Magazinrundschau

Arbeiter und Müßiggänger

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
19.10.2021. Quillette erzählt, wie sich Boston Pride, eine der ältesten und bekanntesten Schwulen- und Lesbenorganisationen der USA, selbst zerlegt hat. Afar besucht die Mikronation Westarctica. Eurozine erzählt, wie Anfang des 20. Jahrhunderts Eugenik dem Sozialstaat auf die Sprünge helfen sollte. Der New Yorker erzählt die Geschichte des afroamerikanischen Kommmunisten Lovett Fort-Whiteman. En attendant Nadeau erinnert an das Massaker an Algeriern in Paris 1961. Der Surrealismus war eine zutiefst antikoloniale Bewegung, lernt die New York Times im Met Museum.

Quillette (USA), 13.10.2021

Boston Pride hat sich aufgelöst. Eine der ältesten und bekanntesten Schwulen- und Lesbenorganisationen der USA hat sich selbst aufgelöst, nach einem langen Streit um die Rolle von Transgender und BLM. Obwohl das Komitee in den letzten Jahren praktisch allen Forderungen nachkam, reichte es den QTBIPOC (Queer, Trans, Black, Indigenous und People of Color) nie, erzählt Maxwell Meyer. Sie wollten die ganze Macht. Das Ende von Boston Pride wirft für Meyer eine wichtige Frage für Aktivisten auf: "Was tun wir, wenn wir gewinnen?" Die Rechte von Homosexuelle in den USA sind heute juristisch und gesellschaftlich durchgesetzt, also versucht ein Block, so Meyer, sich durch Radikalismus neu zu profilieren: "Wenn die Rechte der Schwulen und Lesben nicht mehr radikal sind, muss die LGBT-Bewegung ihre Energie und ihre Ressourcen in Dinge stecken, die die Möglichkeit einer militanten Politik bieten - wie radikale Gender-Bewegungen, die Auslöschung des biologischen Geschlechts, Antikapitalismus, Dämonisierung Israels, extreme Formen des 'Antirassismus', Pazifismus und die Abschaffung der Polizei. Selbst Schwule und Lesben, die heute als 'privilegierte' Elite der LGBT-Bevölkerung angesehen werden, sind Gegenstand von Misstrauen und sogar Feindseligkeit. Dieser Radikalismus ist völlig losgelöst von der Realität, dass die LGBT-Bewegung fast alle ihre Ziele erreicht hat. Sogar in Bezug auf die nominell radikalen Ziele, die diese Aktivisten anstreben, ist die Einbildung, mutig und revolutionär zu sein, ziemlich dünn, da sich zeigt, dass viele dieser Ziele aktiv von progressiven Politikern, Akademikern, großen kulturellen Institutionen, Hollywood und sogar von 'woken' Unternehmen unterstützt werden. Aktivisten, die sich einreden, dass sie gegen das System wüten, sind in vielen Fällen selbst zu einem Teil des Systems geworden."
Archiv: Quillette

Afar (USA), 13.10.2021

In einem Beitrag des Magazins stellt Katherine LaGrave Mikronationen vor, Elleore vor dem dänischen Seeland, Giorgio Rosas Repubblica dell'Isola delle Rose vor Rimini und das vor 20 Jahren gegründete Westarctica, das sich unter seiner Hoheit Travis I. aka Travis McHenry dem Kampf gegen den Klimawandel verschrieben hat: "Die Westküste der Antarktis ist einer der sich am schnellsten erwärmenden Regionen des Planeten, fünfmal so schnell wie die durchschnittliche globale Erwärmung … Heute hat Westarctica 2.300 Einwohner. 500 sind sehr aktiv - spenden, nehmen an öffentlichen Kampagnen teil, um den Walfang zu stoppen, an Briefaktionen, um das Bewusstsein für den Klimawandel in der Antarktis zu schärfen, an Kundgebungen zum Klimawandel im Namen der Mikronation. 2018 war die Mikronation offizieller Partner des People's Climate Movement, um die Proteste von Rise For Climate zu organisieren. Weltweit, von Brasilien über Japan bis zur Ukraine, hat Westarctica 26 internationale diplomatische Vertreter mit dem ausdrücklichen Ziel, die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zu fördern und das Image von Westarctica im Ausland zu stärken."
Archiv: Afar

