Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.04.2001.

TAZ, 17.04.2001

Daniel Bax war dabei, wie sich die Berliner Volksbühne zu Ostern unter dem Motto "Kanak Attack" in eine "Volkshochschule in Sachen europäischer Einwanderungsrealität" verwandelte: "Im Roten Salon nuschelte ein DJ kleine Erläuterungen zu den Breakbeat-Bricolagen des Londoner 'Asian Underground', später referierte im gleichen Raum Mark Terkessidis über 'Kanak Chic in der Berliner Republik'. Die Autoren Emine Sevgi Özdamar, Raul Zelik und Imran Ayata lasen aus ihren jeweils jüngsten Werken, während im Grünen Salon der Regisseur Thomas Arslan Ausschnitte aus Filmen, von Quentin Tarrantinos 'Jackie Brown' bis zur deutschen Proll-Komödie 'Erkan und Stefan', mit schüchternem Kommentar versah." Klingt aufregend.

Weitere Artikel: Peter Fuchs liefert den dritten Teil seiner Betrachtung über den Umgang mit Behinderten aus systemptheoretischer Perspektive. Jenni Zylka schreibt einen Nachruf auf den Punk der ersten Stunde Joey Ramone von den Ramones ("Die Ramones waren stumpfer, lauter, prolliger und künstlicher.") Und Jochen Schmidt bespricht Michael Stauffers Buch mit dem seltsamen Titel "I promise when the sun comes up I promise I'll be true1So singt Tom Waits. Ich will auch Sänger werden".

FR, 17.04.2001

Eine traurige Bestandsaufnahme über den Stand der Ballettkunst liefert Sylvia Staude anlässlich der Ballettwochen in München und Stuttgart: "Es sind nicht viel mehr als eine Handvoll Choreografen, deren Handlungsballette länger Bestand haben als eine Theatersaison. Und noch weniger, die dabei einen entschiedenen - und geglückten - Schritt in die Moderne machen. Der Schwede Mats Ek steht hier mit Abstand an der Spitze, doch der 1945 geborene gehört, wie auch Neumeier oder Hans Spoerli, zu einer Generation, mit deren Abgang von der Bühne man innerhalb der nächsten zehn Jahre rechnen muss. Wie auch mit dem von Hans van Manen (der die 70 überschritten hat), Jiri Kylian und auch William Forsythe. Die zwar keine Handlungsballette im klassischen Sinn liefern, deren Werke aber einen hohen Prozentsatz des Ballettrepertoires ausmachen - weltweit."

Besprochen werden die Ausstellung "Let's Entertain" im Kunstmuseum Wolfsburg und Elfreide Jelineks Stück "Macht nichts" in Zürich.

SZ, 17.04.2001

Harald Eggebrecht porträtiert eine der "wirklich bedeutsamen musikalischen Erscheinungen unserer Tage", nämlich die amerikanische Geigerin Hilary Hahn: "Die Reinheit der Intonation verleiht ihrem Ton ungeahnte Fülle; ihr variables Vibrato bleibt stets Intensivierungsmittel, nie Selbstzweck; die Beherrschung der Bogengeschwindigkeit und des Verhältnisses zwischen Bogenzug und -druck gibt ihrem Spiel staunenerregende Selbstverständlichkeit und klangliche Dichte. Sie vermeidet grundsätzlich Effekte um ihrer selbst willen wie Schluchzer, Tempowechsel oder Forcierungen. Noch scheinen Brahmssche Schwermut oder Prokofjews bitterer Sarkasmus nicht ganz in ihre Welt heller Geistesklarheit zu passen. Macht nichts, sie hat für Expeditionen in diese und andere Kontinente ein ganzes Leben vor sich. Dass sie musikalisch nämlich nichts vorspiegelt, was sie nicht wirklich erfahren hat, macht ihre unmittelbare Überzeugungskraft aus." Wir haben uns mal angesehen, wie so ein Klassikstar im Netz präsentiert wird und widmen Hilary Hahn unseren Link des Tages.

