Berliner Bode-Museum und der Roman "Gezeitenwechsel" des Südafrikaners Imraan Coovadia (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 30.08.2011

Ringier kauft die Zeitschrift Literaturen, meldet Meedia: "Der geplante Zukauf des kleinen Magazins aus Berlin würde das Portfolio von Cicero (Politik, Kultur, Wirtschaft) und Monopol (Kunst) gut ergänzen. Mehr noch als die beiden Titel ist Literaturen ein Liebhaberstück. Statt Rendite zählt für Verleger Michael Ringier in Deutschland bisher der Intellekt."

Bei Gawker beschreibt Ryan Tate die teuflische Strategie hinter dem Klarnamen-Zwang bei Google+: "Speaking at the Edinburgh International Television festival, Google chairman and former CEO Eric Schmidt said Google Plus' real names policy opens up new horizons for the company in search, video streaming, and, oh ya, promotions and financial services: 'If we knew that it was a real person, then we could sort of hold them accountable, we could check them, we could give them things, we could you know bill them, you know we could have credit cards and so forth... we can have slightly better search results if I know a little bit about who you are.... We suggest YouTube videos that you should just watch one after the other."

FAZ, 30.08.2011

Paul Ingendaay informiert darüber, dass der Agnostiker Mario Vargas Llosa seinen Lesern in El Pais verkündete, der Weltjugendtag habe sein Wohlgefallen gefunden und auch die katholische Kirche wisse er insofern zu schätzen, als sie in einer verkommenen Welt wenigstens noch ein "moralisches Gerüst" biete. Der Donaldist und Mathematiker Ernst Horst erinnert an den Naturwissenschaftsvermittler Heinz Haber, der in den USA mit Disney, dann in Deutschland als Fernsehprofessor die Welt in Richtung Atom missionierte. Darüber, was die Algorithmen aus unseren Sozialmedienäußerungen über unsere Stimmungen erfahren und warum das die Werbeindustrie sehr interessiert, denkt Jörg Wittkewitz nach. Wie es kam, dass im italienischen Aiello ein "übler Faschist" von Erdbebenhilfsgeld mit einer Büste geehrt wird, kann in der Glosse Dirk Schümer erklären.

Beim Blick in osteuropäische Zeitschriften liest Joseph Croitoru unter anderem einen Artikel über die mit den Osterweiterungen zunehmende Verländlichung der Europäischen Union. Das diesjährige Schleswig-Holstein-Musik-Festival mit seinem Türkei-Schwerpunkt bilanziert Gerhard R. Koch. Wiebke Porombka berichtet vom Erlanger Poetenfest und hat wenig übrig für den aktuellen "Anfasszwang" der Leserschaft gegenüber der Literatur. Horst Haider Munske schreibt zum Tod des Linguisten Peter von Polenz.

Besprochen werden die Ausstellung "Lumiere Noire - Neue Kunst aus Frankreich" in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, die Ausstellung "Living" des Louisiana Museum of Modern Art im dänischen Humlebaek und Bücher, darunter jubiläumsbedingte Neuerscheinungen zum 200. Geburtstag von Theophile Gautier (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 30.08.2011

Thomas Steinfeld erinnert im Aufmacher an den "nun sagen wir: minder bekannten" französischen Schriftsteller Theophile Gautier, Erfinder des Begriffs "l'art pour l'art", zu dessen 200. Geburtstag drei neue Übersetzungen in Deutschland erscheinen. Till Briegleb vermisst Ideen der in Hamburg regierenden SPD zu einer alternativer Stadtpolitik. Andrian Kreye bescheinigt Präsident Obama angesichts der historischen Mississippi-Flut von 1927 nun mit seinen Vorsichtsmaßnahmen in New York richtig gehandelt zu haben. Wolfgang Schreiber beschließt in der "Zwischenzeit" den Reigen der "Sommerfrischehochkultur 2011". Catrin Lorch unterhält sich mit den Kuratoren Matthew Higgs und Udo Kittelmann über die Frage, wie "Outsider Art" (so heißt die Kunst geistig Behinderter seit neuestem wohl) heute präsentiert werden soll.

Besprochen wird eine Retrospektive des Bildhauers Peter Wagensonner im Kloster Asbach, das von einem Film Alain Resnais' inspirierte Spektakel "Je t'aime : Je t'aime" des Schauspiels Frankfurt und Bücher, darunter Matthias Deiß' und Jo Golls Recherche "Ehrenmord - Ein deutsches Schicksal" zum Fall Hatun Sürücü.