Heute in den Feuilletons

Etwas grobmotorisch

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.12.2013. Während Pussy Riot und Michail Chodorkowski auf Wink des Zaren amnestiert werden, werfen taz und SZ einen Blick auf die eher missliche Stimmungslage in Russland. Die Welt erlebte einen Super-GAU mit Waleri Gergijew. Der Guardian wirft einen ersten Blick auf das Projekt First Look Media, das von Pierre Omidyar finanziert und von Glenn Greenwald geleitet wird. Die FAZ erklärt, warum die Italiener mit Mistgabeln protestieren. Im Perlentaucher erschallt der Gesang der Tagtigall.

TAZ, 20.12.2013

Putin hat angekündigt, im Rahmen einer großen Amnestie auch die zwei Mitglieder von Pussy Riot und Michail Chodorkowski freizulassen. Barbara Oertel findet das schön für die Gefangenen, ist aber nicht beeindruckt: Dass die drei ausgerechnet "jetzt in den Genuss Putin'scher Wohltaten kommt, dürfte vor allem auch mit den bevorstehenden Olympischen Winterspielen im kommenden Februar in Sotschi zu tun haben. Dort, vor der Kulisse potemkinscher Dörfer, möchte Putin sich und Russland feiern lassen. Dafür werden dann auch ein paar Schwule und Lesben in Kauf genommen, die sonst täglich im Land diskriminiert, gejagt und gelegentlich auch umgebracht werden. Und auch gelenkte Proteste, die in eigens dafür abgesteckten Sonderzonen stattfinden dürfen."

In einem Spezial legen fünf Journalisten ihre Sicht auf ihre Länder - Georgien, Russland, Weißrussland, Ukraine und Moldau -, Russland und Europa dar. Als desinteressiert etwa beschreibt Svetlana Rjaschina die mehrheitliche Haltung der Russen gegenüber den Protesten in der Ukraine. "Dabei sind Politikmüdigkeit sowie die Unfähigkeit, die Vorgänge zu verstehen, spürbar. Die Ereignisse in Russland der vergangenen Jahre haben die Menschen zermürbt, eingeschüchtert und das Interesse an Protestbewegungen und den Spielchen der Politiker erlöschen lassen. Diejenigen, die Anteil nehmen, beneiden die Ukrainer sogar ein wenig."

Marie-Claude Bianco erzählt von zwei jungen Ugandern, die in ihrem christlich-konservativen Land für Verhütung, Aidsschutz und Familienplanung werben.

Besprochen werden das Album "The Forester" der norwegische Künstlerin Susanna Wallumrød, der Film "Machete Kills" von Robert Rodriguez, laut Rezensent Thomas Groh eine "überdrehte Hommage" an das Exploitationkino der siebziger Jahre sowie eine von Raphael Gross und Werner Renz herausgegebene kommentierte Quellenedition des Frankfurter Auschwitz-Prozesses zwischen 1963-1965; zu dessen 50. Jahrestag wurden überdies sämtliche erhaltenen Tonbandmitschnitte unter auschwitz-prozess.de im Netz zugänglich gemacht.

Und Tom.

Perlentaucher, 20.12.2013

Marie-Luise Knott eröffnet im Perlentaucher eine neue Lyrik-Kolumne unter dem von Morgenstern entlehnten Titel Tagtigall: In ihrem Streifzug durch das lyrische Jahr 2013 fragt sie , nicht nur in Beug auf Oswald Egger, "was geschieht, wenn man das Material der Sprache - Buchstaben, Worte, Satzgefüge - wie die Würfelpuzzle (bemalte Bauklötze) der Kindheit dreht und wendet, damit sie sich fremd näher kommen, neue Verbindungen mit sich und uns eingehen und sich zwischen uns als Eigenleben ausbreiten können."

