Heute in den Feuilletons

Das könnte ihnen auch gefallen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.09.2011. In der Welt plädiert Zygmunt Bauman für die Anerkennung des palästinensischen Staates. Die FAZ grübelt, wie die Berliner Piraten jetzt die Server ihrer Wähler werden können. In der NZZ warnt Miriam Meckel: Die Algorithmen von Amazon und Google können tödlich sein. In der taz graust es Kurt Scheel vor Legoland-Denken, Luis Sepulveda spricht über die Studentenproteste in Chile. Die SZ feiert Josef Bierbichlers saftigen Debütroman "Mittelreich". Und in der arte-Mediathek kann man das Philip-Roth-Porträt sehen.

Welt, 20.09.2011

Der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman, der jüngst für Aufruhr sorgte, als er die Mauer in Jerusalem mit der des Warschauer Gettos verglich, plädiert nun im Interview mit Clemens Bomsdorf für die Anerkennung eines palästinensischen Staates: "Lasst es uns versuchen und den Palästinensern eine Stimme geben. Auch aus israelischer Sicht sollte es die bessere Lösung sein, denn zumindest haben die Palästinenser dann einen Wahl. Was sie dann machen, wird ihre Entscheidung als Staat sein. Sie werden dafür verantwortlich sein, was sie tun. Das sind sie jetzt nicht, denn sie sagen: 'Wir sind besetzt, wir können nichts tun.' Es geht hier nicht nur darum, palästinensische Wünsche zufriedenzustellen, sondern den Konflikt zu lösen."

Weiteres: Nach der Emmy-Vergabe blickt Iris Alanyali betrübt ins deutsche Fernsehprogramm, will diesmal aber nicht die Sender für so viel Unterdurchschnittlichkeit verantwortlich machen: "Das Publikum ist schuld." Der Fernsehmanager Fred Kogel meint, dass sich das Fernsehen aus interaktiven Experimenten und dem Internet sowieso raushalten soll: "Fernsehen ist genial einfach zu konsumieren. Das ist seine Stärke." Thomas von Steinaecker feiert Craig Thompsons offenbar etwas melodramatisches Comic-Epos "Habibi". Als "barocke Nummernoper" hat Lucas Wiegelmann in Hamburg den "Dion Giovanni" von Doris Dörrie und Simone Young erlebt.

NZZ, 20.09.2011

Die Medienexpertin Miriam Meckel hält ein Plädoyer für den Zufall und fürchtet die digitale Existenzweise des "Das könnte ihnen auch gefallen": "Zufall ist menschlich. Wir brauchen ihn, um unserem Leben gelegentlich eine neue Richtung zu geben, uns neue Perspektiven zu eröffnen, neue Entscheidungswege einzuschlagen. Wir brauchen ihn auch, um glücklich zu sein. Ein vorbestimmtes, vorhersehbares Leben ist nicht nur langweilig. Es ist tödlich langweilig. Im Internet sind wir derzeit auf dem Weg in dieses vorhersagbare Leben. Je mehr wir im Netz tun, desto mehr Gelegenheit schaffen wir für die Algorithmen von Google, Facebook und Co., unsere Vorlieben, Interessen und Wünsche und die daraus folgenden Handlungsweisen zu berechnen."

Online beobachtet Joachim Güntner, wie die Piraten Berlin kapern: "Eine frische Brise blähte die Segel der Jolly Roger und brachte die Galeone ihrem Opfer rasch näher. Captain Hook sah, dass der am Horizont dümpelnde, mit Subventions-Milliarden überladende Kahn der ehedem preußischen Handelsflotte eine leichte Beute versprach. Der Schriftzug am Bug, 'Berlin', tat ärmlich und war halb abgeblättert. Auf Hook wirkte er sexy. "

Weitere Artikel: Jenny Berg hat sich Elmar Goerdens Inszenierung von Alban Bergs "Wozzeck" am Theater Basel angesehen. Der Theologieprofessor Jan-Heiner Tück glaubt, dass der Papst keine einfache Deutschlandreise haben wird.

