Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.12.2001. In der FAZ fragt David Grossman, ob Israel und die Palästinenser überhaupt reif sind für den Frieden. In der NZZ vermisst Andzrej Stasiuk den Sozialismus. Die SZ fürchtet, dass Prada zum Benetton der Reichen wird und die taz druckt Stuckrad-Barres "Deutsches Theater".

NZZ, 15.12.2001

Thomas Hettche setzt die Reihe übers "Verschwinden" fort, Thema: "Zwischengas": " Ich habe keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man Zwischengas gibt. Ich habe auch niemals in einem PKW gesessen, bei dem man hätte Zwischengas geben müssen. Ich habe nicht einmal einen Film gesehen oder auch nur eine Beschreibung gelesen, die anschaulich gemacht hätten, wie es vor sich geht, Zwischengas zu geben. Und doch habe ich eine ganz konkrete Vorstellung von dem, was sich hinter diesem Wort verbirgt, verbinde auch eine bestimmte Empfindung damit."

Weiteres: Matthias Frehner resümiert ein Kölner Kolloquium über Provenienzrecherchen deutscher Museen. Maria-Sibylla Lotter schreibt zum 100. Geburtstag von Margaret Mead. Besprochen werden eine Ausstellung über neue Architektur in Estland in Berlin, die neue Doppelnummer der Zeitschrift du über "Heimaten" und Volker Gerhardts Buch "Der Mensch wird geboren".

In Literatur und Kunst interviewt Olaf Kühl den polnischen Schriftsteller Andzrej Stasiuk, der bekanntlich in einem kleinen dorf in den Karpaten lebt. Den Bauern geht es dort schlecht, sagt er: "Der Kapitalismus ist eben eine Gesellschaftsordnung, die nicht für jeden gut ist. Es gibt auch breite Schichten, die mit dem Sozialismus ganz zufrieden waren, weil er eine gewisse Existenzsicherung gewährte. Freiheit ist nicht für alle gut. Wenn ich nach Rumänien fahre, treffe ich häufig nostalgische Erinnerungen an Ceausescu. Und ein repressiveres System als in Rumänien lässt sich kaum denken, höchstens vielleicht noch unter Stalin, seinerzeit in Russland. Ich glaube, die Menschen brauchen überhaupt keine Freiheit, das ist eine fixe Idee der Intellektuellen. Man sollte aus der Freiheit keinen Fetisch machen." Zum Interview gehört eine Rezension von Stasiuks jüngstem Buch " Wie ich Schriftsteller wurde" durch Andreas Breitenstein.

Die Soziologen Wolfgang Sofsky und Heinz Bude setzen die lockere NZZ-Reihe über das Selbstverständnis der Intellektuellen fort. Sofsky schreibt: "Nicht moralischer Alarm oder empathische Kleinkunst ist die vordringlichste Aufgabe des Intellektuellen, sondern ungefilterte, illusionslose Beobachtung mit wechselnden Brennweiten." Und Heinz Bude fragt sich, ob die Rolle des Intellektuellen nicht durch das Aufkommen eines "biologischen Weltbildes" in Frage gestellt wird. "Wo die einen über die Täuschungen der Allgemeinbegriffe, die Illusionen der Erkenntnistheorie oder den Strukturwandel der Öffentlichkeit aufklären, fragen sich die anderen, woher das Lächeln des Flamingos kommt, welche Sprache ein Kind sprechen würde, das von Wölfen grossgezogen wird, oder wie das menschliche Immunsystem funktioniert. Nicht mehr die 'Gesellschaft', sondern das 'Leben' sei der eigentliche Rätselbegriff der Jetztzeit."

In weiteren Artikeln geht's um Bücher: Karl-Markus Gauß stellt den Tschechen Ivan Olbracht und seine Novellen vor. Peter Utz befasst sich mit Robert Walsers literarischen Annäherungen an Gottfried Keller. Jan-Werner Müller bespricht ein amerikanisches Buch über die Erbschaft Isaiah Berlins. Ferner geht's um neue Bände der Gottfried-Keller-Gesamtausgabe und um eine Keller-Biografie in Briefen. (Siehe auch unsere Bücherschau morgen ab 11 Uhr).