Eurozine (Österreich), 12.10.2021

Bryan Fanning hat ein Buch über drei Wege zum Sozialstaat geschrieben: Liberalismus, Sozialdemokratie und Christdemokratie ("Three Roads to the Welfare State: Liberalism, Social Democracy and Christian Democracy"). In seinem Artikel für Eurozine befasst er sich mit einem vermeintlichen vierten Weg, einst von führenden Politikern und Intellektuellen weltweit propagiert - die Eugenik: "Zu den intellektuellen Verfechtern der negativen Eugenik gehörten der Schriftsteller HG Wells, prominente Mitglieder der Fabian Society wie Beatrice und Sidney Webb, William Beveridge, der zum Architekten des britischen Wohlfahrtsstaates wurde, Pioniere der reproduktiven Rechte der Frauen wie Annie Besant und Marie Stopes und die schwedischen sozialdemokratischen Intellektuellen Alva und Gunnar Myrdal. Sie alle teilten die Überzeugung, dass Wissenschaft und Technokratie die Gesellschaft zum Besseren gestalten können, obwohl die meisten (mit Ausnahme von Wells und Stopes) keinen wissenschaftlichen Hintergrund hatten. In Großbritannien förderte die Fabian Society das Ideal einer staatlich regulierten Gesellschaftsordnung, geleitet von professionellen Experten. Die Sozialpolitik würde künftig nicht mehr versuchen, Armut, Kriminalität, Alkoholismus, Geisteskrankheit oder Illegitimität durch das im 19. Jahrhundert erweiterte System von Arbeitshäusern, Gefängnissen und Irrenanstalten zu bekämpfen. Stattdessen sollten soziale Probleme durch die Anwendung von Expertenwissen von Ärzten, Psychiatern, Akademikern, Sozialarbeitern, Kriminologen und anderen Spezialisten gelöst werden." Eugenische Gesellschaften entstanden in fast allen Ländern der westlichen Welt. "Versuche, negative Eugenik zu institutionalisieren, fielen mit der Entstehung von Wohlfahrtsstaaten mit Gesundheitsministerien oder einer gleichwertigen Infrastruktur zusammen, die eine Überwachung der sogenannten Schwachsinnigen in Schulen, Krankenhäusern und Gefängnissen möglich machte. In den USA wurde die Sterilisation von Menschen erstmals als Form der Bestrafung von Verbrechen wie der Prostitution verwendet. Das erste eugenische Sterilisationsgesetz in den USA wurde 1897 im Bundesstaat Michigan eingeführt, allerdings nicht in Kraft gesetzt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist jedoch in Kansas und Indiana die Praxis der (illegalen) Sterilisierung von 'schwachsinnigen und idiotischen' Häftlingen dokumentiert." In vielen Staaten, auch außerhalb der USA galten eugenische Gesetze teilweise bis in die Siebziger.
Archiv: Eurozine

En attendant Nadeau (Frankreich), 16.10.2021

Jean-Pierre Salgas bespricht Kora Vérons große Biografie über einen Klassiker des Postkolonialismus und Miterfinder der Idee der "Négritude": "Aimé Césaire - Configurations". Dabei stellt er auch das inzwischen berühmte Holocaust-Zitat Césaires in den Kontext, das hier mal in aller Ausführlichkeit wiedergegeben wird. Es ist ein Urdokument jener Opferkonkurrenz, die spätere Diskurse über den Holocaust vergiftet - Césaire behauptet, der Holocaust würde nur als besonders schlimmes Verbrechen wahrgenommen, weil er ein Verbrechen von Weißen an Weißen sei. Weniger bekannt ist in der deutschen Debatte, dass Césaire damit quasi die offizielle Position der Kommunistischen Partei vertrat, deren Abgeordneter er war. Ganz liest sich das Zitat über den Nationalsozialismus so: "Ja, es würde sich lohnen, das Vorgehen Hitlers und des Hitlerismus präzise im Detail zu studieren und dem sehr vornehmen, sehr humanistischen, sehr christlichen Bourgeois des 20. Jahrhunderts zu offenbaren, dass er einen Hitler in sich trägt, von dem er nichts weiß, dass Hitler in ihm wohnt, dass Hitler sein Dämon ist, dass es nur unlogisch ist, wenn er ihn schmäht, und dass, was er Hitler nicht verzeiht, nicht das Verbrechen an sich ist, das Verbrechen gegen den Menschen, die Erniedrigung des Menschen an sich, sondern dass dieses Verbrechen gegen den weißen Mann verübt wurde, dass der weiße Mann erniedrigt wurde, und dass er auf Europa die kolonialistischen Verfahren angewandt hat, die bisher nur auf die Araber in Algerien, die Kulis in Indien und die Neger in Afrika angewandt wurden." Dieses Zitat, so Salgas, stand in einer Broschüre, für die der KP-Grande Jacques Duclos das Vorwort schrieb. Erst 1956 wandte sich Césaire, wie so viele, vom Stalinismus ab.