NZZ, 20.12.2013

Andreas Ernst erzählt, dass elf Jahre nach seiner Emeritierung der niederländische Anthropologe und Universitätsprofessor Mart Bax als Schwindler enttarnt wurde, der nicht nur seine Publikationsliste, sondern auch seine Fakten gefälscht hatte: "Seine Ergebnisse, so kann man vermuten, wurden deshalb nicht überprüft, weil sie den herrschenden Vorstellungen vom Balkan entsprachen: halbarchaische Gesellschaften, die in wiederkehrenden Ausbrüchen ihre blutigen Fehden austrugen. Vielleicht noch wichtiger ist ein zweites Argument: Die Kritiker kamen lange nur aus 'dem Feld' selber. Es waren sozusagen die Forschungsobjekte, die als Priester oder Journalisten ihren Autor der fehlenden Geschichts- und Sprachkenntnisse bezichtigten. Doch das interessierte die 'scientific community' nicht. Man wusste ja von der nationalistischen Verblendung der Leute dort unten."

Weitere Artikel: Andrea Köhler beschreibt den scheidenden und den neuen Bürgermeister von New York als beide längst nicht so radikal, wie ihnen nachgesagt wird. Björn Hayer nimmt Jim Jarmuschs Film "Only Lovers Left Alive" zum Anlass über Vampire im Kino nachzudenken. Joachim Güntner erklärt, warum Neonazis eh kein Interesse mehr an "Mein Kampf" haben: zu dick.

Besprochen werden neue CDs von Anoushka Shankar und Norah Jones, Beyoncés Überraschungs-CD und Bücher, darunter zwei Bände von und über den Prager-deutschen Exilschriftsteller Johannes Urzidil (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Guardian, 20.12.2013

Das von Pierre Omidyar finanzierte und von Glenn Greenwald geleitete neue invatigative Journalismusprojekt soll First Look Media heißen, berichtet Ed Pilkington im Guardian: "The venture has revealed new details about its nascent structure. On the one hand, the journalism site - which has yet to be named - will be constituted as a nonprofit organisation with a tax-exempt 501 (c)(3) status and will have, the press release says, editorial independence. But running alongside it, a profit-seeking company will also be established that Omidyar and Greenwald are billing as a 'media technology'concern. Any profits generated by this company will go towards supporting the independent journalism."

Tagesspiegel, 20.12.2013

(Via turi2) Der Spiegel dampft seine englischsprachige Redaktion bei Spiegel Online ein, berichtet Sonja Alvarez im Tagesspiegel: "Fünf Redakteure stehen derzeit im Impressum, jetzt soll die Redaktion auf 1,4 Stellen schrumpfen, heißt es in einem Schreiben des Betriebsrats, das dem Tagesspiegel vorliegt. Betroffen seien auch die freien Mitarbeiter." Schade, es war das einzige deutschsprachige Medium, das international wahrgenommen wurde.

Welt, 20.12.2013

Der angeblich so unpolitische Dirigent Waleri Gergijew, der im Wahlkampf (wie Anna Netrebko) Putin unterstützte, hat nun in München eine Pressekonferenz gegeben, wo er seine Position zu Putins Homosexuellen-Gesetz erklären sollte. Und diese Pressekonferenz geriet laut Marco Frei zum Super-GAU: "Zu erleben waren ein selbstgerechter, bockiger, schlecht vorbereiteter Dirigent und aggressive Frager. Ein Widerspruch folgte auf den nächsten. Nur scheibchenweise bezog er Stellung, nachdem die Journalisten einfach nicht locker ließen."

Weitere Artikel: Thomas Hahn berichtet aus Paris über ein von Google betriebenes Kulturlab, in dem der Konzern Künstlern seine Technologien zur Verfügung stellt und diese jenem ihre Ideen. Berthold Seewald berichtet über eine Studie, die per Internetalgorithmen ein Ranking historischer Persönlichkeiten erstellt, mit Jesus auf Platz 1 und Hitler auf Platz 7. Der Germanist Karl-Heinz Göttert erklärt, warum es Unsinn ist, in der EU einen besseren Status von Deutsch als Amtssprache zu fordern. Elmar Krekeler liest für seine Krimikolumne Wilkie Collins' Roman "Der Monddiamant". Und der Produzent und DJ erzählt eine kleine Kulturgeschichte der brasilianischen Popmusik.

Hier ein bisschen Tristeza:



Im Forum spricht sich Henryk Broder gegen allzuviel direkte Demokratie aus.

