Vorgeblättert

Leseprobe zu Francois Walter: Katastrophen. Teil 1

15.03.2010.
(Vorwort, S. 10 ff)

Eine kulturgeschichtliche Perspektive


Beim Lesen der zahlreichen Arbeiten, die dieses weite Feld bearbeiten, fällt dem Forscher eine Konstante auf. Die meisten Autoren unterscheiden zwischen dem irrationalen, für die alten Gesellschaften charakteristischen Umgang mit Unglücksfällen und der (an-)gemessenen wissenschaftlichen Bewältigung, wie sie modernen Gesellschaften eigen ist. Das Vorhandensein oder Fehlen religiöser Bezüge markiert ihnen zufolge die Trennlinie. Fehlt der religiöse Bezug, reicht das normalerweise aus, um sie der zweiten Periode zuzurechnen, so sehr erscheint ihnen dieser als Zeichen für etwas Obsoletes, das von der Forschung endgültig bezwungen ist. "Bis ins 19.Jahrhundert, so ist in einer jüngeren Veröffentlichung zu lesen, wurden Naturkatastrophen von Geistlichen beider Konfessionen als 'Tatpredigten' Gottes gedeutet [?]. Theologen legten solche Katastrophen anhand einschlägiger Bibelstellen aus, um die mutmaßliche Ursache des göttlichen Zorns zu ergründen."(3) Bis zum 17. Jahrhundert, sagt dieser Autor im weiteren, wurden Naturkatastrophen "auch in den Schichten der Gebildeten" als etwas gesehen, "das 'letztlich als Gottes Strafe oder Mahnung' gedeutet werden musste: Nur er nenne 'die Regeln, denen man sich zu beugen hat, wenn man [seinen] Zorn nicht erregen will'." Diese Auffassungen seien mit der Aufklärung ins Wanken geraten und in der Kategorie "überkommener Erklärungsmodelle" abgelegt worden, tauchten jedoch gelegentlich wieder auf. Religiöse Deutungsmuster hätten sich in der ländlichen Bevölkerung teilweise bis ins 20. Jahrhundert hinein gehalten, während sich die städtischen Eliten seit dem 18. Jahrhundert dem neuen, naturwissenschaftlichen Weltbild zuwandten.(4)
     In der Forschung verpönt, wird die "traditionelle" Lesart der Katastrophe gewöhnlich in wenigen Zeilen abgehandelt, und dies zumeist mit ironischem Unterton.(5) "In jenen weit zurückliegenden Zeiten ist kirchlichen Obrigkeiten, die auch die politische Macht innehatten, jeder rationale Ansatz suspekt", behauptet noch 2004 ein Forscher völlig undifferenziert in einem Kapitel mit der Überschrift "Kurze Geschichte der Risiken und Katastrophen".(6) In einem Werk, das als gute Einführung in die Geschichte der Mentalitäten des Ancien Regime gilt, widmet Robert Muchembled dieser Frage unter Rückgriff auf den üblichen Interpretationsschlüssel nur wenige Zeilen.(7) Andere Autoren erlauben sich sogar, über das Problem völlig hinwegzugehen,(8) und brüsten sich noch damit: "Alle Transzendenz ist abgeschafft dank der immensen Fortschritte der Naturwissenschaften und der auf ihren Bahnen explodierenden Potenz der Technik. Dass Gott strafe, mögen noch Zurückgebliebene in den Wäldern ferner Kontinente oder Zurückgebliebene in den multikulturellen Vorstädten moderner Metropolen glauben. Kein seriöser Zeitgenosse fällt mehr darauf herein."(9) Doch was ist mit der Vermittlung verkürzter Positionen durch die Medien, die von der Neugier des Publikums für alles, was mit Naturkatastrophen zu tun hat, getragen wird? "Von den Urgewalten der Natur getroffen. Der Berg kommt!" oder auch "Risikobewältigung: zwischen Spiritualität und Technik", beispielhaft seien nur die Titel einer Ausstellung genannt, die erst vor kurzem zu sehen war! Parolen dieser Art haben es einschlägigen Fachleuten ermöglicht, sich von den Menschen der Vergangenheit abzugrenzen, die man Katastrophen gegenüber als "wehrlos" erachtet; sie hätten sich damit begnügt, Gott um Schutz anzuflehen - unter "Rückgriff auf Zauberrituale". Die zeitgenössischen Gesellschaften hingegen, "im Besitz der technischen Fortschritte und der mechanischen Mittel", hätten die "integrale Risikobewältigung" erfunden. Unsere Zeitgenossen könne man getrost beruhigen: "Die Vorstellung, der zufolge die Urgewalten der Natur über uns hereinbrechen könnten, ist nichts als Animismus!" Unterstellt wird hier, keine fortgeschrittene Gesellschaft könnte sich in derartigen Vorstellungen wiedererkennen.(10)
