Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.09.2001. Zumindest die Fronten der Debatte klären sich: In der NZZ erinnert Richard Herzinger an die auch in Europa weit verbreiteten Stereotypen des Antiamerikanismus. Die FAZ druckt einen Text der US-Schriftstellerin Cynthia Ozick, die gegen die "Beschwichtiger" wütet.

NZZ, 24.09.2001

Richard Herzinger denkt über die globalen Figuren des Antiamerikanismus nach: "Der islamistische Extremismus treibt den Amerikahass derzeit auf die mörderische Spitze, doch sein Feindbild knüpft nahtlos an feststehende Vorurteile einer ideologisch und religiös breit gefächerten antiamerikanischen Internationale an. Es wäre falsch und demagogisch, jede radikale Amerikakritik mit den Perversionen des Terrorismus in Verbindung zu bringen. Doch auch in unseren Breitengraden wird bei der Verdammung der USA zu oft und zu bedenkenlos auf Klischees aus dem Bilderarsenal apokalyptischer Zivilisationskritik zurückgegriffen."

Der ägyptische Journalist Tarek Atia beschreibt die "zwiespältigen Gefühle in Nahost nach den Terroranschlägen": Bevor man sich einer Aktion gegen den Terrorismus anschließt, möchte man allerdings erst mal Israel durch die UNO verurteilt sehen: "Die Präsenz Israels droht nun auch die Kooperationsbereitschaft der arabischen Länder zu beeinträchtigen; der Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Mussa, nahm in dieser Hinsicht kein Blatt vor den Mund: 'Die arabischen Staaten können sich keiner Koalition gegen den Terrorismus anschliessen, der auch Israel angehört, weil Israel selbst sich des Terrorismus schuldig macht.'"

Weitere Artikel: Uwe Justus Wenzel berichtet über die Verleihung des Adorno-Preises an Jacques Derrida. Rolf Urs Ringger schreibt zum Tod von Isaac Stern. Horst Günther gedenkt Girolamo Cardanos, der vor 500 Jahre geboren wurde. Besprochen werden "Der Jude von Malta" in Luzern und Mozarts "Idomeneo" in Bern.

TAZ, 24.09.2001

Mark Terkessides beklagt die in unserer Gesellschaft allgegenwärtige Kriegsmetapher: "Das Einsickern des Krieges in die Eingeweide der Gesellschaft mochte in der westlichen Welt bislang als eine rhetorische Mobilmachung erscheinen - erst die Explosionen in New York und Washington waren, wie Susan Sontag schreibt, der Moment, 'an dem ein Übermaß an Wirklichkeit auf uns einstürzte'."

Weitere Artikel: Rene Aguigah berichtet von der Verleihung des Adorno-Preises an Derrida. Morten Kansteiner hat sich die Saisoneröffnung in Düsseldorf angesehen.

Schließlich Tom.

Hinzuweisen ist auf die Seite Interkulturelles, auf der der Islamwissenschaftler Peter Heine beklagt, dass der Verfdacht nun wieder auf die "üblichen Verdächtigen" fällt (könnte es nicht daran liegen, dass sie es waren?) Und der Soziologe Gerhard Armanski denkt über Gewalt zwischen Religionen nach.

SZ, 24.09.2001

Benjamin Barber, Autor des Buchs "Jihad vs. McWorld", schreibt einen Offenen Brief an Präsident George W. Bush: " Zu Recht können Terroristen als bösartige Nihilisten verurteilt werden, die nichts außer Zerstörung im Sinn haben. Und doch ist zugleich von einem Klima der Verdrängung und Hoffnungslosigkeit zu reden, in dem der Terrorismus erst entsteht. Wir müssen einer perversen Asymmetrie des globalen Systems ins Gesicht sehen, für die wir einige Verantwortung tragen. In unserem Engagement für den Welthandel und einer von allen moralischen Rücksichten befreiten Marktwirtschaft... haben wir den Kapitalismus und den Handel mit Arbeit, Kapital und Währungen globalisiert, ohne die demokratischen und zivilen Institutionen zu globalisieren..." In unserer Magazinrundschau verweisen wir auch auf ein Interview mit Benjamin Barber und geben weitere Links.