Der Arzt und Rechtsanwalt Rainer Erlinger macht darauf aufmerksam, dass sich aktive Sterbehilfe auch in Deutschland auf rechtliche Legitimationen berufen kann: " Der Bundesgerichtshof formuliert es so: 'Eine ärztlich gebotene schmerzlindernde Medikation bei einem sterbenden Patienten wird nicht dadurch unzulässig, dass sie als unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene unvermeidbare Nebenfolge den Todeseintritt beschleunigen kann.' Jeder Jurastudent im ersten Semester erkennt in diesem Satz die Umschreibung eines klaren Tatbestandes: die aktive Tötung mit bedingtem Vorsatz. Zulässig nur wegen ihrer Rechtfertigung: 'Denn die Ermöglichung eines Todes in Würde und Schmerzfreiheit gemäß dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen ist ein höherwertiges Rechtsgut als die Aussicht, unter schwersten, insbesondere sogenannten Vernichtungsschmerzen, noch kurze Zeit länger leben zu müssen.'"

Weitere Artikel: Wolfgang Eichwede stellt fest, dass es Hoffnung für die Beutekunst-Gespräche gibt. Holger Liebs schreibt über die Mode der Lounges in den Museen. Heribert Prantl schreibt zum Tod des Rechtsphilosphen Arthur Kaufmann. Hans Neuenfels antwortet auf die Frage, was ihn zuletzt zum besseren Menschen gemacht habe. Amelie Niermeyer erzählt im Interview über ihre Pläne als Theaterintendantin in Freiburg. Besprochen werden der Film "15 Minuten Ruhm", Grabbes "Scherz, Satire, Ironie..." in Bonn, ein Händel-Ballett von John Neumeier in München, eine CD mit Rossinis letzter Messe, der Zeichentrickfilm "Hilfe, ich bin ein Fisch" und eine dem Architekturtheoretiker Hans van Laan gewidmete Ausstellung in Essen. Schließlich gibt es einen Artikel zum Tod von Joey Ramone und einen zum 70. Geburtstag des Bill Ramsey.

FAZ, 17.04.2001

Die Internetausgabe der FAZ wird immer chaotischer. Heute morgen um halb neun stand immer noch "12. April" über den Seiten. Präsentiert wurden Artikel aus der ganzen letzten Woche, aber durchaus auch vom Tage. Zum Glück gibt es sie noch auf Papier.

Nach zermürbend deutschen Debatten übers Klonen ("Darf man?" "Man darf nicht!") meldet sich mit Vladimir Bugaj mal wieder einer jener Repräsentanten der "Dritten Kultur" zu Wort, die von der FAZ vor einem Jahr populär gemacht wurden. Bugaj, Chef der Firma IntelliGenesis, erzählt, welche Bücher für seinesgleichen Inspirationsquellen boten. Herauskommt eine wenig überraschende Liste von Science-Fiction-Romanen und -Filmen. Und außerdem nennt Bugaj drei Grundbücher, ohne die gar nichts geht: "Ganz oben auf der Liste der bei Cybernauten beliebten Werke stehen drei Bücher: die Bibel, 'Ulysses' von James Joyce und die 'Illuminatus'-Trilogie von Robert Anton Wilson und Robert Shea. Bei der Erschaffung eines neuen technologischen Universums schauen heutige Weltenschöpfer auf den biblischen Bericht über die Kreation der Welt. Die Darstellung des Selbstschöpfungsprozesses bei Joyce verdeutlicht wiederum, was wir tun, während wir die neue Welt erschaffen. Die 'Illuminatus'-Trilogie erkundet nun in satirischer Überzeichnung die Machtdynamik der postmodernen Gesellschaft und den Kampf zwischen Politikern und Machthabern aus der herrschenden Elite - ein Kampf, den nach Ansicht vieler Mitglieder der Cyber-Elite möglicherweise die Politiker durch die Anwendung unserer Technologien für sich entscheiden werden."

Der chilenische Autor Ariel Dorfman kommt nochmal auf die These zurück, dass eine Verfolgung ehemaliger Diktatoren durch eine internationale Gerichtsbarkeit die noch amtierenden nur noch fester in ihre Posten drückt. " Der Name, der mir immer wieder genannt wurde, war der Milosevics und erst recht, nachdem der damalige Präsident Jugoslawiens im Mai 1999 vom Internationalen Gerichtshof für Kriegsverbrechen in Den Haag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt worden war. Warten Sie es ab und Sie werden sehen, sagten sie mir: Der Prozess gegen General Pinochet wird die Herrschaft Milosevics um ein Vielfaches verlängern. Der jugoslawischen Diktatur ist ein großer Dienst erwiesen worden. Warten Sie ab, sagten sie mir, und Sie werden sehen."