     Soziologen haben sich bereits gegen den Misskredit verwahrt, der mit "negativer Valenz" abwertet, was manche als "Kultur des Desasters" betrachten.(11) Andere haben empfohlen, die interferierende Wirkung von Archetypen, Phantasmen und Bildern auf die Einschätzung von Risiken ernst zu nehmen.(12) Wie dem auch immer sei, es ist zwingend geboten, sich jeder Form genereller Infantilisierung vergangener Gesellschaften zu erwehren. An Stelle der traditionellen Vorlage, die zwei große, zeitlich einander folgende Deutungsmuster unterscheidet, wobei das eine die Katastrophe als übernatürliches, exogenes Phänomen, die andere als Gegenstand wissenschaftlicher, endogener Kenntnisse darstellt,(13) möchte ich hier die Hypothese vertreten, dass religiöse und symbolische Erklärungsschemata global und langlebig sind und dass ihr Wirkungsfeld weit über das Zeitalter der sogenannten Aufklärung hinausreicht, in dem die Desakralisierung der Welt den Geltungshorizont dieses Denkmusters endgültig in die Vergangenheit zu verweisen schien. Es ist eine unzulässige Einschränkung, Vernunft und Aberglauben als sich wechselseitig ausschließende Gegensätze zu begreifen und lediglich einzuräumen, dass "in Krisenzeiten irrationale Reaktionen" wieder aufleben können.(14) In Wirklichkeit ersetzt der ontologische Topos der Neuzeit nicht einfach eine frühere Lesart. Beide überlagern einander und vervielfachen somit die Hypothesen, welche allesamt Quellen darstellen, die den Gesellschaften zur Verfügung stehen, die mit der Notwendigkeit, die Welt zu verstehen und zu erklären, konfrontiert sind. Rationale und religiöse Lesarten bestehen in dem langen Zeitraum vom 16. bis zum 20. Jahrhundert nebeneinander, ohne dass man sie zwangsläufig als gegensätzlich aufgefasst hätte.(15) Zahlreiche, vor allem von Kirchenhistorikern verfasste Arbeiten haben mit dazu beigetragen, die heuristische Brauchbarkeit dieses Ansatzes aufzuwerten.(16) Für mehrere unter ihnen sind Krisen und Katastrophen vor allem Indikatoren für das jeweilige Weltverständnis. Ausgehend vom Ereignistypus der Katastrophe ließen sich konkret die jeweiligen Reaktionen der Kategorien betroffener Akteure erfassen, ihre Repräsentationen der Außenwelt sowie die Bedeutung, die sie den Wechselfällen des Lebens zuschreiben.(17) In diesem Sinne erfolgt eine sukzessive Erweiterung der Bedeutungen, die Naturereignissen zugemessen werden. Die Deutungshoheit wird zum Objekt der Begierde, um das all jene rivalisieren, die kraft ihrer Autorität, den theologischen, wissenschaftlichen, verwaltungs-politischen oder ganz einfach den narrativen Diskurs hervorbringen.
     Dieser Ansatz lässt sich mit dem schon etwas älteren kulturtheoretischen Risikokonzept von Mary Douglas (1921-2007) gut vereinbaren. In den 1980er Jahren entwickelte die britische Anthropologin den Gedankengang, dass das Risiko, weit davon entfernt, sich auf eine Theorie rationaler Entscheidungen reduzieren zu lassen, in seinem Bezug zur realen Welt und zu deren Wahrnehmung nur über kulturelle und soziale Vorurteile begreifbar sei.(18) Der Mensch ist somit nicht nur bestrebt, die Welt empirisch (durch wissenschaftliche Kenntnisse und technische Fertigkeiten) zu erfassen; er bringt unaufhörlich moralische und kulturelle Referenzen ins Spiel. Dies bewirkt, dass jedes Individuum unter den Risiken eine Auswahl trifft: Manche fürchtet es, andere ignoriert es, abhängig von seiner sozialen Stellung und seinem jeweiligen Wertesystem. Eine anthropologisch orientierte Analyse ermöglicht es Mary Douglas, hinauszugelangen über die traditionelle Interpretation mit ihrer Grundannahme, die Menschheit sei über Generationen vom Aberglauben und von der Furcht vor übernatürlichen Gewalten beherrscht worden, die modernen Gesellschaften dagegen könnten für sich das Privileg verbuchen, die Natur neutral und objektiv wahrzunehmen. Ob es uns nun gefällt oder nicht, so die Autorin, das Naturverständnis der alten Gesellschaften unterscheidet sich von dem unsrigen nicht grundsätzlich, da beides gesellschaftliche Konstrukte sind. Während die alten Gesellschaften zwischen Naturkatastrophen und den unterschiedlichen Formen der Normenverletzung eine Beziehung herzustellen suchen, nehmen die modernen Gesellschaften Selektionsprozesse im Hinblick auf die Risiken vor. Und wenn sich die Katastrophe ereignet, wird sie nicht mehr einer moralischen Verfehlung, sondern einem Fehlurteil oder den Fährnissen des Daseins angelastet. Hier wird ganz klar unterschieden, wie aus dem kategorischen Kommentar der Anthropologin hervorgeht: "Zu behaupten, die Feststellung dessen, was jeweils die bedrohlichsten Gefahren sind, impliziere keinerlei Moralurteil, ist gleichbedeutend mit dem Konsens der Stammesgesellschaft, der den Jahreszeiten und Sternen eine strafende Rolle zumisst!"(19)