Frankreich gedachte am Wochenende des 17. Oktober 1961. An diesem Datum hat die Pariser Polizei ein Massaker an demonstrierenden Algeriern angerichtet. Polizeichef war der schon in der Vichy-Zeit berüchtigte Kollaborateur Maurice Papon. Pierre Benetti und Pierre Tenne unterhalten sich mit Jim House, Autor eines neu aufgelegten Buchs zu diesen Geschehnissen. Auch in Algerien wurde des Massakers erst spät gedacht, weil die französische Sektion des FLN, die die niedergeschlagene Demo an diesem Tag organisiert hatte, nach der Unabhängigkeit internen Purifizierungen zum Opfer fiel: "Es ist wichtig zu verstehen, dass sich die ehemaligen Akteure der Französischen Föderation des FLN in der algerischen Gesellschaft marginalisiert und ausgeschlossen fühlen. Zugleich kehrten viele Algerier nach der Unabhängigkeit zurück, blieben in Frankreich oder wechselten hin und her. Heute gilt der 17. Oktober 1961 in den Medien als eines der Schlüsseldaten des Krieges; dieser Status wurde jedoch erst spät erlangt und geht auf die politischen Debatten in Frankreich zwischen 1980 und 2000 zurück. Der Stellenwert der algerischen Einwanderung im Kampf um die Unabhängigkeit wurde allmählich besser anerkannt, und damit auch der 17. Oktober 1961."

Tablet (USA), 18.10.2021

Es gibt keine sozialistische Strömung im Frankreich des 19. Jahrhunderts, die nicht antisemitisch war, schreibt Mitchell Abidor, ein Historiker des radikalen Denkens. Mit Ausnahme des Saint-Simonismus - aber war der ein Sozialismus oder eine säkularisierte Religion? "Die Ideologie von Saint-Simon selbst wurde von einem seiner späteren Kritiker, Friedrich Engels, in 'Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft' gut zusammengefasst: 'Bei Saint-Simon gibt es weniger einen Klassenkampf als 'einen Antagonismus zwischen 'Arbeitern' und 'Müßiggängern'. Die Müßiggänger waren nicht nur die alten privilegierten Klassen, sondern auch alle, die, ohne sich an der Produktion oder Verteilung zu beteiligen, von ihrem Einkommen lebten. Und die Arbeiter waren nicht nur die Lohnarbeiter, sondern auch die Fabrikanten, die Kaufleute, die Bankiers.'" Zum Antisemitismus in Frankreich schreibt Abidor: Er "basierte großteils auf Antikapitalismus, was nicht bedeutet, dass er sozialistisch war. Teils handelte es sich um das, was ein französischer Faschist und Kollaborateur als 'nationalen Antikapitalismus' bezeichnete. Die Umwälzungen der französischen Gesellschaft, die Verödung des ländlichen Raums, das Wachstum der Großindustrie, die Macht der Banken, die Korruption der Dritten Republik - all das wurde den Juden in die Schuhe geschoben, und zwar sowohl von den Linken als auch von den Rechten."
Archiv: Tablet

