Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.07.2001.

FAZ, 23.07.2001

In einem Kommentar zum Gipfel von Genua beklagt Dirk Schümer den Niedergang des Anarchismus: "Früher platzierten sie sich mit Dolch und Revolver an Straßenecken und feuerten auf ahnungslose Monarchen. Heute sammeln sie sich vor den Linsen der mitgereisten Kameras, um semantische Selbstbefriedigung zu üben."

Michael Hanfeld erzählt die Geschichte des deutschen Auslandssenders ChannelD, der ein paar Rechte von Serien und Talkshows zusammengekauft hat und mit einem Etat von zwei Millionen Mark auf Sendung geht ? etwas das ARD und ZDF und Deutsche Welle mit einem Etat von 60 Millionen noch nicht geschafft haben: "Dem reichsten und teuersten öffentlichen Fernsehen der Welt, das auf mehr als zwölf Milliarden Mark an Gebühreneinkünften pro Jahr kommt, zuzüglich 550 Millionen Mark jährlich für die Deutsche Welle, und dessen unendliche Nabelschau regelmäßig in dem Gejammer endet, dass für irgend etwas wieder einmal das Geld nicht reiche, demonstriert eine Garagenfirma mit Firmensitz in Bremerhaven, wie man im Handumdrehen die Welt erobert: ohne großes Geld und ohne große Worte."

Weitere Artikel: Im Drama der deutschen Biodebatte kommt es mal wieder zum Showdown Professor gegen Professor: Der Rechtsphilosoph Norbert Hoerster (pro) polemisiert gegen die gen-ethischen Positionen des Robert Spaemann (contra) und wirft ihm Fundamentalismus vor. Bernd Hüppauf denkt über eine "Verschiebung von Aufmerksamkeit" nach, die sich im Wort "Täterforschung" manifestiert. Der Literaturwissenschaftler Peter Bürger denkt über den Einfluss des Manierismus auf Ernst Ludwig Kirchner nach. Oliver Tolmein erzählt die Geschichte eines Zwitters, der als Mädchen aufwuchs, nun aber als Zwitter in seinen standesamtlichen Urkunden geführt werden will und damit die Gerichte verwirrt. Leo Wieland erzählt, dass es dem Fürsten Johannes zu Waldberg-Wolfegg gelungen ist, den Familienetat um zehn Millionen Dollar aufzubessern. Zu diesem Preis verkaufte er die "Waldseemüllerkarte" ? die erste Karte, auf der Amerika Amerika genannt wird ? an die Kongressbibliothek. Martin Thoemmes fragt nach der Zukunft der Ostsee-Akademie. Andreas Platthaus schreibt zum Tod des Lucky-Luke-Erfinders Morris.

Besprochen werden eine Ausstellung über Jean Leon Gerôme, einen der seinerzeit berühmtesten akademischen Malers des 19. Jahrhunderts, in Pittsburgh, Jan Fabres Stück "Je suis sang" beim Theaterfestival von Avignon, Opern von Carlisle Floyd und Giacomo Puccini bei den Bregenzer Festspielen, eine Gillian-Wearing-Ausstellung im Münchner Kunstverein, eine Ausstellung mit Reliquien von Nobelpreisträgern im Stockholmer Nobelmuseum und ein Auftritt der Sängerin Susan Deyhim beim Montreux Jazz Festival.

NZZ, 23.07.2001

Ohne näheren Anlass setzt sich Thomas Sprecher mit Thomas Manns kurzer Studienzeit am Münchner Polytechnikum auseinander: "Es fällt auf, dass Thomas Mann, soweit bekannt, ausschließlich Vorlesungen wählte, die am Nachmittag stattfanden." Und das zweite und letzte Semester sah so aus: "Das Kollegheft zeugt vom Besuch lediglich zweier Stunden. In der ersten schreibt Thomas Mann ganze neun Wörter auf, und in der zweiten fällt die Bemerkung: 'Außerordentlich langweilig.'"

Philipp Blom sieht die griechische Forderung nach Rückgabe der berühmten Elgin Marbles ? Skulpturen, die einst Byron inspirierten und sich heute im Britischen Museum befinden ? recht skeptisch: "Die Skulpturen wurden nicht gestohlen, sondern von der damaligen türkischen Regierung rechtmäßig erworben, und der moralische Anspruch Griechenlands auf die Parthenon-Skulpturen, wie die Griechen sie nennen, ist nicht nur schwer zu begründen, er würde auch, falls ihm stattgegeben würde, einen internationalen Präzedenzfall mit unabsehbaren Folgen schaffen."

Weitere Artikel: Roman Hollenstein schreibt zum 70. Geburtstag des Architekten Arata Isozaki. Besprechungen widmen sich dem Musikfest von Lockenhaus, einer Ausstellung über Jugendkultur in Deutschland im Historischen Museum der Pfalz in Speyer und der Ausstellung "Vermeer and the Delft School" in der Londoner National Gallery.