     Dieses Buch verfolgt das ehrgeizige Ziel, eine Kulturgeschichte der Katastrophen und Risiken zu schreiben, insofern die abendländische Gesellschaft die Katastrophen gewissenhaft in Bildern und die Risiken in Form von Texten festgehalten hat. In einer Zeit, in der die Kulturgeschichte en vogue zu sein scheint, muss man jedoch näher ausführen, vor welchem Hintergrund man spricht. Nach weithin anerkannter Auffassung interessiert sich diese Teildisziplin der Geschichte für alle Formen kollektiver Repräsentationen, für die Art, wie Gesellschaften die Außenwelt symbolisch durch Werte, geistig durch Glaubenssysteme, intellektuell durch Gedankenkonstrukte und pragmatisch mittels Techniken darstellen oder sich vorstellen, indem sie Bilder oder Texte (diskursive Praktiken) oder auch andere Mittel (nicht-diskursive Praktiken) einsetzen. Welches sind nun diese vielschichtigen Repräsentationen? Welchen gesellschaftlichen Nutzen haben sie? Welche Akteure sind für ihre Verbreitung zuständig? Wie kann der Begriff des Risikos, der aus Seefahrt und Spiel stammt, heute auf so unterschiedliche Verhaltensweisen angewandt werden, wie etwa, dass man sein Haus auf den Abhängen eines Vulkans errichtet, ungeschützt Geschlechtsverkehr hat oder Hühnchen isst? Dieser Ansatz unterscheidet sich von der Geschichte der Risikokultur, unter der man eher die Gesamtheit der Kenntnisse und Wahrnehmungen versteht, die für die Praxis der Risikobewältigung erforderlich sind (von Katastrophenverhütung bis hin zum Wiederaufbau).(20) Daher ist es nicht das Anliegen dieses Buches, die Geschichte der Risiko- und Katastrophenbewältigung darzustellen, zu der bereits eine umfängliche Literatur vorliegt. Es kann auch unmöglich die Gesamtheit der Fragen abdecken, die die "Risikokultur" aufwirft, das heißt, die Wahrnehmungen, Kenntnisse und Verhaltensweisen der abendländischen Gesellschaft in bezug auf Umweltrisiken sowie die sozialen und territorialen Unterscheidungsmerkmale, die ihre jeweilige Aktualisierung kennzeichnen.(21) Sein Anspruch ist bescheidener, und hier ist es wichtig, seine Grenzen aufzuzeigen.


Die Lust an Katastrophen


Man wird bemerken, dass der Terminus Risiko im Verlaufe der Darstellung mehr und mehr Raum einnimmt.(22) Zunächst geht es in diesem Vorwort vor allem um die Katastrophe als konkrete, Schaden hervorrufende Realisierung eines möglichen Risikos. Oft wird das Risiko durch die Katastrophe erst offenbar, so dass Meschinet de Richemond zu Recht schreibt, das Risiko erfahre man in der Geschichte über den Umweg katastrophaler Ereignisse.(23) Des weiteren, während unsere zeitgenössische Befindlichkeit eine Vorliebe für den Begriff des Risikos hat, denken die Gesellschaften der Vergangenheit vor allem daran, aus der Erfahrung von Katastrophen Nutzen zu ziehen. Diese Verschiebung des Blickwinkels bietet einen der möglichen Zugänge zur Problematik: Die Risikogesellschaft, die unsrige, hätte demnach die Katastrophengesellschaft abgelöst. Wir werden sehen, dass eine solche lineare Aneinanderreihung kaum imstande ist, die Komplexität auch nur annähernd auszuloten. Doch ist einer der Forschungsgegenstände sicherlich, das Aufkommen der Risikoproblematik zu verorten oder, besser gesagt, Rechenschaft abzulegen von den Veränderungen in bezug auf Schwellenwerte bei der Akzeptanz von (realen oder potentiellen) Gefahren, von Verschiebungen in der Wahrnehmung mit ihren jeweiligen Hierarchien für das, was noch akzeptabel erscheint, von Überschneidungen im Geschichtsbewusstsein, das früher die gelebte Erfahrung in den Vordergrund stellte und heute die kalkulierte Zukunftsprojektion.
