Heute in den Feuilletons

Der Sieg des kapitalistischen Spaßes

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.10.2012. Einen höchst deprimierten Zustandsbericht über die deutsche Literaturkritik veröffentlicht buchreport.de: Freie Journalisten können das Genre allenfalls noch als Hobby betreiben. In der FAZ rät Salman Rushdie von Respekt vor Religionen ab. Die NZZ berichtet aus Malmö, wo der sozialdemokratische Bürgermeister nach Ausschreitungen gegen Juden sagte, er dulde weder Antisemitismus noch Zionismus.  Außerdem feiern die Feuilletons goldene Hochzeit mit den Beatles und James Bond.

Weitere Medien, 05.10.2012

Einen höchst deprimierten (und überaus lesenswerten) Zustandsbericht schreibt Joachim Leser auf buchreport.de über die Literaturkritik. Nach eine Blüte um 2000 folgte der Verfall: "Die Honorare für freie Kritiker sanken in den Hobbykeller, bei der NZZ beispielsweise innerhalb weniger Jahre auf ein Viertel der früheren Beträge. Die Regionalzeitungen haben die Literaturberichterstattung stark eingeschränkt oder gar eingestellt. Kaum eine Berufsgruppe musste in den letzten Jahren ähnliche finanzielle Einbußen verkraften wie die freien Journalisten und Kritiker. Zahlreiche talentierte Kritiker sind in den letzten Jahren vom Markt verschwunden, sie schreiben Reiseberichte, arbeiten in Verlagen, in Literatur- und Auktionshäusern."

NZZ, 05.10.2012

Der Antisemitismus in Schweden nimmt seit Jahren zu, berichtet Aldo Keel. Besonders beunruhigend sei die Lage in der Hafenstadt Malmö: "Immer wieder werden Malmös Juden für Israels Politik verantwortlich gemacht. Der sozialdemokratische Bürgermeister Ilmar Reepalu heizt die Stimmung an, etwa wenn er die jüdische Gemeinde am Holocaust-Gedenktag auffordert, sich von israelischen Übergriffen in Gaza zu distanzieren, oder wenn er in einem Interview sagt, in Malmö akzeptiere man weder Antisemitismus noch Zionismus."

Weiteres: Jürgen Tietz fragt sich beim Besuch der großen Schinkel-Ausstellung am Berliner Kulturforum: "Welche Kunstrichtung beherrschte Karl Friedrich Schinkel eigentlich nicht?" Dirk Pilz stellt beim Blick auf das Programm der Berliner Theatersaison fest: "Die Krise ist angekommen im Berliner Stadttheaterleben". Besprochen werden CDs, darunter eine zweite Einspielung András Schiffs von Bachs "Wohltemperiertem Clavier", die laut Peter Hagmann "durchaus als avantgardistisch empfunden werden" darf (hier eine Hörprobe).

TAZ, 05.10.2012

Uwe Rada berichtet über den Bietkrimi um ein berlineigenes Grundstück, den die Holzmarkt-Genossenschaft, zu der die Betreiber der legendären Bar 25 gehören, für sich entschieden hat: Nun soll an der Spree "das vielleicht aufregendste Projekt in Berlin" entstehen, "mit urbanem Dorf, Mörchenpark [sic!], IT-Zentrum, Clubs und Ateliers sowie Studentenwohnheim". Thomas Winkler staunt über den Erfolg von "Gangnam Style", einem Song des südkoreanischen Popstars Psy, der zum globalen Internet-Hit wurde.

Besprochen werden das zweite Album "Lonerism" der australischen Rockband Tame Impala, deren Musik Diederich Diederichsen "sinnlichen Imperialismus" bescheinigt, das Album "Overgrown Path" des kalifornischen Multiinstrumentalisten Chris Cohen und die Ausstellung "Wunderkammer" im polnischen Stettin, für die 12 deutsche und 11 polnische Künstler Objekte ausgewählt haben - "Thomas Kapielski zum Beispiel einen goldenen Kartoffelstampfer - signiert und datiert".

Und Tom.