Claudia Tieschky erzählt die Geschichte von Eginald Schlattner und Hans Bergel. Der rumänische Autor Schlattner hat in dem auch in Deutschland viel beachteten Roman "Rote Handschuhe" über seine Haft und Anwerbung durch die Securitate geschrieben - Bergel, ein rumäniendeutscher Autor wirft ihm vor, die Geschichte geschönt zu haben. " Jetzt sind sich die beiden Männer, deren Biografien durch den sogenannten Schriftstellerprozess des rumänischen Geheimdienstes in Kronstadt 1959 verknüpft sind, zum ersten Mal seit über vierzig Jahren wieder begegnet. Bergel, der heute in der Umgebung von München lebt, war zu einer Lesung Schlattners nach Gauting gekommen."

Dreimal Derrida: Ulrich Raulff berichtet von der Verleihung des Adorno-Preises an Jacques Derrida: "Derrida sei immer Dissident gewesen, sagt sein Laudator Bernhard Waldenfels. Man muss, sagt der Dissident, wieder an ein Wort Adornos über Benjamin anknüpfend, sich absetzen von dem, 'worin stets die Philosophen sich einig waren' mit dieser Komplizenschaft muss man brechen." Auch ein Auszug aus der Rede Derridas wird dokumentiert: " Seit Jahrzehnten höre ich, wie man sagt, im Traum Stimmen. Manchmal sind es befreundete Stimmen, manchmal nicht. Es sind Stimmen in mir. Alle scheinen sie mir zu sagen: Weshalb solltest du nicht ein für allemal, in aller Deutlichkeit und in aller Öffentlichkeit, die Verwandtschaften zwischen deiner Arbeit und der Adornos anerkennen, ja in Wahrheit die Schuld, in der du Adorno gegenüber stehst?". Und schließlich gibt es noch ein Gespräch mit Derrida, der auch über die Attentate redet: Natürlich seien in erster Linie die Attentäter und ihre Hintermänner verantwortlich. "Verantwortlich ist aber auch eine bestimmte, seit langem betriebene amerikanische und europäische Politik gegenüber diesem Teil der Welt."

Zweimal Isaac Stern: Harald Eggebrecht schreibt zum Tod des Geigers. "Schon in frühen Jahren beschloss Stern, nicht in Deutschland und Österreich, den Ländern der Nazi-Täter, aufzutreten. Nur einmal, 1941, durchbrach er diese Schranke und spielte mit den Symphonikern in Wien." (So steht's da!) Auch hier wird ein Gespräch dokumentiert, in dem Stern noch einmal erklärt, warum er nicht mehr in Deutschland spielen wollte.

Weiteres: Burkhard-Müller-Ulrich berichtet, dass der amerikanische Journalismus sich nach den Attentaten einem neuen Ernst verpflichtet sieht. Thierry Chervel sieht die Intellektuellen in der Debatte über die Anschläge ins "finsterste 20. Jahrhundert" zurückfallen. Holger Liebs hat einem Vortrag des Architekten Rem Kohlhaas über "Shoppen" in Frankfurt gelauscht. Christopher Schmidt schreibt zur Saisoneröffnung mit Stücken von Jon Fosse und Lars von Trier am Düsseldorfer Schauspielhaus. Sebastian Wehlings erinnert an das Erscheinen des Nirvana-Albums "Nevermind" vor zehn Jahren, nach dem im Musikgeschäft angeblich nichts mehr war wie vorher".

Besprechungen widmen sich der 7. Istanbul-Biennale, der Deutschlandtournee von "Air", dem Film "The Hole" und der Choreographie "Woolf Phrase" von William Forsythe und dem Ballett Frankfurt.