     Diese Eingangsbemerkungen könnten den Schluss nahelegen, als ließe sich das semantische Feld auf sogenannte natürliche Katastrophen eingrenzen. Die Dinge liegen allerdings komplizierter. Erinnern wir zunächst daran, dass es keine Katastrophe an sich gibt. In diesem Zusammenhang sei ein kurzer Satz des Schweizer Schriftstellers Max Frisch angeführt: "Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen."(24) In der englischen Sprache wird zu Recht der Ausdruck natural hazards bevorzugt, der im Gegensatz zum Oberbegriff Katastrophe viel deutlicher auf einen naturgeschichtlichen Zusammenhang verweist.(25) Die englische Sprache unterscheidet sehr geschickt zwischen risk und hazard. Letzteres steht für die mögliche Gefahr, die die menschlichen Gesellschaften bedroht, während das Risiko die Vorkommenswahrscheinlichkeit eines hazard ist. Ob man den Ozean auf einem Schiff oder in einem Boot überquert, der hazard zu ertrinken ist in beiden Fällen der gleiche, doch das Risiko (d.h. die Wahrscheinlichkeit, dass dies auch geschieht) im zweiten Fall merklich größer. Sollte sich dieser Fall ereignen, so spricht man von disaster (Katastrophe), d.h. vom Eintreffen des hazard.(26) Das Konzept entspricht dem, was das Französische mit danger (Gefahr) oder aleas de la nature (unvorhersehbares Naturereignis) und das Deutsche als Gefahren oder Unwägbarkeiten der Natur bezeichnet; es setzt einen begrifflichen Zugang zu Interaktionen zwischen Umwelt und menschlichen Gesellschaften voraus.(27) Zum einen gibt es die Unwägbarkeiten bzw. Wechselfälle der Natur und zum anderen die Verwundbarkeit der Gesellschaften, die beide unter bestimmten Bedingungen interagieren und in Katastrophen münden. Deshalb unterscheidet die heutige Forschung fünf für eine solche Untersuchung charakteristische Merkmale: 1. die Katastrophe selbst (disaster), immer daran gemessen, was die Menschen erleiden; 2. Naturgefahren (hazards), wie Vulkanausbrüche oder Erdbeben; 3. die gesellschaftliche, wirtschaftliche, physische und psychologische Verwundbarkeit (vulnerability), das heißt, die spezifischen Besonderheiten der sozialen Gruppe und ihres Umfelds, mit ihren jeweiligen Fähigkeiten zu antizipieren, zu reagieren, sich zu wehren und sich von der möglichen Realisierung eines unwägbaren Ereignisses zu erholen; 4. die Resilienz (resilience), d.h. die Mechanismen und die technischen Möglichkeiten, die es erlauben, die Katastrophe zu bekämpfen oder, anders ausgedrückt, die Fähigkeit des Systems, den vorangegangenen Gleichgewichtszustand wiederherzustellen; 5. die kulturellen Ressourcen (culture), die über die Art der Wahrnehmung der Katastrophe und ihre Sinnzuschreibung bestimmen.(28)
     Ursprünglich gehört "Katastrophe" zum Wortschatz der Theatersprache und bezeichnet dort das unheilvolle Ende der Handlung.(29) François Rabelais (1483 oder um 1494-1553) hat das Wort in die französische Sprache eingeführt. Viermal weist sein Gebrauch im Quart Livre (1552) auf einen eher leidvollen Ausgang. Wenn im Augenblick des Todes einer wichtigen Figur Kometen erscheinen, dann um anzudeuten, dass das Stück, in dem sie auf der Bühne der Welt agiert, zu Ende geht, "denn das Ende und die Katastrophe des Schauspiels ist nahe".(30) Der für uns so bequeme Katastrophenbegriff ist also anachronistisch, zumindest bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, wo er seine erweiterte Bedeutung mit deutlich negativer und pessimistischer Konnotation erhält. Die Wörterbücher des 17. und 18. Jahrhunderts schreiben dem Wort keine Bedeutung außerhalb der Theatersprache zu, trotz des Gebrauchs bei Montesquieu (1688-1755) in seinen Lettres persanes (Persische Briefe), die 1721 erschienen sind. Die sonderbare, tändelnde Art, mit der Usbek und Rhedi Europa entdecken, erlaubt semantische Neuerungen. Im Brief 112 wird einer der Perser der langsamen Entvölkerung der Erde gewahr, die er als "die schrecklichste Katastrophe" bezeichnet, "die es jemals auf der Welt gab", was sein Gevatter im Brief 113 verschärfend aufgreift, als er von den möglichen Gründen für diesen Bevölkerungsrückgang spricht: "Ich möchte vor Dir hier nicht auf jene besonderen Katastrophen eingehen, die die Geschichtsschreiber oft erwähnen und durch die ganze Städte und Reiche vernichtet wurden."(31) Und er erwähnt Pest, Syphilis und die Sintflut! Später gebraucht Voltaire den Begriff in seinen beiden Bedeutungen. Im Artikel "changements dans le globe" (Änderungen auf der Erdkugel) seines Dictionnaire philosophique verweist Katastrophe auf kataklystische Zerstörungen gleichbedeutend mit "revolution" im geologischen Sinn.(32) Der Eintrag "catastrophe" in der Encyclopedie hält sich an den gängigen Gebrauch aus dem Bereich des Dramas, in anderen Artikeln ("deluge" - Sintflut, "Lisbonne" und "tremblemens de terre" - Erdbeben) wird auf die Bedeutung eines zerstörerischen und tragischen Naturereignisses verwiesen.(33) Und doch muss man das Dictionnaire de la langue française (1863-73) von Emile Littre abwarten, bis sich die neue verallgemeinerte Bedeutung "grand malheur, fin deplorable" (großes Unglück, schlimmes Ende) definitiv durchgesetzt hat. Das Dictionnaire universel du XIXe siecle von Pierre Larousse (1866-76 veröffentlicht) erklärt das Wort zum Synonym von "calamite". Nachdem der Brockhaus im 19. Jahrhundert zum ersten Mal vermerkt, dass ein Naturereignis als Katastrophe angesehen werden kann, halten sich die deutschsprachigen Nachschlagewerke an die neutrale Definition einer plötzlichen Wendung.(34)