Weitere Medien, 05.10.2012

Hübsches Tweet von @marcelweiss: "Auch bezeichnend, dass es in der FAZ um die Grenzen von Kickstarter geht bevor es jemals um die Potentiale ging. :) http://buff.ly/QSBX2w"

(Via Jezebel) Ikea hat in der saudiarabischen Version seines Katalogs bekanntlich Frauen durch Möbel ersetzt (und sich inzwischen dafür entschuldigt):



Aber nun haben die anonymen Blogger im Internet die Idee längst aufgegriffen und in zahllosen Variationen weiterverbreitet:


Welt, 05.10.2012

Die Welt scheint im Rahmen einer Kunstaktion heute von Gerhard Richter illustriert worden zu sein, der an die Stelle der üblichen Zeitungsfotos schlicht Privatfotos aus seinem Archiv setzte. Online gibt es davon keine Spur. Hans-Joachim Müller schreibt in einem kleinen Essay dazu: "Den Fotos, die er für diese Welt-Ausgabe ausgesucht hat, mangelt es gänzlich an Indiskretion. Ihre Privatheit ist weder Versteck noch Exhibition. Privat ist ihre Haltung, ihr Anhalten beim Zusehen, ihr stummes Verweilen beim Leben, wie es lebt vom Morgen bis zum Abend."

Weitere Artikel: Iris Alanyali meldet, dass Martin Walser einen Tagebuchband im Zug hat liegen lassen und 3.000 Euro für den Finder auslobte. Lucas Wiegelmann erzählt, was es bedeutet, dass Hildegard von Bingen von der katholischen Kirche zur "Kirchenlehrerin" erhoben wird. Uwe Schmitt erinnert an das Erscheinen der ersten Beatles-Single "Love me Do" vor 500 Jahren. Michael Pilz hört den sterilen Rock der Mormonenband The Killers. Besprochen wird der "Siegfried" der Berliner Staatsoper, der nach Manuel Brug zwar belanglos, musikalisch aber wonnevoll war.

Auf der Forumsseite schreibt Hannelore Schlaffer über das traute Bild von Ehe, das amerikanische Präsidenten gezwungen sind abzugeben. Maxeiner & Miersch beklagen in ihrer Kolumne den Umstand, dass durch Stiftungsprofessuren alle möglichen Spielarten der Esoterik an die Universitäten geraten (warum auch nicht? Schließlich wird dort auch Theologie gelehrt!)

FR/Berliner, 05.10.2012

Dirk Pilz liegt - wie bisher alle Kritiker - Corinna Harfouch zu Füßen, die in der Uraufführung von Yasmina Rezas Stück "Ihre Version des Spiels" am Deutschen Theater Berlin die Romanautorin Natalie gibt, die sich gegen die zudringlichen Fragen einer Journalistin wehrt: "... wenn diese Nathalie explodiert, wenn sie auf den Tisch haut und knalllaut schweigt, wenn sie von der Bühne marschiert und den Rotwein in sich hineinschüttet, ist alles um sie herum Bestandteil der einen unverrückbaren Nathalie-Welt. Der Leitspruch dieser Figur lautet: Ich explodiere, also bin ich. Und es gibt keine raffiniertere Explosionsspielerin als Harfouch, weil niemand sonst so viele Neben- und Hauptwege findet, eine Situation eskalieren zu lassen. Das muss man gesehen haben."

Weitere Artikel: Sylvia Staude schreibt den Nachruf auf den Mousonturm-Intendanten Niels Ewerbeck, der sich das Leben genommen hat. Außerdem gibt es zwei Seiten zu James Bond. Die Medienseite berichtet über die drohende Insolvenz der Nachrichtenagentur dapd.

Besprochen wird Stephan Thomes Roman "Fliehkräfte" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 05.10.2012

50 Jahre James Bond im Kino! Andrian Kreye konturiert aus diesem Anlass noch einmal, was Sean Connerys Auftritt seinerzeit bedeutete: "James Bond legte stellvertretend für die neue Generation der Kosmopoliten das Grauen und die Ernsthaftigkeit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den Akten. ... Da liegt dann vielleicht auch der einzige politische Kern der Reihe - der Sieg des kapitalistischen Spaßes über die Tristesse des Sozialismus." Viel kapitalistischen Spaß macht auch dieses Video, das sämtliche Double-Ohs der bisherigen Bondgeschichte aneinander reiht:



Sichtlich keinen Spaß hatte unterdessen Christian Wernicke an Obamas Auftritt beim TV-Duell zwischem dem US-Präsidenten und seinem Herausforderer: "Obamas Auftritt war miserabel", schreibt er auf der Meinungsseite, "der Präsident erschien matt, müde, mutlos. Er wirkte, als sei er gelangweilt, nicht nur vom Ritual dieser Debatte, sondern auch von jenem Amt, das er - tatsächlich? - noch gern vier Jahre behalten möchte. Schlimmer noch als der mal blasierte, mal professorale Stil aber war die Substanz: Die fehlte fast völlig beim Amtsinhaber. Er redete viel und sagte nichts." Hier gibt es einen Stream des Duells. Ob es dabei auch zum Trash-Talk kam wie zwischen Will Ferrell und Zach Galifianakis im neuen Kinofilm "Die Qual der Wahl" ist nicht überliefert.