Quietus (UK), 17.10.2021



In der Tate Modern nimmt Robert Barry tapfer die Maske ab: Anicka Yis aktuell dort gezeigte Kunstinstallation arbeitet mit unterschiedlichen Düften. Konzipiert wurde sie lange bevor die Aussicht darauf, dass viele Menschen in einem geschlossenen Raum mal gemeinsam tief einatmen, zu Nachfragen geführt hätte. Zu erleben ist "ein von Woche zu Woche wechselndes Programm von Düften, die mit Blick darauf gestaltet wurden, alles von der vormenschlichen Vergangenheit bis zu einer möglichen Maschinenzukunft zu evozieren. 'Luft ist dieser aufgeladene Ort für gesellschaftlichen und politischen Diskurs', sagt Yi mit Nachdruck. 'Mit jedem Atemzug inhalieren wir die Vergangenheit der Erde... Womöglich atmen wir Atomkerne aus Jeanne d'Arcs Asche ein ... Wir sind Gefäße wechselseitiger Abhängigkeiten und damit füreinander verantwortlich.' Und da sich das olfaktoscher Menü von Woche zu Woche ändert, musste einfach jemand die naheliegende Frage stellen: Was riechen wir eigentlich gerade? 'Im Moment die Cholera', sagt Yi, ohne eine Miene zu verziehen. ... 'Viele Philosophen beziehen sich auf den Blick', schreibt Michel Serres, 'wenige aufs Hören; noch weniger setzen ihr Vertrauen auf das Taktile oder Olfaktorische.' Dem Geruch wurde lange Zeit Bedeutung abgesprochen. ... Er galt immer als zu fleischig, zu intim. Doch nachdem wir so viel Zeit zuhause in Isolation zugebracht und nur via Zoom oder Gruppenchats kommuniziert haben, sind es vielleicht gerade diese körperlichen Qualitäten, die diesem Sinn so viel Attraktivität für die Gegenwart verleihen. Man kann einen Geruch nun mal nicht herunterladen."
Archiv: Quietus

Elet es Irodalom (Ungarn), 15.10.2021

Der aus der Slowakei stammende Schriftsteller und Literaturhistoriker Pál Szász spricht im Interview mit Zoltán Szalay u.a. über die Verwendung des heimatlichen Dialekts in der Literatur. "In der Tat bin ich oft frustriert, wenn ich literarische Sprache schreiben muss. Ich habe schon in meinem ersten Buch versucht mich davon zu befreien. Obwohl ich sehr viel auf Ungarisch lese, habe ich das Gefühl, dass meine Sprache karg und ärmlich ist. Aus dem Kafka-Buch von Deleuze-Guttari stammt der Ausdruck der Deterritorialisierung der Sprache, was die Entwicklung des Sprachgebrauchs einer Minderheit ist. In Bratislava bin ich in einer Fremdsprachenumgebung, zu Hause dominiert bei uns der Dialekt. Das bedeutet nicht, dass es keine Übergänge gibt, denn Sprachen gehen organisch und flüssig ineinander über und der Mensch ist überall zu Hause und doch wird er überall ausgesperrt bleiben. Wenn ich schreiben muss, entsteht daraus immer Unzufriedenheit, weil ich die Sprache nicht plastisch genug und nicht nuancenreich anwenden kann. Also muss ich eine Sprache erfinden - beziehungsweise findet die Sprache den Autor und nicht umgekehrt - die als Notausgang dient und aus der Klaustrophobie der Ordnung herausführt."
Stichwörter: Szasz, Pal, Dialekt, Slowakei

