Vorgeblättert

Dieter Fischer-Dieskau: Musik im Gespräch, Teil 1

15.09.2003.
Wo die Musik anfängt

Vor zehn Jahren haben Sie beschlossen, dass Ihre Sängerkarriere ein Ende haben soll. Und doch sind Sie nie wirklich abgetreten. Was tut ein Sänger auf der Bühne, der nicht mehr singt? 

Er spricht! Es gibt viele, auch anspruchsvolle Sprechrollen in der Musik - denken Sie etwa an den Moses in Arnold Schönbergs Oper Moses und Aron oder, ebenfalls von Schönberg, an die Ode an Napoleon. Oder aber an Lesedramen, die zu Musik deklamiert werden, wie den Enoch Arden von Richard Strauss. Es sind Werke, die ein geschultes, stilisierungsfähiges Sprechen erfordern, aber auch Kenntnis des Gesanges, denn sie bewegen sich ständig an der Grenze zwischen beidem, changieren bald mehr in die eine, bald stärker in die andere Richtung. Meine sängerische Erfahrung und meine Liebe zum Vortrag literarischer Texte bescheren mir also noch manche künstlerische Neuentdeckung. Zweitens gebe ich meine Erfahrungen, so gut es geht, an die Kollegen der Zukunft weiter, in zwei bis drei Meisterkursen pro Jahr. Drittens dirigiere ich - wenn ich das Glück habe, dafür gerufen zu werden, und weil ich die Leidenschaft besitze, einem solchen Ruf, wenn er seriös ist, zu folgen. Dann schreibe ich, meistens über musikalische Angelegenheiten. Und ich gebe manchmal Interviews, aus denen dann kooperativ ein Rundgang durch die Musik entstehen kann, wie wir ihn jetzt versuchen - präzisierend sollten wir sagen: durch die abendländische Musik.

Kein Ruhestand also für den Künstler Dietrich Fischer-Dieskau … 

… kein Ruhestand. Keine Abkehr vom Beruf. Ich habe nie entfremdete Arbeiten verrichtet, sondern immer nur solche, mit denen ich mich identifizierte oder zumindest einverstanden erklären konnte. Weshalb sollte ich mich aus ihr zurückziehen? Ausgerechnet aus der Musik! 

Um es präzisionshalber hinzuzufügen: Es war und ist ausgerechnet die so genannte klassische Musik, die abendländische Kunstmusik! Sie haben in Ihrer aktiven Sängerlaufbahn fast nichts davon ausgelassen und das gesamte Baritonrepertoire abgedeckt, quer durch alle Sparten und Zeiten: Oper, Lied, Oratorium, vom Barock bis zur Moderne. Haben Sie jemals Schlager gesungen? 

Doch, ich habe Operettenschlager gesungen! Ganz früh, in einer Zeit, die ich als Vorgeschichte meiner Laufbahn bezeichnen würde, im Soldaten- und Gefangenenlager. Ich gehöre zu den Jahrgängen, die noch in den letzten Kriegsjahren zum Frontdienst eingezogen wurden. Selbst dort war es noch üblich, bunte Abende zu veranstalten oder improvisierte Gesangsvorträge, um den ganzen Dreck für eine gute Stunde zu vergessen. Dort habe ich damals auch Operettenmelodien gesungen, zur Begeisterung meiner Kameraden. So brachte ich meine "Ochsentour durch die Provinz" hinter mich. Aber das waren Sonderbedingungen, extreme Verhältnisse, unter denen der Begriff Kultur wie eine Schimäre erschien. 

Und danach kamen Sie tatsächlich nie wieder in Versuchung, auch die leichte Muse der Unterhaltungsmusik zu umarmen? 

Nein. Ich empfand keinerlei Verlangen danach. Jeder Sänger hat wohl sein eigenes Bedürfnis, wie und wo er sich musikalisch ausdrücken und mitteilen möchte. Mich zog es seit meiner Kindheit zur seriösen Musik, denn sie stellte mir die Herausforderungen, die ich bewältigen wollte. Operette und Musical haben mich nie gelockt, ich habe mich nie nach musikalischen Ausflügen in diese Gebiete gesehnt. Freilich weiß ich, wie man in der Operette als Sänger und als Darsteller brillieren kann. Und ich achte jeden Sänger, der Operetten gut und wirkungsvoll interpretiert. Mit Überheblichkeit, wie leicht unterstellt werden könnte, hat meine Schlager-Abstinenz also nichts zu tun. Nur, mein beruflicher Weg hat nun mal eine andere Richtung genommen. 