FAZ, 20.12.2013

In Italien formiert sich unter dem Banner "Forconi", die "Mistgabeln", eine zwar politisch diffuse, aber umso wütendere Anti-EU-Protestbewegung, die in einigen Landstrichen bereits erstaunlich populär ist, berichtet Dirk Schümer: "Beunruhigend ist ... die politische Heimatlosigkeit der Protestierenden. Von den Etablierten sind die 'Forconi' restlos enttäuscht; Beppe Grillos Protestbewegung '5 Stelle' wird im Parlament als gescheitert empfunden. Und so rekrutiert sich das Gros der Protestler aus eher rechten Kreisen, die früher zur separatistischen 'Lega Nord' oder zum fröhlichen Schulden- und Spendierstaat Berlusconis tendierten."

Google ist schuld, sogar an der Theaterkrise! Enorm angefressen berichtet Andreas Rossmann von Nolte Decars in Bonn aufgeführtem Stück "Helmut Kohl geht durch Bonn", dem er prophezeit als Geburt eines neuen Genres in die Theatergeschichte einzugehen: Es handelt sich um "das Google-Drama. Nolte Decar tragen und trashen zusammen, was das Internet ... an Kalauern und Kaspereien, Jelinekigkeiten und Heinermüllereien hergibt."

Weitere Artikel: Edo Reents spricht in aller Ausführlichkeit mit Martin Meyer über Leben und Werk von Albert Camus. Jenni Roth besucht Baseballspieler auf Kuba, die behaupten, dass der Sport in ihrer Heimat erfunden worden sei. Außerdem bilanzieren die FAZ-Filmkritiker das Kinojahr 2013, während Jürgen Dollase über die Standards unter Privatköchen verzweifelt, die sich ihm unter anderem in den Kochblogs darbieten: Hier könne "man kaum einen Satz gelten lassen".

Besprochen werden neue Musikveröffentlichungen, darunter ausführlicher das neue Album von Beyoncé, Andrew Lloyd Webbers in London uraufgeführtes Musical "Stephen Ward", Philipp Löhles Bühnenadaption von Alfred Anderschs Hörspiel "Fluchtfahrer" am Schauspiel Stuttgart, die Ausstellung "Designing Modern Women" im MoMA und Bücher, darunter neue Sylvia-Plath-Veröffentlichungen (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 20.12.2013

Putin wirkt zwar aus der Ferne rücksichtslos machtversessen, doch er genießt in der Bevölkerung Russlands schlicht großen Rückhalt, berichtet Tim Neshitov in einem missmutig stimmenden Zeitbild: "Tatsächlich bastelt er, etwas grobmotorisch, an seinem geistigen Erbe. Ob nun Joachim Gauck ... nach Sotschi fliegt oder nicht, ob die Trikots der deutschen Olympia-Mannschaft an einen Regenbogen erinnern, das sind Kleinigkeiten, die an Putins langfristigem Kurs kaum etwas ändern dürften. Dieser Politiker kann sich gerade Katz-und-Maus-Spiele mit dem Westen erlauben."

Außerdem: Tim Neshitov porträtiert den türkischen Prediger und Intellektuellen Fethullah Gülen, der in der Türkei mit seinem Projekt, Islam und Moderne auszusöhnen, großen Einfluss hat. Wolfgang Schreiber porträtiert den Komponisten Hans Abrahamsen. Michael Freundt erklärt Dorion Weickmann, dass der Dachverband Tanz eine aus EU-Mitteln finanzierte Onlinedistribution für Tanzperformances unter anderem auch deshalb entwickeln will, um "junge Leute" für Tanz zu begeistern. Fritz Göttler meldet, dass die Library of Congress neue Filme in ihr Archiv aufgenommen hat (mehr dazu und eine Liste der Filme hier).

Besprochen werden eine Ausstellung von Barbara Klemms Fotografien in Berlin, Martin Heckmanns Stück "Es wird einmal" am Schauspielhaus Bochum, Nanine Linnings in Heidelberg aufgeführte Choreografie "Endless", ein von Valery Gergiev dirigiertes Strawinsky-Konzert und Bücher, darunter die gesammelten Erzählungen von Italo Calvino (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).