     Wahrscheinlich kommt das Wort Katastrophe hie und da schon öfters vor. 1784 verwendet es eine deutschsprachige Zeitung in einem Bericht zu Überschwemmungen.(35) Ein Almanach aus dem Jahre 1800 spricht von "Katastrophen", die von Lawinen verursacht worden sind.(36) Im 19. Jahrhundert gehört der Terminus auch noch zum Wortschatz der Geologie, die die Katastrophismustheorie in Umlauf bringt, nach der die Veränderungen an der Erdoberfläche von plötzlichen Kataklysmen herrühren. Vor dem 20. Jahrhundert wird der Begriff im Sinne von "Naturkatastrophe" nicht allgemein gebräuchlich. Diese sprachliche Anpassung behauptet sich dann im Französischen, wo im 19. Jahrhundert für die Formation der Erdoberfläche weiterhin gern das bei Naturwissenschaftlern gebräuchliche Wort "revolutions" benutzt wird. Die Übertragung der Bedeutung auf andere Gebiete erfolgt erst später. In der Fachliteratur gibt es das Konzept der medizinischen Katastrophe nicht vor den 1960er Jahren, und es hat dort erst seit kurzem Eingang gefunden mit dem Begriff "Katastrophenmedizin".(37)
     Ein Vergleich des Wortschatzes, der anlässlich der Überschwemmungen im Unterlauf der Rhone (Bas-Rhone) 1856 und 1993/94 gebraucht wird, veranschaulicht diese Entwicklung. Mitte des 19.Jahrhunderts sind die am häufigsten gebrauchten Begriffe "desastre" (Unheil, 32 Vorkommen), "sinistre" (Schadensereignis, 17 Vorkommen), "fleau" (Geißel, 11 Vorkommen), "calamite" (Missgeschick, 8 Vorkommen); das Wort "catastrophe" taucht nur zweimal auf. Ende des 20. Jahrhunderts ist 22 Mal von "catastrophe" die Rede, während "desastre", "fleau", "calamite" aus dem Wortschatz völlig verschwunden sind und "sinistre" nur zweimal erwähnt wird, sieht man vom Gebrauch des Wortes "sinistres" (Geschädigte) ab, das den alten Gebrauch von "victimes" (Opfer) abgelöst hat (ein Wort, das heute Verwundeten und Toten vorbehalten ist). Hingegen bedient sich das 20. Jahrhundert sehr häufig des Wortes "risque" (Ri_siko, 33 Vorkommen gegenüber einem einzigen in 1856) und greift auch auf "securite" (Sicherheit, 16 gegenüber 1) und auf "protection" (Schutz, 22 gegenüber 0 Vorkommen) zurück.(38) Diese Neuerungen in der Bedeutung entsprechen gänzlich dem Muster der radikalen Trennung von Mensch und Natur, wie sie im 19. Jahrhundert vorherrscht. Die Natur erscheint als Bündel von Kräften und Erscheinungen, deren Mechanismen die Wissenschaft zu ergründen sucht und für deren Beherrschung die Technik das Know-how bereitstellt. Man könnte sagen, dass der Begriff Katastrophe aus der Scheidung von Mensch und Natur geboren wird, die die Moderne kennzeichnet, ähnlich wie der deutsche Philosoph Joachim Ritter (1903-1974) auch die Ästhetisierung der Natur in der Landschaft erklärt.(39)
     Die Gleichsetzung von Katastrophe und Naturunglück drängt sich dem abendländischen Bewusstsein zwangsläufig auf. Ganz konkret übersetzt, scheint die Anzahl schlimmer Vorkommnisse vom 19. Jahrhundert an zuzunehmen - und deren materielle Folgen werden immer verheerender.(40) Dies wäre eine der Konsequenzen der aggressiven Aktivitäten der menschlichen Gesellschaft, die den Aspekt eines unvorhersehbaren Zufallsereignisses verdrängen, um die Katastrophe in ein Ereignis umzuwandeln, das auf menschlichem Versagen beruht. Mit anderen Worten, eine "Naturkatastrophe" ist vorab nur potentiell katastrophal, da ihr vor allem menschliche Eigenschaften diesen Status verleihen. Sie wird nur in ihrer Auswirkung auf die menschlichen Gesellschaften als solche wahrgenommen.(41)
     Seit den Jahren 1970-80 hat die Anthropologie, die sich vorrangig um eine Strukturierung der Katastrophenerfahrungen bemüht, die Verwundbarkeit zum zentralen Konzept gemacht. Denn weil die zur Erklärung herangezogenen Faktoren mehr in der Gesellschaft selbst als in den natürlichen Bedingungen liegen, ist die Einschätzung des Grades an Verwundbarkeit zum Hauptgegenstand dieser Forschung geworden. Da die Verwundbarkeit aus wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten resultiert, ist sie von vielen Faktoren abhängig, je nach Gesellschaft, historischer Epoche, Art der Wahrnehmung und Darstellung des als katastrophal bezeichneten Ereignisses.(42) Sie ist auch ein Forschungsgegenstand der Historiker. Häufig nähert man sich ihr in gelehrten Monographien, die durch die Auswertung lokaler Quellen überaus wertvoll sind. Zahlreiche Arbeiten haben die Katastrophenphänomene darüber hinaus in ein weites gesellschaftliches Umfeld eingeordnet und betonen ihren gleichsam strukturalen, mentalitätsoffenbarenden Charakter. Hier denkt man insbesondere an die Untersuchungen von Jean Delumeau zu Angst und Sicherheitsgefühl im Abendland, für den die Naturkatastrophen eine Art Folie bilden.(43) Sein Ziel war es, die Rolle der Kirche in diesem umfänglichen Prozess zu entschlüsseln, der diffusen Ängsten Sinn zuschreibt und so einen Beitrag leistet, die Bevölkerung zu beruhigen. Und nicht zuletzt ist der grundlegende Artikel von Lucien Febvre zu erwähnen, der vor einem halben Jahrhundert angeregt hat, das Sicherheitsbedürfnis und seine jeweiligen Erscheinungsformen in der abendländischen Kultur zu untersuchen.(44)