Was fehlt denn der leichten Muse, was die ernste Ihnen bietet? Umgekehrt klingt die Frage sehr viel schwerer: Worin besteht Ihrer Ansicht nach die "Herausforderung" der klassischen Musik? 

"Klassik" ist eine gefährliche Kategorie, die wir zunächst einmal genauer definieren sollten. Heute wird doch alles in Bausch und Bogen als klassisch bezeichnet, was nicht offenkundig zur Unterhaltungssphäre gehört. Mit seiner festen Begrenzung aber verliert der Begriff die Präzision, die er haben sollte. Alle möglichen Bedeutungen purzeln durcheinander. Für viele Leute ist Klassik schlicht all das, was nicht Pop, Rock, Jazz oder Musical sein kann. Auf der anderen Seite spricht man dann aber wiederum von "klassischen" Musicals. Eine Epoche, die vor allem mit den Namen Haydn, Mozart und Beethoven umrissen ist, wird Wiener Klassik genannt, während man die klassische Moderne im 20. Jahrhundert ansiedelt. Ein munteres Durcheinander verbirgt sich also hinter diesem Begriff, der umgangssprachlich fast alles meinen kann, aber wenig besagt. 

Versuchen wir, Ordnung zu schaffen. Was ist für Sie klassische Musik? Bitte eine Definition! 

Klassisch ist, was - zu welcher Zeit auch immer - gedacht und formuliert wurde dergestalt, dass es maßstäblich, nachstrebens- und bedenkenswert werden konnte für nachfolgende Generationen. Klassik - das sind die Schultern, auf denen Nachgeborene stehen können. 

Da haben Sie ziemlich genau den Punkt getroffen, den der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus einmal als "normativen Wertbegriff" gefasst hat. Dahlhaus hatte allerdings ganz ähnliche Schwierigkeiten wie wir, eine zusammenfassende, triftige und heute noch brauchbare Definition für den Begriff "Klassik" zu finden. Deshalb sprach er außerdem noch vom "Epochenbegriff", wenn es darum geht, die Klassik historisch einzugrenzen, und für die ästhetische Eingrenzung erfand er die Definition "Stilbegriff". So praktisch solche Begriffs-Schubladen auf den ersten Blick erscheinen - so finde ich doch, offen gestanden, dass sie uns gerade in der musikalischen Praxis nicht viel weiter bringen. 

Fragen wir also lieber: Was ist Klassik nicht? Klassische Musik steht für mich im Gegensatz zum bloß Schematischen und zum rein Unterhaltenden, zur grassierenden Passivität und zum Unernst des reinen Genusses, der per se ja nicht verächtlich ist, aber ein anderes Bedürfnis als das nach Kunst befriedigt. Für mich bedeutet es eine Steigerung des Wertes, wenn ich mich als Hörer nicht bloß ästhetisch erbaue, sondern am Prozess hörend beteiligt bin und das sich im Werk Offenbarende nachvollziehen kann als etwas mich Betreffendes. Setzt man hinzu, Klassik sei das jeweils Bessere - auch nach meinem Verständnis ist das ein normativer Wert -, so bedeutet das: Es kann Klassisches in jeder Epoche geben. Wie gesagt, Klassiker der Moderne … 

… und Klassiker der Popmusik, wie Eve of Destruction oder Bridge over troubled water … 

Darüber ließe sich streiten! Ich stimme Ihnen aber grundsätzlich zu, auch in der unterhaltenden Musik sind Klassiker durchaus zu finden. Ich würde Johann Strauß beispielsweise einen Klassiker nennen. 