FAZ, 15.12.2001

Der israelische Schriftsteller David Grossman, einer der verbliebenen Friedensaktivisten spricht in einem beeindruckenden Artikel über sein "bitteres Gefühl, dass es tatsächlich nicht anders ging; dass beide Völker noch nicht reif sind, einen echten Frieden zu schließen; dass beide noch gar nicht begreifen, was Frieden bedeutet; dass sie selbst dann, wenn sie, rein theoretisch, über 'die Notwendigkeit des Friedens' zu reden vermögen, doch nicht die Kraft besitzen, die tiefgreifenden, schmerzlichen Prozesse einzuleiten, die zu seiner Verwirklichung und seinem Gelingen erforderlich sind. Wenige, zu wenige sind noch zu der geistigen und seelischen Anstrengung fähig, die in dieser kritischen Lage nötig wären."

Jürgen Kaube glaubt, dass die Ergebnisse der Pisa-Studie in der öffentlichen Debatte falsch verstanden wurden. Es handele sich nicht um eine allgemeine Bildungskatastrophe, "es sind die von der Studie so genannten Risikogruppen, deren Größe in Deutschland bemerkenswert ist. Dabei handelt es sich um Schüler, die unfähig waren, eine Zahl innerhalb eines Schaubildes aufzufinden, den Unterschied zwischen einer Meinungsäußerung und einer Sachbeschreibung zu erkennen, oder die keinen Grund dafür wussten, weshalb in Krankenhäusern die Bettwäsche heiß gewaschen wird."

Weitere Artikel: Dokumentiert wird eine Rede des Präsidenten der DFG, Ernst-Ludwig Winnacker vor der Quandt-Stiftung, der sich gegen den "Gen-Determinismus" wendet: "Ein Klon von Steffi Graf würde .. genauso aussehen wie Steffi Graf, aber deswegen noch lange nicht Tennis spielen können." Michael Jeismann hat die europäische Sozialdemonstration gegen den EU-Gipfel im belgischen Laeken begleitet. Irmela Spelsberg informiert uns, dass die schlesischen Friedenskirchen ins Weltkulturerbe aufgenommen wurden

Marc-Christoph Wagner gratuliert dem dänischen Schrifsteller Klaus Rifbjerg zum Siebzigsten. Georg Imdahl resümiert eine Tagung über die Ankaufspolitik der Museen im Dritten Reich. Hans-Jörg Rother hat sich eine Filmreihe über Afghanistan im Berliner Babylon-Kino angesehen. Jörg Thomann hat sich den Vortrag des Schiedsrichters Volker Roth bei der Bochumer Vorlesungsreihe über "Die Zukunft des Fußballs" angehört. Auf der Medienseite berichtet Joseph Croitoru über den Durchhaltewillen des Radiosenders "Die Stimme Palästinas". Auf der letzten Seite erzählt Kerstin Holm von Ausgrabungen in Nowgorod, die das Bild der Stadt im Mittelalter lebendig machen ? unter anderem hat man Kinderzeichnungen gefunden. Edo Reents schreibt ein kleines Porträt über Courtney Love. Andreas Rossmann berichtet über Verstimmungen in NRW, nachdem Gerard Mortier, der dort ein Fesitval ins Leben rufen soll, einen Vertrag bei der Pariser Oper annahm ? dabei beginnt dieser Vertrag erst nach Ablauf seines deutschen Engagements.

Besprochen werden eine Ausstellung des Klosterschatzes von Conques, eines der wenigen, die vor der Französischen Revolution gerettet wurden, im Louvre, die Oper "Bing" von Detlev Müller-Siemens in Bonn und zwei italienische Ausstellungen über "Kult und Kunst des Teppichs in Zentralasien"

In einer der letzten Ausgaben von Bilder und Zeiten kommt Joseph Hanimann auf Guy Debord und die Aktualität der "Situationistischen Internationale" zu rück. Wolfgang Sandner porträtiert die Bratschistin Tabea Zimmermann, die die Bratsche Ludwig van Beethovens aus seiner Zeit im Bonner Hoforchester spielt. Heike Schmoll denkt über Peter Petersens reformpädagogisches Schulkonzept in der heutigen Bildungslandschaft nach. Dorothea Razumovsky fragt nach der Aktualität Pjotr Alexejewitsch Kropotkins. Und Andreas Platthaus bespricht eine Ausstellung über "Calvin und Hobbes" in Ohio. (Mehr über "Calvin und Hobbes" auch hier.)