     Für einige Autoren ist die Lust an Katastrophen ein konstitutiver Bestandteil der Kultur der Postmoderne, ebenso wie die Pflicht zu gedenken, deren Pendant sie darstellt. Das gefühlsbestimmte Interesse für die Vergangenheit und die Sensibilität für Katastrophen decken sich in der Praxis.(45) Sicherlich ist der Erinnerungsstrom, der das Geschichtsbewusstsein seit den 1990er Jahren kennzeichnet, mit den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts gekoppelt, mit Kriegen, Shoah und Völkermorden. Doch auf anderer Ebene vollzieht sich die Erinnerungsarbeit stets an tiefen, oft verdrängten sozialen und kulturellen Rissen, die irgendwann gewaltsam aufgebrochen sind. Der Erinnerung wohnt eine sakrale Dimension inne, deren sich die Geschichte gerade zu entledigen sucht, um von den Umbrüchen eine emotionsfreie, strukturierte und distanzierte Vorstellung zu vermitteln. Bei ihren Studien zur Sozialgeschichte des Alpenraums hat Anne-Marie Granet-Abisset das Erinnern als eine wesentliche Komponente bei der Bewältigung von Naturkatastrophen herausgestellt.(46) Und der Soziologin Gaëlle Clavandier war es ebenfalls wichtig, zwei Dimensionen des Erinnerns wiederherzustellen. Die erste ist kommemorativ, kodifiziert, normiert, legitimiert und offiziell, die der Denkmäler und Gedenkfeiern. Sie muss "dafür sorgen, dass die Bedingungen für eine Rückkehr zu der Ordnung geschaffen werden, wie sie vor dem Unglück herrschte", und sie geht von der Annahme aus, dass ein "Heilungsprozess" auf Vergessen und Distanzierung beruht. Die andere Dimension wird als ereignisgeschichtlich bezeichnet. Es handelt sich um ein verstecktes Erinnern. Sie besteht aus einem langsamen Aneignungsprozess, bei dem das Unglück wieder und wieder durchgekaut wird, "eine Arbeit am Ereignis selbst, um es leichter zu überwinden". Solche Formen "kollektiven Wissens um die Katastrophe" stoßen auf Misstrauen bei den zuständigen Machthabern. Sie können nämlich zu Handlungsweisen führen, die als unvernünftig, ja bedrohlich für die im Geschichtsprozess Handelnden betrachtet werden, insbesondere wenn sich die Gerüchteküche mit vorschnellen Schuldzuweisungen zufrieden gibt.(47)
     Noch in jüngster Zeit hat sich das Feld zusätzlich erweitert, und zwar um die Umweltthematik, die es ermöglicht, Daten der Naturwissenschaften mit denen der Sozialwissenschaften kurzzuschließen. In diesem Zusammenhang kann die große Untersuchung von Manfred Jakubowski-Tiessen zur Sturmflut von 1717 als Prototyp einer erneuerten Vorgehensweise gelten.(48) Die deutschen Historiker waren auch die ersten in Europa, die dem Erdbeben den Status eines globalen Ereignisses zugeschrieben haben.(49) Im französischsprachigen Bereich hat die Sozialgeschichte der Katastrophen den Arbeiten jener Forscher viel zu verdanken, die man mit Fug und Recht als "Grenobler Schule" bezeichnen kann. Historiker, die zum Kreis um Rene Favier und Anne-Marie Granet-Abisset gehören, haben den Bitten lokaler und regionaler Körperschaften entsprochen, die sich für das Lawinenrisiko und für durch Regengüsse verursachtes Hochwasser im alpinen Raum interessierten. Mit der Rolle als Zulieferer alter Dokumente unzufrieden, die ihnen andere, von den Naturwissenschaften herkommende Forscher zuwiesen, und engagiert in Projekten der Risikoprävention, ist es ihnen gelungen, nicht nur der Erinnerungsarbeit und den Risikokulturen wahre Legitimität zu verleihen, sondern auch eine einigende Rolle in diesem viele Fächer berührenden und insofern zwangsläufig aufgesplitterten Gebiet zu spielen und damit internationale Anerkennung zu finden.(50) Andere folgten ihnen mit wertvollen Monographien zu Bedrohungen durch Wasser und der Entfaltung eines vielschichtigen Diskurses um das Thema Erdbeben.(51)
     Diese zahlreichen grundlegenden Forschungen haben es ermöglicht, der Übermacht eines teleologischen Modells zu entkommen, das verkürzend chronologische Etappen aneinanderreiht. Damit hatte man sich etwas vorschnell mit der These eines Übergangs von einer resignativ-fatalistischen in eine sicherheitsorientierte Gesellschaft zufriedengegeben, von der allmählichen Befreiung von der Last der Natur zur unausweichlichen Konfrontation mit einer anderen, weit größeren Gefahr, dem Menschen selbst. Es ist eine unzulässige Vereinfachung, sich an "drei deutlich zu unterscheidende Phasen" zu halten, um damit die Geschichte zu periodisieren. Die erste wäre die des strafenden und rächenden Gottes; die zweite, fatalistischer Natur, würde mit der Aufklärung enden; die dritte lastete dem Menschen die Verantwortung an, wobei die Entwicklung von eindeutigen Erklärungen (die Suche nach dem Sündenbock) bis hin zu mehrdeutigen Ableitungen reicht.(52) So pädagogisch sie auch scheinen mag und auch wenn sie nicht gänzlich falsch ist, gilt es, diese Chronologie zu überprüfen und zu verfeinern.