New Yorker (USA), 25.10.2021

Als in Russland die Revolution siegte, inspirierte sie nicht nur Arbeiter weltweit, sondern auch viele Afroamerikaner. Einer von ihnen war der Schauspieler und Kommunist Lovett Fort-Whiteman, dessen Geschichte Joshua Yaffa erzählt: Fort-Whiteman, der mehrfach nach Moskau reiste und schließlich dort blieb, war als Kommunist so dogmatisch, wie es sich die sowjetische KP nur wünschen konnte. Nur in einem Punkt wichen seine Ansichten von denen der Genossen ab: Afroamerikaner wurden nicht wegen ihrer Klasse, sondern wegen ihrer Rasse unterdrückt, da war er sich sicher. "In einem Artikel im offiziellen Organ der Komintern schrieb er, dass 'der Rassenhass der weißen Massen sich auf alle Klassen der Negerrasse erstreckt'. Diese Debatte über die Rolle von Rasse und Klasse bei der Aufrechterhaltung von Ungleichheit wird bis heute von linken Aktivisten und Denkern geführt. 'Damals wie heute ist klar, dass in Amerika die Rasse die Klasse bestimmt', sagte Gilmore mir. 'Fort-Whiteman und andere diskutierten darüber, was zuerst behoben werden sollte.' Wenn Rasse ein soziales Konstrukt ist, dann könnte eine egalitäre Revolution auch als Mittel zur Erreichung von Rassengleichheit angesehen werden. Aber, so Gilmore weiter, Fort-Whiteman hatte eine andere Vorstellung: 'Selbst als überzeugter Kommunist verstand er, dass es in Amerika immer auf die Tatsache ankam, dass er ein Schwarzer war.' Im Komintern-Archiv las ich eine 'redaktionelle Anmerkung', die Fort-Whitemans Genossen später seinem Aufsatz beifügten und in der sie seine Position als 'sehr oberflächlich' beschrieben. Fort-Whiteman, so warnten sie, sei 'vom kommunistischen zum kleinbürgerlich-nationalistischen Standpunkt übergegangen'. Auf dem Sechsten Kongress der Komintern im Sommer 1928 gab es eine große Debatte darüber, wie man am besten unter Afroamerikanern für die kommunistische Revolution werben könne. Einige Leute in der Partei drängten darauf, Farmpächter und Landarbeiter im Süden zu rekrutieren. Fort-Whiteman, der als Delegierter nach Moskau zurückgekehrt war, vertrat die Ansicht, dass es besser sei, die große Migration abzuwarten und die schwarzen Arbeiter zu organisieren, sobald sie in den Fabriken des Nordens zum städtischen Proletariat geworden waren. Seine Position stimmte mit der von Nikolai Bucharin, dem Herausgeber der Prawda, überein, der den Kapitalismus im Vormarsch sah; die weltweite Revolution, so Bucharin, müsse aufgeschoben werden. Stalin war natürlich anderer Meinung." Fort-Whiteman starb im Januar 1939 im Gulag in Kolyma.
Archiv: New Yorker
Stichwörter: Gulag, Ungleichheit, Kp

Novinky.cz (Tschechien), 12.10.2021

Iva Přivřelová unterhält sich mit der bosnischen Filmemacherin Jasmila Žbanić, deren Film "Quo vadis, Aida?" über das Massaker von Srebrenica dieses Jahr viel positives Echo fand. Allerdings nicht von überall: "In Venedig haben wir uns lieber kundig gemacht, ob sich serbische Journalisten auf dem Festival befinden, um uns darauf vorzubereiten, was auf der Pressekonferenz passieren könnte, denn die meisten serbischen Zeitungen werden von der Regierung kontrolliert. Es war aber keiner da. Trotzdem erschien am Tag der Premiere eine negative Rezension in Serbien, obwohl der Schreiber den Film gar nicht gesehen haben konnte." Žbanić betont, dass alle ihre Filme von der Gegenwart handeln, auch "Quo vadis, Aida?", obwohl er zum großen Teil 1995 spielt. "Serbische Nationalisten leugnen immer noch den Genozid, was die Überlebenden verletzt und die politische Landschaft sowohl in Serbien als auch in Bosnien beeinflusst." Oft höre sie von Europäern, dass die Geschehnisse des Jugoslawienkriegs nicht viel mit dem europäischen Kontinent zu tun hätten. "Dabei sind wir alle viel mehr miteinander verbunden, als uns lieb ist. Indem wir zugelassen haben, dass es zum Massaker von Srebrenica kommen konnte (…) haben wir gleichsam die eigenen europäischen Nationalisten angespornt. Denn sie haben erkannt, dass man einen Genozid begehen kann, ohne dafür bestraft zu werden. Unlängst habe ich ein Interview mit Breivik gelesen, der all diese jungen Leute in Norwegen umbrachte - und er erwähnte Ratko Mladić und Radovan Karadžić (…) als Menschen, die er bewundere. Zur Zeit des Interviews waren die beiden noch keine verurteilten Kriegsverbrecher, sondern ganz normale europäische Bürger. Wären sie schon Jahre zuvor verhaftet und bestraft worden, wäre es womöglich auch mit Breivik anders verlaufen. Das meine ich, wenn ich sage, wir sind alle miteinander verbunden."
Archiv: Novinky.cz