Zur Verteidigung der Pop-Klassiker möchte ich anführen, dass sie den voraussetzungslosen Genuss und vor allem das "Schematische", wie Sie es nennen, zum ästhetischen Prinzip erhoben haben. Das Stereotyp ist hier nicht nur möglich, es scheint sogar diesem Musikgenre wesentlich. Nicht die Innovation ist das Maßstäbliche, sondern die Imitation: die perfekt ein vorgegebenes Muster ausfüllende Wiederholung. Und Imitation kann hohe Kunstfertigkeit verlangen und einiges an Kreativität freisetzen. Es gibt für dieses Phänomen sogar eigene Begrifflichkeiten: Man "covert" bekannte Schlager, man "sampelt" sie und erstellt "Versionen". Das sind grundsätzlich andere, von den Maßstäben der klassischen Musik äußerst weit entfernte Ideale. Aber verwirrenderweise kommt es in der fest gefügten Welt der Klassik, auch in eindeutigen Fällen - etwa bei Beethoven -, dann doch am Ende wieder auf den Standpunkt an. Als Beethoven noch lebte und in den ersten Jahren nach seinem Tod rechneten zum Beispiel unsere französischen Nachbarn diesen Aufsehen erregenden Musiker noch ganz klipp und klar der Romantik zu. 

Beethoven hat in seinem Leben verschiedene Stadien durchlaufen, auch romantische. Aber man kann Beethoven nicht zu den Romantikern stellen, so gefühlsbetont er sich bisweilen auch äußerte. Die musikalische Klassik begann mit der Aufklärung und endete mit dem Auftreten der ersten großen Romantiker. So einfach scheint das. Aber ich möchte mich ungern darauf festlegen: An diesem Punkt, mit diesem oder jenem Werk beginnt die klassische Epoche in der Musik und mit diesem oder jenem Werk hört sie wieder auf. In der Musik sind solche Zuordnungen schon deshalb prekär, weil viele Begriffe, die auf sie angewendet werden, ursprünglich aus ganz anderen Gebieten des Geisteslebens stammen. Barock, Klassik, Romantik, diese Begriffe wurden aus der bildenden Kunst, der Literatur, sogar der Baukunst auf die Tonkunst übertragen. Verwendet man "Klassik" als musikalischen Epochenbegriff, dann müsste man - in Analogie zur Kunst der Antike, auf die dieser Begriff ja zuerst angewendet wurde - sagen: Klassisch sind in der Musik jeweils die Werke, die herausragen, die Maßstäbe setzen. Wie gesagt: Klassik bedeutet für mich etwas Herausgehobenes, selten eine ganze Epoche, auch wenn eine von ihnen heute allgemein als solche bezeichnet wird. Wenn Sie die Architektur betrachten, sehen Sie ganz genau, wer sich an der griechischen Klassik ausgerichtet hat und wer nicht. 

Kein Wunder, dass Sie den Beginn der klassischen Epoche in der Musik mit der Aufklärung ansetzen. Heißt das, dass auch die klassische Musik eine politische Seite hat? Inwieweit wirken sich die Ideen der Aufklärung unmittelbar aus in der Musik? 

Denken Sie an Mozarts Oper Die Hochzeit des Figaro! Sie bedient sich zwar eines politischen Stoffs, aber die Musik verwandelt ihn sich vollständig an. Der Figaro war, wenn Sie so wollen, eine vorbereitende Maßnahme. Nur hatte Mozarts Musik mit den politischen Inhalten direkt wenig zu tun, das Politische steckte viel deutlicher in den Texten von Beaumarchais. Ich würde bei Mozart nicht ständig nach Spuren der Revolution suchen wollen, wie es eine Zeit lang Mode geworden ist. Was sich in seinem kurzem Leben an Not zusammendrängte, bezeichnet den biografischen Abstieg vom verwöhnten, umschmeichelten Wunderkind über ein kurzes Zwischenhoch der ersten Zeit in Wien bis zu den Bettelbriefen der letzten Jahre und der Beisetzung im Massengrab. Musikalisch steht dem eine beständige Weiterentwicklung entgegen. Von Kind auf lernte Mozart fortwährend neue Kunstformen kennen und integrierte sie in sein Schaffen. Die Reise nach Mannheim und Paris, die er als 21-Jähriger unternahm, konfrontierte ihn beispielsweise mit den Vorläufern einer seriösen deutschen Nationaloper und mit den Opernidealen Christoph Willibald Glucks. Künstlerische und soziale Existenz entwickelten sich bei Mozart regelrecht auseinander. 