     In Wirklichkeit sind die zeitlichen Abläufe viel stärker ineinander verflochten. Die Katastrophe ausgehend von Kategorien zu untersuchen, die jede Gesellschaft in ihrer jeweiligen Zeit erarbeitet hat, die Pluralität der Diskurse zu ermitteln und nach den jeweiligen Akteuren zu unterscheiden, dies sind fortan die Prämissen einer jeden Forschungsarbeit. Der Vielzahl verheerender Ereignisse Sinn zuzuschreiben, haben die Gesellschaften vor allem versucht. Wissenschaftliche Erklärung, Rückgriff aufs Religiöse, ästhetische Sublimierung, unterschiedliche Formen von Fiktion und bildlicher Inszenierung, all dies sind kulturelle Aneignungsformen zur Bewältigung der Katastrophe bzw. zur Vorwegnahme des Risikos.
     Der erste Teil dieses Buches befasst sich mit der sogenannten "traditionellen Gesellschaft" des 16. bis 18. Jahrhunderts und ihrer symbolischen Verarbeitung von Naturkatastrophen. Hier ist das ständig wiederkehrende Wort die "Plage" oder "Geißel". Es bedeutet, dass sich die Unglücksfälle in ein Erklärungsmuster einschreiben, bei dem die göttliche Vorsehung eingreift, um Menschen, die Normen verletzt haben, zu mahnen, zu strafen und zu bessern. Die Beherrschung der Naturgewalten ist allein Sache der Vorsehung. Es wäre jedoch falsch, sich mit einer allzu banalen Erklärung zufrieden zu geben. Die alten Gesellschaften sahen sich Erdbeben und Meteoren nicht passiv unterworfen! Größere Befindlichkeitsunterschiede bestehen auch zwischen der katholischen und der protestantischen Kultur, und der Rückgriff auf eine Intervention Gottes schützt nicht vor politischer Instrumentalisierung. Auch darf man nicht das Erfahrungswissen um natürliche Prozesse vernachlässigen, die deren Autonomie und physikalische Gesetzmäßigkeit unterstreichen. All dies trägt zur Erarbeitung von Erklärungsmodellen bei, für das Vorbeiziehen eines Kometen, Missernte, Epidemie oder Überschwemmung, die weit weniger übereinstimmen, als es den Anschein hat. Überdies bestimmen Bezüge auf die Bibel die Ikonographie. Jede Überschwemmung wird am Modell der Sintflut der Genesis gemessen, das kleinste Feuer in der Stadt verweist auf das Schicksal von Sodom und jedes Erdbeben wird als Präfiguration des Jüngsten Gerichts angesehen. So sind die unheilvollen geschichtlichen Ereignisse, von der Krise der Reformation, den Kriegen des 17. Jahrhunderts bis hin zu den revolutionären Umbrüchen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Gelegenheiten, die Metaphorik der "Katastrophe" zu bemühen. Der Gang der Dinge scheint dabei stets den Beobachtern Recht zu geben, die ihre Zeit in Begriffen von Dekadenz analysieren.