Besprochen werden Edmund de Waals Familiengeschichte "Der Hase mit den Bernsteinaugen" (hier eine Leseprobe), Karen Russells Roman "Swamplandia" über die nicht nur ökologische Krise in den Everglades und Maurice Blanchots Roman "Der Aller-Höchste", der erstmalig auf Deutsch erschienen ist (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

TAZ, 20.09.2011

Christina Meier unterhält sich mit dem chilenischen Autor Luis Sepulveda, der gerade mit "Der Schatten dessen, was wir waren" einen Kriminalroman über die Achtundsechziger-Zeit in Chile aus der Gegenwartsperspektive geschrieben hat. Sepulveda hat lange in Hamburg gelebt und lebt jetzt in Gijon, beobachtet aber die aktuelle Lage in Chile genau: "Alles, was man machen oder nicht machen kann, hängt in Chile davon ab, ob das aktuelle ökonomische Modell davon unberührt bleibt. Derzeit erleben wir dagegen in Chile mit den Studentenprotesten eine Krisensituation. Deren Forderung ist es, endlich jene Gesetze zu ändern, die man schon vor zwanzig Jahren, nach dem Ende der Diktatur, hätte ändern müssen."

Weitere Artikel: Von den äußerst konstruktiven Protesten gegen die Schließung des Teatro Valle in Rom berichtet Tom Mustroph. Zur Buchmesse beginnt Rene Hamann eine Kolumne, in der er über seine Erfahrungen mit isländischer Literatur schreibt; erste Folge: fünf Bände "Islandsagas". Jörg Sundermeier fragt sich, ob die Piraten die neuen Grünen sind, und stellt dabei fest: "In der Piratenpartei sprechen viele Stimmen, und sie sprechen durcheinander."
Besprochen wird das neue Biosphere-Album "N-Plants".

Kurzer Nachtrag: Am Wochenende hatten wir in der sonntaz das sehr lesenswerte Gespräch mit Kurt Scheel übersehen, dem zum Jahresende scheidenden Herausgeber des Merkur. Der unbestechliche, von Visionen ungetrübte Blick sei es, erklärt Scheel, der ihn und den Merkur ausmache: "Dieses naive Legoland-Denken wie in den Zeitungen oder im Bundestag deprimiert mich. Man wünscht sich dauernd was und sagt nicht, was diesen Wünschen emotional, historisch und politisch entgegensteht."

Und Tom.

FR/Berliner, 20.09.2011

Als dem modernen Individuum gar nicht so unähnlichen Mann im vielfachen Rollenwiderspruch porträtiert Dirk Pilz den Papst, der wir sind: "Indem nämlich der Papst als Pontifex berufen ist, Missionar des christlichen Glaubens zu sein, weil Mission zum Wesen des Christentums gehört, kann seine Weltpolitik nur zweierlei sein: entweder kolonialistisch oder bedeutungslos. Das eine war sie viel zu lang, aber das andere zu akzeptieren, hieße den Vatikan und damit eben auch das katholische Amtsverständnis gleichsam abschaffen."

Weitere Artikel: Vom Fotofestival in Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg (Website) berichtet Judith von Sternburg. Christian Broecking war bei der Verleihung des Deutschen Jazzpreises an Peter Brötzmann zugegen. In einer Times Mager geht es um die Kraft der Erfindung, nicht nur, aber auch in der Barockmusiktheorie. Peter Uehling erlebte mit Konzerten von Luigi Nono und Gustav Mahler die Höhepunkte des Berliner Musikfests.

Besprochen werden Doris Dörries Hamburger "Don Giovanni" ("entzieht sich" schimpft Joachim Lange, durch "alberne Belanglosigkeit und szenische Hilflosigkeit" eigentlich "einer ernsthaften Besprechung"), das "Liszt Projekt" des Pianisten Pierre-Laurent Aimard und David Simons nun mit viel Verspätung in deutscher Sprache erschienene Reportage "Homicide" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 20.09.2011

In der arte-Mediathek finden wir einen Porträtfilm über Philip Roth in voller Länge:



The Big Picture bringt eine Bilderstrecke von den Studentenprotesten in Chile.
Stichwörter: Chile, Roth, Philip, Mediatheken

Aus den Blogs, 20.09.2011

How to Be a Retronaut bringt großartige Polaroids von Anthony Perkins aus den 70ern - allein schon das erste mit Woody Allen ist Gold wert!
Stichwörter: Allen, Woody, Polaroids

SZ, 20.09.2011

Hin und weg ist Rudolf Neumaier von "Mittelreich", dem deftigen und "blutvollen" Debütroman des bayerischen Schauspielers Josef "Sepp" Bierbichler, der darin Schicksale aus 80 Jahren rund um das Wirtshaus am Starnberger See, in dem er aufgewachsen ist und wo er heute noch lebt, collagenhaft verdichtet. Das liest sich "wie ein gut recherchierter Dorfroman", doch "um im engeren Sinne als Heimatroman zu gelten, wird in Bierbichlers Buch zu häufig masturbiert, gestorben, Selbstmord verübt und das Verlangen nach körperlicher Liebe als Arterhaltungstrieb diffamiert." Der Bayerische Rundfunk ließ Bierbichler im übrigen kürzlich in drei Sendungen aus seinem Buch lesen, nachzuhören per Podcast oder direkt: Teil 1, Teil 2 und Teil 3.