FAZ, 24.09.2001

Einen wütenden Text gegen die "Beschwichtiger", den der New Yorker übrigens ablehnte, schickt die amerikanische Autorin Cynthia Ozick. Er verdient ein längeres Zitat: "Vor einem halben Jahrhundert zuckte das Land die Achseln, als nur die Juden Europas abtransportiert und verbrannt wurden - ein Achselzucken, das nicht nur Gleichgültigkeit gegenüber den Juden, sondern gegenüber einem universell Bösen bedeutete, das am Ende auch die Gleichgültigen verschlang. Bis vor kaum einer Woche, als nur die Juden Israels Ziel des Terrors waren, ersetzte man das alte Achselzucken durch einen Schwall herablassender Worte wie 'Zurückhaltung', 'übertriebene Gewalt' oder 'Kreislauf der Gewalt' und schließlich durch eine Orwellsche Sprache, die aus Bomben, Aufruhr, Schießereien und Freude über Blutbäder eine humanitäre Angelegenheit zu machen vermag. Jetzt verschlingt das neue Böse auch diese Beschwichtiger. Vielleicht bringt es sie zum Schweigen." Wohl kaum!

Michael Althen spricht mit Wim Wenders, der dem Kino nun schwere Zeiten voraussagt: "Man kann sagen, dass dieses Zusammenfügen von Bildern, dieser professionell sehr leichtfertige Umgang mit Explosionen und Katastrophen in den letzten Jahren damit an sein Ende gekommen ist. Ich weiß gar nicht, wer jetzt noch in diese Filme reingehen möchte."

Lorenz Jäger berichtet von der Verleihung des Adorno-Preises an Jacques Derrida: "Die Preisverleihung sollte ein deutsch-französisches Ereignis der Philosophie werden und die endlich erreichte Versöhnung von Frankfurt und Paris formell besiegeln. Aber ein leises Gefühl der Verspätung ließ sich bei dieser Zeremonie nicht abweisen. Was vor zwanzig Jahren ein kühner Schritt gewesen wäre, war schließlich nur noch unvermeidlich."

Weitere Artikel: Wolfgang Sandner schreibt zum Tod von Isaac Stern. Jordan Mejias beschreibt, "wie New York wieder zu sich kommt". Andreas Rossmann hat sich die Düsseldorfer Saisoneröffnung mit Stücken von Jon Fosse und Lars von Trier angesehen. Der Völkerrechtler Rudolf Dolzer erklärt die Paragrafen zum Schutz der Zivilbevölkerung. Reinhard Wandtner klärt uns über das posttraumatische Syndrom auf, das nun vielen Amerikanern droht. Siegfried Thielbeer schreibt zum Tod des China-Kenners Jürgen Domes. Auf der letzten Seite schickt Peter Richter eine Reportage von einer Berliner Friedensdemo. Gerd Roellecke setzt seine Serie über Urteile des Bundesverfassungsgerichts fort (diesmal geht's um Rundfunkurteile). Und Tilman Spreckelsen porträtiert den Autor Sherko Fatah, der den Aspekte-Literaturpreis erhielt.

Besprechungen widmen sich einer Ausstellung mit Porträts der Stuarts in der Nationalen Porträtgalerie Schottlands, William Forsythes neuem Stück "Woolf Phrase" in Frankfurt, den "Kindern des Olymp" am Hamburger Thalia Theater und einer Krakauer Tagung zum sozialistischen Bild des Helden.

Auf der Medienseite bespricht Verena Lueken den "Tribute to Heroes", den die Hollywoodgrößen zu Ehren der Toten in New York und Washington veranstalteten. Ferner geht's um die Partie "Monitor" gegen SC Freiburg und um Jürgen von der Lippe.

FR, 24.09.2001

Christian Schlüter berichtet von der Verleihung des Adorno-Preises an Jacques Derrida und von Derridas Rede: "Aufklärung, wie Derrida sie versteht, bleibt ein umfassendes und unvollendbares Projekt. Konkrete Hinweise auf die Umsetzung musste Derrida wohl auch deswegen schuldig bleiben." Dokumentiert wird auch die Laudatio von Bernd Waldenfels.

Weitere Artikel: "FR" schreibt zum Tod von Isaac Stern. Sylvia Staude bespricht William Forsythes Frankfurter Tanzabend "Woolf Phrase".