In der Frankfurter Anthologie stellt Hubert Spiegel ein Gedicht von Ror Wolf vor ? "der vater spricht vom franzos":

"der vater spricht vom franzos
des kaisers maßkrug schwarzweißrot
steht zugeklappt auf der kommod
der vater spricht der krieg ist groß..."

TAZ, 15.12.2001

Die taz hat zwei Seiten freigeräumt, um zwei Texte aus Benjamin von Stuckrad-Barres neuem Buch "Deutsches Theater" zu drucken. Leseprobe aus dem Kapitel Vollpension: "Als Bürger der Bundesrepublik Deutschland hat man die Möglichkeit, Prominente bei der Ausübung ihrer meist zahlreichen, gesetzlich gestatteten Nebentätigkeiten zu kontrollieren, da es in den allermeisten Fällen Ziel und Inhalt dieser Geschäfte ist, das Publikumsinteresse am bekannten Namen in Kaufimpulse fürs egale Produkt zu transformieren. Einerlei, ob als Kompensation unterstellter einseitiger Begabung oder Steuersparmodell entstanden - man kann eine Probefahrt mit dem Boris-Becker-Autohaus vereinbaren, sich eine Platte von Heiner Lauterbach oder Katja Riemann kaufen und diese (als Variante für die ganz Furchtlosen) sogar anhören, man kann ein von Udo Lindenberg selbst gemaltes Bild anschauen, in Ben Beckers Kneipe ein Bier trinken oder in Iris Berbens italienischem Restaurant zu Abend essen. Oder Verona-Feldbusch-Unterwäsche tragen oder die Talkshow eines Politikers ansehen. Und so weiter." Und so weiter.

Tobias Rapp war beim Berliner Konzert von Wyclef Jean und stimmt dem Rapper in einem Punkt definitiv zu: "If you want jewellery, listen to Puff Daddy. If you want vanity, listen to Jay-Z. If you want reality, listen to Wyclef." Und Redaktionsarzt Gerrit Bartels kann - niederschmetternd nüchtern - erklären, worunter Demenzkranke wie Harald Juhncke leiden und warum.

Im tazmag heute viele Porträts: Reinhard Krause widmet sich der peruanischen Gesangslegende Yma Sumac (mehr hier), Heike Haarhoff der Tochter von Chiles Ex-Dikator Pinochet, und Philipp Gessler lässt das Erbe des Jüdischen Kulturbundes wieder aufscheinen.

Und schließlich Tom.

SZ, 15.12.2001

Nachdem einige Wochen lang im Kino Quidditsch gespielt worden ist, wird ab nächster Woche um Mittelerde gekämpft. Nach "Harry Potter" wird mit dem "Herrn der Ringe" die Gangart härter, wie Fritz Göttler feststellt, auch in der Verleihstrategie der Warner Brothers: "Bei der Vermarktung gibt es zwei Strategien ­ New Line Cinema hat den 'Herr der Ringe' nur in den USA selbst betreut, ansonsten sich auf starke einheimische Verleihfirmen verlassen, die am Einspiel beteiligt sind. Unabhängigkeit ist das Stichwort ­ die Kehrseite der Distanzierung. LOTR ('Lord of the Rings') ist ein Vabanque-Spiel, Risiko scheint gar eins der Elemente im Mythos um den Film. Alle drei Teile sind abgedreht, die Reaktion auf den ersten wird entscheiden über das Schicksal der anderen. Bei 'Harry Potter' war dagegen von einem möglichen Scheitern nie die Rede."

Sonja Zekri feiert die produktivsten "Herr der Ringe"-Fans der Welt, nämlich die russischen, und gibt eine kurze Einführung in die Welt der "tolkienisty".