Weitere Artikel: Reinhard Brembeck beleuchtet die leicht abstruse Geschichte, wie es dazu kam, dass Theaterregisseure, im Gegensatz zu anderen selbständig arbeitenden Künstlern, nicht von der Umsatzsteuer befreit werden. Christoph Haas stellt die neue Ausgabe der Comicanthologie "Spring" vor, die ausschließlich Beiträge von Frauen veröffentlicht. "Kurzweilige drei Stunden" hat Helmut Schödel bei "Perikles" im Wiener Burgtheater verbracht, zumal die 80 Rollen von gerade mal neun Darstellern gestemmt wurden. Wolfgang Schreiber führt zahlreiche Gründe für die zahlreichen "Buhs" des Premierenpublikums von Doris Dörries "Don Giovanni"-Interpreation an der Hamburgischen Staatsoper an. Jürgen Berger berichtet vom Saisonauftakt im Schauspielhaus in Zürich und Basel. In der Reihe "Verschollene Länder" stellt Burkhard Müller das einst in Zentralindien gelegene Charkhari vor. Eckart Conze hat den Nachruf auf den Historiker Peter Krüger verfasst.

Besprochen werden die Ausstellung "Cloud Cities" mit futuristischen Wohneinheiten von Tomas Saraceno im Hamburger Bahnhof in Berlin, Musik des rund um Mick Jagger versammelten Multikulturalismus-Musikprojekts "SuperHeavy", die Filme "Easy Money" (mehr) und "Hell" (mehr) und Bücher, darunter ein von Barack Obama verfasstes Kinderbuch (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 20.09.2011

Interessant am Erfolg der Berliner Piratenpartei findet Marcus Jauer am allerwenigsten den Einzug aus dem Stand ins Abgeordnetenhaus, vielmehr fragt er sich, "was eine Partei, deren Politikstil 'internetinspiriert' sein soll, im Parlament sucht, müsste ihr doch jeder Abgeordnete an sich wie eine menschgewordene Firewall vorkommen. Zumindest nach hergebrachtem Verständnis kommt er an Informationen, die andere nicht haben, hat Möglichkeiten, zu sprechen und aufzutreten, die ihn unter anderen Bürgern hervorheben. Wer die Hierarchie, die sich daraus im öffentlichen Diskursraum ergibt, aufheben will, kann sich einen Abgeordneten im Grunde nur als einen Server denken, der die Meinungen seiner Sympathisanten einsammelt, ihre Verteilung ermittelt und das Ergebnis später ins Parlament einspeist."

Weitere Artikel: Der Rechtsanwalt Dirk Wüstenberg bemängelt, dass die Genitalverstümmelung junger afrikanischer Frauen, im Gegensatz zum äquivalenten Abschneiden des Penis, juristisch nicht als "schwere Körperverletzung" eingeschätzt wird, und plädiert für eine integrative Präventivstrategie. Hannes Hintermeier blickt in die fünfzigjährige Geschichte des Deutschen Taschenbuchverlags. Wiebke Porombka informiert über die momentane Situation beim Berlin Verlag. Swantje Karich berichtet von der Kunstbiennale in Lyon, wo sie u.a. Hühnerkunst (mehr) gesehen hat. Griesgrämig berichtet Andreas Rossmann vom Saisonauftakt am Theater Bonn: Entkernt der Ibsen bei Lukas Langhoff, geknebelt der "Fidelio" bei Klaus Weise. Eric Pfeil freut sich am Konzert von Kitty, Daisy & Lewis in Köln (hier ein Auftritt bei Charlotte Roche). Kurz und knapp fällt der Nachruf auf die Übersetzerin Arianna Giachi aus.

Besprochen werden Schostakowitschs "Die Nase" am Opernhaus Zürich und Bücher, darunter Sabine Grubers Roman "Stillbach oder Die Sehnsucht" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).