Weitere Artikel: Sollte die "grässliche Wahrscheinlichkeit" einer Fusion der beiden Rundfunksymphonieorchester des SWR in Stuttgart und Baden-Baden wahr werden, so käme dies einer "Zerstörung von Identität, Persönlichkeit und Charakter genau definierter und darin einzigartiger Klangkörper" gleich, zürnt Harald Eggebrecht. Thomas Urban schildert die krisenbedingten Einschnitte im spanischen Kulturbetrieb. Der Musikproduzent Flying Lotus läuft Jan Kedves nach einem kurzen Plausch über Drogen (so sehe man auf DMT "Dinge, die man sich auf LSD nicht einmal ausdenken könnte", erfahren wir) einfach davon. Gemeldet wird außerdem, dass Martin Walser sein Tagebuch im Zug vergessen hat: es winken 3000 Euro Finderlohn (mehr).

Besprochen werden die Ausstellung über die "Schwarze Romantik" im Städel-Museum in Frankfurt, Ferdinand Raimunds "Alpenkönig und Menschenfeind" am Wiener Burgtheater und Bücher, darunter Paul Virilios "großer Beschleuniger" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 05.10.2012

In einem schönen Interview auf Seite 1 des Feuilletons fasst Salman Rushdie seine Sicht auf die jüngsten Rücksichts- und Islamdiskussionen zusammen. "Es wird immer zu Respekt vor irgendwelchen Gefühlen geraten und zu Umsicht, noch einmal: Dies sind Codewörter für Angst. Wir sind in ganz wenigen Ländern auf der Welt privilegiert, sagen zu dürfen, was wir wollen. Es gibt nur wenige Länder auf der Welt, in denen wir dieses Geschenk haben. Wir müssen es wertschätzen. Alle anderen wollen es, wir haben es - lasst uns uns nicht benehmen, als ob wir es nicht brauchen."

Weitere Artikel: Der Tanz befindet sich in einer akuten Krise, die ein stets rückwärts gerichteter Blick verschuldet hat, warnt Wiebke Hüster. Joachim Willeitner berichtet über zahlreiche Vandalismen von Salafisten in Tripolis: "Nachdem sie auf dem demokratischen Weg gescheitert sind, versuchen die Salafisten nun, ihre Ideologie mit Gewalt durchzusetzen." "James Bond lässt das moderne Versprechen der Beschleunigung der Verhältnisse weiterleben", hält Niklas Maak zum 50. Bond-Kinojahr den "öden Traktaten über eine notwendige Entschleunigung der Welt" entgegen. Christian Wildhagen freut sich nach den Schostakowitsch-Tagen in Gohrisch über "neue Durchblicke". Paul Ingendaay informiert über die Kürzungen im spanischen Kulturetat. Lorenz Jäger schreibt den Nachruf auf den Romanisten Karlheinz Barck.

Das traditionelle TV-Duell der US-Präsidentschaftskandidaten hat seine privilegierte Position längst verloren, stattdessen biete es nur mehr den Anlass für einen "Wust von Medienmüll", konstatiert Jordan Mejias auf der Medienseite: "Das Gespräch, zu dem die Kandidaten zusammengeführt werden, ist nur ein Vorwand, um daraus Material für neue Angriffe und Verteidigungsstrategien zu gewinnen, gleichzeitig, vorher und nachher. Weit wichtiger jedenfalls als das Ereignis ist seine Verwertung."

Besprochen werden Will Ferrells Wahlkampfkomödie "Die Qual der Wahl", bei der sich Bert Rebhandl glänzend amüsiert hat, die von Daniel Barenboim dirigierte "Siegfried"-Inszenierung am Schillertheater in Berlin ("Eine Regie freilich fand nicht statt", ätzt Eleonore Büning), der Saisonauftakt in den Münchner Kammerspielen und am Residenztheater und neue Bücher über das Erwachsenwerden (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).