     Der zweite Teil beginnt mit der Katastrophe von Lissabon 1755, die ein neues Zeitalter in der Risikowahrnehmung eröffnet. Sie verlagert die Suche nach Erklärungen für jede Form von Übel auf den Menschen, unter Berücksichtigung der Wechselbeziehungen, in die Natur und Gesellschaft eingebunden sind. Nicht Gott ist der Strafende, sondern die Hybris menschlichen Eingreifens in die Welt, die kontraproduktiv wird, wenn sie das natürliche Gleichgewicht gefährdet. Der Bildungselite wird es genehm, die Dimension der Vorsehung aus der Analyse auszunehmen. Die Notwendigkeit von Präventivmaßnahmen und die Einhaltung sozialer Normen einzuschärfen, dient den Interessen derer, die über die wirtschaftliche und soziale Ordnung bestimmen. Nun kann das Fortschrittsdenken sehr wohl den Glauben an die Vorsehung ersetzen, doch genügt dies nicht, um den alltäglichen Ängsten der Bevölkerungen zu begegnen, die von Katastrophen ereilt werden. Bei allen schier unerschöpflichen Kommentaren bleibt stets die Frage nach dem Warum. Die rationale Erklärung enthebt uns nicht der Notwendigkeit, weiterhin mit den Bedrohungen zu leben. Ereignet sich eine Katastrophe, wie beispielsweise in Zeiten der großen Choleraepidemie um 1830, so nehmen zum einen sogenannte abergläubische Praktiken (die Schlachtung der Katzen) und zum andern die Ausübung von Frömmigkeitspraktiken beträchtlichen Raum ein. Gleichsam als Kontrapunkt zu der lauthals verkündeten Desakralisierung paroxistischer Ereignisse beobachtet man darüber hinaus eine bemerkenswerte Tendenz zur ästhetischen Sublimierung. Kaum bekannt ist, dass die außergewöhnlichen Orange-, Rot- und Rosatöne, wie sie auf mehreren Sonnenuntergängen bei William Turner zu finden sind, das ferne Echo auf den Ausbruch des Tambora in Indonesien von 1815 darstellen oder dass der aufgrund von Brechungen des Lichts an den Ufern der Themse flimmernde Himmel den Maler William Ascroft dazu inspiriert hat, die Eruption des Krakatau (1883) in der Sundastraße bildlich einzufangen. Damals konnte noch niemand ahnen, zu welchem Ausmaß an Zerstörung Rivalitäten unter Menschen führen könnten. Vielmals angekündigt, erreicht die Apokalypse mit dem Ersten Weltkrieg erstmals ihre banal irdische, grauenhafte, ebenso bestialische wie sinnlose Verwirklichung.
     Im dritten Teil wird dargelegt, wie weit die abendländische Gesellschaft mit der Shoah und Hiroshima noch gegangen ist. Um die grenzenlose menschliche Barbarei sprachlich zu benennen, entlehnt der Völkermord an den Juden dem biblischen Vokabular ein Wort, das ursprünglich eine Naturkatastrophe bezeichnet hat. Nach den Worten des Friedensnobelpreisträgers von 1986, Elie Wiesel, können angesichts der "Nacht" und der "Gottesfinsternis" nur theologische Allegorien das Entsetzen zum Ausdruck bringen. Gott habe die Welt verlassen und habe sich aus der in ihrem Verlauf nunmehr gänzlich undurchschaubar gewordenen Geschichte verabschiedet. Mit der Atombombe erleben wir zum ersten Mal augenfällig die unerhörte faktische Erprobung des Selbstvernichtungspotentials des Menschen.
     Paradoxerweise wächst die Verwundbarkeit, je mehr Raum die Technik in der Lebensführung einnimmt, und die Ungewissheit kommt mit Macht zurück. Nicht vor den 1970er Jahren geht das Wort Risiko in den Sprachgebrauch ein, von der Wirtschaft bis zur Medizin, vom Individuellen zum Kollektiven, von der Natur bis zur Gesellschaft. Von nun an ist eine Distanzierung nicht mehr möglich; der die Furcht auslösende Gegenstand kann nicht mehr ausgemacht werden. Wir befinden uns in der Risikogesellschaft. Das Ende der 1980er Jahre aufkommende sogenannte Vorsorgeprinzip, das dem Gedanken verpflichtet ist, selbst bei fehlender Gewissheit sei Handeln geboten, ist daraus die Quintessenz. In den 1970er Jahren sind die Angst vor der Kernkraft, die Entdeckung des Klimawandels und, seit den 1980er Jahren, die Phobie vor Industriekatastrophen die Menetekel, die die heutigen Ängste schüren. Nie zuvor hat das Motiv der Apokalypse so viele literarische Werke und Filme (mit einem eigenen Genre, dem Katastrophenfilm) hervorgebracht. Kaum verwunderlich ist somit das breite Interesse, das Wissenschaftlern entgegengebracht wird, die im Zauber bezifferter Modellentwürfe surfen und synthetische Bilder von überfluteter Erde und Videoanimationen zum Ozonloch und zum Abschmelzen der Polarkappen kommentieren. Noch nie haben ökologische Zukunftsprojektionen in solchem Ausmaß den Diskurs der Medien beherrscht, die die Leichtgläubigkeit eines naturwissenschaftlich meist völlig ungebildeten, aber emotionshungrigen, vom Unglück anderer faszinierten Publikums ausschlachten.
     Die jüngsten Ereignisse, der 11. September und der Tsunami, haben live und in Echtzeit übertragen, zur großen Bestürzung der Fernsehzuschauer Wirklichkeit werden lassen, was man bisher nur als Fiktion kannte. Das Trauma ruht von nun an im Herzen der abendländischen Kultur.

Teil 2