Ihr Vorschlag, die musikalische Klassik auf dem Boden der Aufklärung sprießen zu lassen, leuchtet mir sehr ein! Erst der aufgeklärte Fürst (zum Beispiel Graf Esterhazy) setzte sich hin und übte; und spielte dann mit seinem Domestiken (zum Beispiel Haydn) gemeinsam Baryton-Trios. Das scheint das Ergebnis eines ideengeschichtlichen Paradigmenwechsels, der etwa in die Zeit um 1780 fiel. Und fortan steht die Musik auf ungleich breiterer sozialer Basis. Und folglich verändern und verbreitern sich auch die musikalischen Formen … 

Es ist merkwürdig, dass Goethe, der doch in der Französischen Revolution nur ein absolutes Chaos und eine Zerstörungstendenz sah, sich so für das Streichquartett begeistern konnte. Um die musischen Abende in Berlin mit dem Möserschen Quartett beneidete er seinen Freund Zelter am meisten. "Es geht nichts darüber, wenn sich vier vernünftige Menschen miteinander unterhalten", heißt es im Briefwechsel mit Zelter.
Das Streichquartett, Produkt einer aufgeklärten Grundhaltung, ist also ohne Zweifel eine klassische Gattung. Ja, die Haydn’schen Quartette sind das Klassische schlechthin! Damit war eine Form gefunden, die lange Zeit auch für andere Gattungen vorbildlich blieb und die sich bis heute in ihren Parametern eigentlich nicht verändert hat. Im Rahmen dieses Kanons haben Komponisten meist ihr Wesentliches gesagt. Will man den Kern einer Komponistenpersönlichkeit erfassen, so braucht man sich nur die Streichquartette anzuhören - oder ihre Lieder. Eine Zeit lang haben das Schaffen Bachs und Händels die Anfänge der neuen Kompositionsweise überlappt, die dann zu Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert führen sollte. Der Unterschied zwischen den Epochen betrifft aber nicht nur den Stil, sondern auch die Zusammensetzung des Publikums und den Status der Komponisten. Sie schrieben spätestens seit Haydn nicht mehr ausschließlich für den jeweiligen Hof, sondern im Blick auf eine breitere Zuhörerschaft. In Haydns Quartetten vereinigen sich Virtuosität und architektonische Planung auf subtile Weise mit dem volkstümlichen Ton. Das "Gelehrte" mit dem "Popularen" zu verbinden - mit diesem Vorsatz umriss Haydn, der den größten Teil seines kreativen Lebens in den Diensten der Fürsten Esterhazy zubrachte, das Ziel seines künstlerischen Strebens. In den Quartetten op. 33, in denen er sein Ideal zum ersten Mal gelungen sah und die für Mozart zum inspirierenden und herausfordernden Vorbild wurden, verschwindet die etwas bemühte Kontrapunktik, mit der er anfänglich noch experimentierte; die tänzerischen Binnensätze heißen nicht mehr "Menuett", sondern "Scherzo". Geistvolle Einfälle markieren die Freude am neu gefundenen Ideal des ausgebauten Sonatensatzes auch in den Symphonien, Instrumentalkonzerten und anderen Kammermusikwerken. Und die Fürsten - etwa auch der preußische König Friedrich Wilhelm II. - fingen selbst an, Instrumente zu spielen, und nahmen ihnen gewidmete Werke entgegen. Die Herzoginmutter Anna Amalia am Weimarer Hof komponierte selbst professionell. 

Aber komponierte sie "klassisch"? Im Sinne, wie Sie es gerade definiert hatten, von "maßstäblich"? Wohl kaum. Und nicht einmal als klassizistisch könnte das durchgehen, etwa im Sinne dessen, was Theodor W. Adorno dann später "Klassizismus" nannte. 