SZ, 23.07.2001

Bei den Demonstrationen in Genua hat Willi Winkler besonders eine Gruppe von Autonomen beeindruckt, die versuchten einen Geldautomaten zu zerstören. "Der Apparat reagiert auf Beschimpfungen ebenso wenig wie auf Schläge. Der Zorn der Angreifer wächst, ihre Gegenwehr ist bestenfalls mittelalterlich. Es ist ein Kampf mit ungleichen Mitteln: Die Feinde mögen sich echauffieren, wie sie wollen, treten, prügeln, brennen, der Geldautomat zeigt seine kapitalistische Fratze einfach nicht." Für Winkler ist diese Szene Beweis, dass die Welt wieder "fromm" wird: "In Genua, müssen wir uns vorstellen, hat der moderne, der ökumenische Kirchentag stattgefunden. Die Anbeter des Geldes feierten bei ihrem Jahrestreffen ihren einzigen Lebensinhalt, das schöne, ferne Geld. Sie sprachen über Schuldenerlass, sie wollten viel wegspenden und zu Hause das Staatsdefizit verkleinern. Draußen führten die Atavisten ihre Ethno-Tänze auf. Auch sie fielen nieder vor dem Mammon, schmähten das Geld aber, statt es zu lobpreisen, schlugen auf seine Götzenbilder ein und wollten zum wahren Glauben zurückfinden."

Andrian Kreye berichtet über die Kidnapping-Industrie in Kolumbien und erinnert sich, wie er selbst einmal in einen Entführungsfall verwickelt wurde. Rebellen hatten einen Deutschen entführt, Kreye sollte den Unterhändler spielen. Ein Kollege von der kolumbianischen Tageszeitung El Espectador riet jedoch ab: "Man wäre nicht der erste Unterhändler, den die Entführer ebenfalls festhalten, sagte er. Auf die Unterstützung der kolumbianischen Kollegen dürfe man auch als deutscher Journalist nicht zählen." Schließlich gab es im letzten Jahr 3076 Entführungsfälle in Kolumbien. "Warum sollte den ausländischen Opfern da eine Sonderrolle eingeräumt werden? Wer in den Urwald fahre, müsse ja auch damit rechnen, sich die Malaria zu holen. Mein Argument mit der Impfung ließ der Kollege vom El Espectador nicht gelten."

Weitere Artikel: C. Bernd Sucher meldet, dass Peter Brooks Pariser "Hamlet"-Inszenierung zum Berliner "Theaterwelten"-Festival kommt. Thomas Thieringer schreibt über die Aufführung des Oratoriums "Larf" und ein Fest von Mortier bei den Salzburger Festspielen. Und uwm berichtet, dass die Intendanz des Theaters in der Josefstadt ausgeschrieben wird.

Besprochen werden Christian Stückls Inszenierung von Felix Mitterers "Gaismair" in Telfs, eine Jeff-Koons-Ausstellung im Kunsthaus Bregenz, der Film "Cats & Dogs" von Lawrence Guterman, Peter Godmans Buch über die "Geheime Inquisition" und politische Bücher (siehe auch unsere Bücherschau des Tages heute ab 14 Uhr). Und Wolfgang Schreiber erzählt vom Auftritt Gidon Kremers und den öffentlichen Proben Sir Simon Rattles beim Musikfest im burgenländischen Lockenhaus: "Der Geist von Lockenhaus? Nicht besonders schwer zu fassen. Er entsteht aus der zeiträumlichen Nähe zur Musik, aus einer ungetrübten Konzentration auf sie ? und verwandelt scheinbar alle: die Künstler und das Publikum. So intensiv lässt sich Musik selten erleben."

FR, 23.07.2001

Karin Ceballos Betancur liefert Impressionen aus Genua: "Du hörst Metall auf Asphalt klappern, siehst den Rauch. Tränengas riecht süßlich, bevor es in der Nase sticht, in den Augen brennt wie Pfeffer, bis es die Luft vollends vergiftet und in der Lunge sticht. Du stolperst in Seitengassen, sie reichen Wasserflaschen weiter, Sanitäter vom Genoa Social Forum spülen die Augen mit Wassersprühflaschen. Jemand kommt auf dich zu, spricht in einer Sprache, die du nicht verstehst, aber er spricht ruhig und beginnt, deine Lider mit Zitronenhälften zu waschen." Wenn die Autorin so hübsch ist wie ihr Name, hätten wir das selbstverständlich auch sehr gern getan!

Weitere Artikel: Heike Blümmer berichtet vom Kongress "Musik und Maschine", der am Rande der Love Parade stattfand und bei dem sich Techno-DJs offensichtlich über geistiges Eigentum unterhielten. Und Heike Kühn bespricht den Film "Ressources humaines".
Stichwörter: DJs, Geistiges Eigentum, Techno, Genua

TAZ, 23.07.2001

Daniel Bax porträtiert die spanische Band Radio Tarifa: "Radio Tarifa verfolgen eine Form der Denkmalpflege. Oft ähneln ihre Kompositionen einem quasiarchäologischen Puzzlespiel, das der Frage gilt: Wie würde die spanische Musik heute wohl klingen, wenn die Reconquista der Iberischen Halbinsel im 15. Jahrhundert nicht so gründlich gelungen wäre?"

Weitere Artikel: Brigitte Werneburg würdigt die Werke des deutschen Fitnesspapstes Dr. med. Ulrich Strunz. Und Philipp Gessler bespricht eine Ausstellung über die Franckeschen Stiftungen und Preußen in Halle.

Schließlich Tom.