Boston Review (USA), 12.10.2021

In einem ausgesprochen informativen und sehr sachlichen Artikel diskutiert Samuel Miller McDonald Für und Wider einer Rückkehr zur Atomenergie in Zeiten des drängenden Klimanotstands. Auf der Habenseite notiert er eindeutig die relative Ungefährlichkeit der Atomenergie (verglichen mit Abermillionen Toten allein in Folge der Luftverschmutzung, ihre Verfügbarkeit, ihre Leistungsstärke. Auf der Sollseite verzeichnet er ihren immens hohen Preis (zwischen 112 und 189 Dollar pro Megawattstunde verglichen mit 29 bis 56 Dollar bei Wind, 36 bis 44 Dollar bei Sonnenenergie), die ungeregelte Endlagerung und den ausbeuterischen Uranbergbau meist auf Gebieten armer oder indigener Bevölkerungen. Am Ende fürchtet Miller McDonald vor allem, dass die Stabilität, die Atomkraft verlangt, weder politisch noch klimatisch in Zukunft gegeben sein wird: "Wir können nicht davon ausgehen, dass die Technologien, die uns im späten 20. Jahrhundert gute Dienste erwiesen haben, dies auch am Ende des 21. Jahrhunderts tun werden. Die Destabilisierung der Weltordnung wird neue Möglichkeiten eröffnen - und andere verschließen -, wie wir unsere gesellschaftlichen strukturieren können, sowohl physisch als auch sozial. Die Entscheidungen, die wir heute in Bezug auf die Infrastruktur treffen, begrenzen die Möglichkeiten für die Ordnungen, die wir in einer destabilisierten Zukunft bauten können. Atomenergie gründet - mit ihrer Abhängigkeit von hoch organisierten und militarisierten Staaten - auf einer bestimmten Art von Ordnung. Erneuerbare Energien eröffnen - mit ihrer Fähigkeit kooperativ und auf lokaler Ebene betrieben zu werden - die Möglichkeit radikal anderer Ordnungen. Keiner der beiden Wege verdammt die Gesellschaft zu einer bestimmten Zukunft, aber sie begrenzen die möglicher Entscheidungen. Die Debatte, die um die Atomenergie geführt werden muss, darf sich nicht auf die Frage beschränken, ob sie Kohlendioxid-Emissionen begrenzt, genügend Elektrizität verschafft oder sicher und sauber ist, sie muss auch Teil ins Auge fassen, wie Gesellschaften sich an die neuen gefährlichere Welt, die wir geschaffen haben, anpassen können oder sogar in ihr gedeihen."
Archiv: Boston Review

New York Times (USA), 14.10.2021

Koga Harue's Umi (The Sea) (1929) The National Museum of Modern Art, Tokyo


Der Surrealismus war nicht eine weitere, in Frankreich entstandene Kunstbewegung mit Plagiatoren im In- und Ausland, sondern eine Pandemie, schreibt der Kritiker Jason Farago in der großen Besprechung der Ausstellung "Surrealism Beyond Borders" im Metropolitan Museum. Und der Surrealismus trifft auch die Sensibilitäten der heutigen Zeit, weil er "eine zutiefst antikoloniale Bewegung war - lange nachdem er in der französischen Metropole erlahmt war, fand seine oppositionelle Sprache in der Karibik ihren höchsten Ausdruck. 'Ich lecke dich mit meinen Algenzungen / Und segle dich aus der Piraterie heraus", erklärt der Erzähler von Aimé Césaires klassischem 'Zurück ins Land der Geburt', das die surrealistische Poetik mit den Formen der 'Black Atlantic'-Kultur zu einer neuen Philosophie namens Négritude verschmolz. Breton schrieb die Einleitung zur französischen Ausgabe, aber das in der Ausstellung gezeigte Exemplar ist auf Spanisch, mit Illustrationen des kubanischen Malers Wifredo Lam: hybride, mehrköpfige Bestien, schön, aber furchterregend und vor nichts zurückschreckend."
Archiv: New York Times
Stichwörter: Surrealismus, Illustration