Kerstin Holm erzählt, wie der russische Sender NTW endgültig von den staatsnahen Kräften übernommen wurde, gegen die er sich noch ein wenig gewehrt hatte. In der Nacht zum Karsamstag verjagten neue Wchleute die alten: "Dann verlangten sie von den NTW-Mitarbeitern die Unterschrift unter eine Loyalitätserklärung zum neuen Management. Innerhalb kurzer Zeit verband sich die Mehrheit der Belegschaft mit den neuen Herren. Zwei besonders profilierten Journalisten, die in der letzten Woche mit dem abgesetzten Generaldirektor Jewgeni Kisseljow gebrochen hatten, Tatjana Mitkowa und Leonid Parfenow, gab die neue Führung gleich wichtige Posten."

Weitere Artikel: Werner Spies schreibt zum Tod des Minuit-Verlegers und Beckett-Entdeckers Jerôme Lindon. Auf der Medienseite erfährt man Neues über Querelen um das Adolf-Grimme-Institut in Marl und dass die New York Times wegen rückläufigen Anzeigenaufkommens Personal entlässt. Ferner gratulieren Gerhard Stadelmaier Hilmar Thate und Dieter Bartetzko Bill Ramsay zum jeweils Siebzigsten. Auch erfährt man, George W. Bush auch die schwarze Nachkommenschaft Abraham Lincolns zu offiziellen Zeremonien einlädt.

Besprochen werden eine Ausstellung der Hamburger Kunsthalle zur Geschichte der großen Privatsammlungen in Hamburg vor 1933, ein "Nabucco" in Frankfurt, eine große, dem Universalgelehrten Athanasius Kircher gewidmete Ausstellung in Rom, Herbert Lauermanns Oper "Die Befreiung" in Ulm, Claire Denis' Film "Beau Travail", Prokofjews "Spieler" in der Met und ein Hannoveranisches Symposion von Landschaftsarchitekten.

NZZ, 17.04.2001

Paul Jandl berichtet über die jüngst wiedergefundenen Akten der Gestapo in Wien und macht auf ihre Bedeutung aufmerksam: "Historisch relevante Dokumente über die Arbeit der Gestapo gibt es heute nur wenige. Denn mit dem 'Erlass des Reichsinnenministeriums zur Zerstörung von amtlichen Dokumenten' vom Oktober 1944 folgte zu Kriegsende die Vernichtung kompromittierenden Materials. In Wien wurde damit erst 1945 begonnen, dann aber gründlich gearbeitet. Kleinere Bestände von Originalakten finden sich heute nur noch in Düsseldorf, Würzburg oder Wiesbaden. Der Wiener Fund ist für die ihn bearbeitenden Historiker interessant, weil er mit den höchst bürokratischen Aufzeichnungen auch authentischen Einblick in die Psychologie eines Systems gewährt."

Andreas Petyko liefert Impressionen aus der zweitgrößten kubanischen Stadt - Miami: "'Wie könnten die Amerikaner für Kuba eine Gefahr sein; wir haben sie sogar hier in Miami vertrieben', soll der verstorbene Exil-Führer Jorge Mas Canosa an geschlossenen Veranstaltungen aufgetrumpft haben. Etwa die Hälfte der zwei Millionen Einwohner in Miami nennen sich 'cubano'. Sie dominieren je länger, je mehr die Stadt. Immer mehr Kandidaten und Sieger bei den Bürgermeisterwahlen sind Kubaner, über 20 000 Firmen sind kubanisch, in den Chefetagen der wichtigsten Banken sitzen Kubaner, über ein Dutzend Fernseh- und Radiosender sind kubanisch, der Lebensstil, der Alltag, die Feste und die Sprache in Miami sind kubanisch."

Besprochen werden eine Ausstellung über den italienischen Futurismus in Hannover, eine Ausstellung über das Sanatorium Dr. Barner in Braunlage im Harz (es handelt sich hierbei um eines der wenigen vollständig erhaltenen Jugendstil-Ensembles in Deutschland), eine "Cosi" in Lyon, eine Ausstellung über Gabriele D'Annunzio in Rom, eine Ausstellung über den Architekten Massimiliano Fuksas in Bologna und einige Bücher, darunter Feridun Zaimoglus "Liebesmale". (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)