Adorno vertrat einen sehr hohen Begriff von Klassizität. Er charakterisiert sie im Grunde als Utopie, als eine Leitvorstellung, die nie ganz zu erfüllen sei. "Was die großen Komponisten der Wiener Schule von Haydn bis Schubert wollten, eine Musik, die ganz und gar in sich gefügt, ganz richtig, ganz verbindlich und doch in jedem Augenblick Subjekt, eigentlich befreite Menschheit ist, hat bis heute noch nicht seine Stimme finden können", diagnostizierte er vor beinahe 50 Jahren in seinem Aufsatz Klassik, Romantik, neue Musik. So weit ins geistige Niemandsland sollte man die Idee des Klassischen dann wohl doch nicht entrücken. Adorno widerspricht denn auch selbst seiner These mit zahlreichen Wertungen der Musik von Bach bis Webern.
Doch kommen wir noch einmal auf die Ära zwischen Haydn und Schubert zurück. Historiker nennen sie die Ära der Französischen Revolution. Es wäre interessant, dem Zusammenhang zwischen der Herausbildung einer Periode, die hinsichtlich ihrer musikalischen Hervorbringungen als Klassik bezeichnet wird, und der Revolution in Paris etwas genauer nachzugehen. Man kennzeichnet das Ereignis, das nach langem Schwelen am 14. Juli 1789 mit Gewalt ausbrach und dann in den "terreur", in eine Diktatur, mündete, in der Regel ausschließlich politisch. Die Wirkung, die historisch von der Französischen Revolution ausging, lässt sich meines Erachtens aber nur in der Zusammenschau mit den geistigen Umwälzungen erklären, die mit ihr einher- oder ihr sogar vorausgingen. Nur auf zwei Dinge möchte ich hinweisen: Zwischen 1760 und 1790 bildete und festigte sich, wie bereits erwähnt, der klassische Formenkanon der Instrumentalmusik: Symphonie, Kammermusik (vor allem das Streichquartett), Sonate. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geriet außerdem die Opera seria, bis dahin die höchste Form des Musiktheaters, immer tiefer in die Krise. Heute würde man sagen: Sie verlor ihre Glaubwürdigkeit. Ihre schematischen Formen, ihre erstarrten Formeln, ihre künstlichen Regeln und ihre eingeschränkten Stimmbesetzungen (Kastraten, aber keine Bassstimmen) wurden zunehmend als albern empfunden, als gestelzt, affektiert und absurd. Sie bot ein Zerrbild des bemüht Erhabenen. Die Opera buffa trat in den Vordergrund, die seria änderte ihre Ausdrucksweise. Am Ende setzte sich eine Form durch, die sich aus der Synthese beider Gattungen speiste. Sie zeichnete sich durch eine lebendige Charakterisierung der Personen mit den Mitteln der Musik aus. Mozart brachte diese Kunst zur Vollendung. Er vertonte größtenteils sehr gute Libretti; dennoch gewinnen die Personen in seinen Opern ihr Wesentliches durch die Musik - und sie würden ihr Wesen erkennbar auch dann behalten, wenn dem Gesang die Worte fehlten. Damit drückte Mozart seiner Zeit den Stempel auf, mit dem Triumph der Musik, nicht mit ihrer immer wieder beschworenen Politisierung. Mit der Französischen Revolution endete auch die Zeit der Opera seria.
Die neuen Stilmerkmale erforderten neue formale Verfahrensweisen, und sie verlangten in der Oper wie in der Instrumentalmusik ein anderes, beteiligtes, engagiertes Hören, das sich nicht mehr auf das Wiedererkennen von Formeln verlassen konnte. Thema und Begleitung konturierten sich gegeneinander, ließen zwischen Vorder- und Hintergrund der Musik unterscheiden. Der Klangcharakter der Instrumente wurde immer enger mit den wechselnden Stimmungen der Musik verknüpft. Die Themen eines Werkes wurden genau auf bestimmte Instrumente zugeschnitten, eine Verknüpfung, die Bach noch ziemlich gleichgültig gewesen wäre. Musikalisch hat diese Epoche, in die auch die Französische Revolution fiel, an musikalischen Gattungen, an Aussageformen wie an Werken Maßstäbe Setzendes hervorgebracht. Diese Tatsache mag sie zur klassischen qualifizieren, auch wenn nicht jedes Werk aus ihr den Status der Klassizität besitzt.
Die Haltung des Hörens, die von dieser Musik gefordert wird, nenne ich das kooperative Hören. Darunter verstehe ich das Mitvollziehen von Strukturen, von Linien, auch von technischen Vorgängen. Hörer, die kooperieren, interessieren sich für alles, was in einer Komposition steckt. Als Erkennende werden sie zu Partnern der Musik, die interpretiert wird.
Diese Kooperation ist beim Hören klassischer Musik ein wesentliches Erfordernis. Der Hörer sollte mitarbeiten, sollte versuchen, die Spuren nachzuvollziehen, die sich in einem Werk manifestieren - übrigens auch die, die es an spätere Werke weitergegeben hat.

Teil 2