Weitere Artikel
: Jörg Häntzschel hält Pradas superexklusive Markenidentität für gefährdet und zwar durch den eigenen Expansionsdrang der Firma: "Jeder neue Laden ­ welt-weit sind es über 200 ­ steigert die Einnahmen, aber frisst an der Exklusivität und der Erotik der Marke. Prada droht zum Benetton der Reichen zu werden." Claus Koch erklärt, was Terror, Gesundheitspass und die blamable PISA-Studie gemeinsam haben. Eva Weissweiler, Publizistin und Pressesprecherin des Verbandes Deutscher Schriftsteller, erinnert in einem Offenen Brief daran, dass Otto Schily früher einmal anders gedacht hat. Willi Winkler ist auf der Suche nach dem Mittelpunkt Europas nach Konnersreuth in der Oberpfalz gekommen.

Besprochen
werden Igor Bauersimas neues Stück "Factory" in Zürich, Sam Weismans Film "What's the worst that could happen?" und das Buch "Made in Germany", in dem der Musikexpress die 100 besten Deutschen Platten aller Zeiten präsentiert ( Die Nummer eins ist Kraftwerks "Autobahn").

In der Wochenend-Beilage wie immer Ungewöhnliches: Ludwig Harig widmet sich dem Dichter Christian Dietrich Grabbe, der vor 200 Jahren in Detmold und dann auch noch als Sohn eines Zuchthausmeisters geboren wurde. Christine Wunnicke erzählt die Geschichte des schizophrenen Handelsvertreters Friedrich Krauß, Werner Burkhardt porträtiert den Jazzmusiker Lionel Hampton, und Matilda Jordanova-Duda berichtet von einem Eingliederungsprogramm für Ausländer in Frankfurt am Main.

FR, 15.12.2001

Herfried Münkler von der Humboldt-Universität sieht die deutsche Konfliktforschung intellektuell komplett gescheitert. Acht Wochen nach Beginn der amerikanischen Luftangriffe ist die Taliban-Herrschaft zusammengebrochen wie ein Kartenhaus, die afghanischen Warlords konnten der Reihe nach eingekauft werden. "Warum", fragt Münkler, "ist diese Entwicklung, die einem westlichen Beobachter als prospektives Konfliktszenarium doch eigentlich hatte naheliegen müssen, in den öffentlichen Stellungnahmen von Intellektuellen und Experten nur so selten antizipiert worden? Die Fragen sind zu ernst und die Probleme zu groß, als dass man die Fülle der Fehlprognosen pietätvoll beschweigen oder irgendwie schönreden sollte: Das intellektuelle Debakel der deutschen Konfliktforscher und Afghanistanexperten steht dem militärischen Desaster der Taliban in nichts nach. Hätten sie über ihre Prognosen gewürfelt, so hätte dies zu einer deutlich höheren Quote zutreffender Vorhersagen geführt als das, was sie vorausgesagt haben. Eine derart eklatante Fehleinschätzung kann nur das Ergebnis systematischer Wahrnehmungsverzerrungen und Blickverengungen sein."

Dazu druckt die FR auch einen Essay des Soziologen Trutz von Trotha (Universität Siegen), der eine neue Form des Krieges befürchtet: den globalen Kleinkrieg: "Wir begegnen ihm überall dort, wo die Merkmale zusammentreffen, die wir im Blick auf seine massenmediale Ikone, die Kalaschnikow, das 'Kalaschsyndrom' nennen können. Das Kalaschsyndrom ist die Verbindung von fünf Elementen: von einer Gewalt zwischen Politik und Privatisierung, Männlichkeit, Jugend, Opferanspruch und massenmedialer Verherrlichung der Gewalt."

In weiteren Artikel sucht Martina Meister den Kulturbegriff der PDS, erinnert Rudolf Walter an Henri Dunant, der vor hundert Jahren den Friedensnobelpreis erhielt, und fasst Roland H. Wiegenstein noch einmal zusammen, was die europäischen Meisterdenker so zum 11. September geschrieben haben.

Besprochen
werden: die Ausstellung "Ludwig Mies van der Rohe: Die Berliner Jahre 1907 - 1938" in Berlin, eine Tagung des nordrhein-westfälischen Wissenschaftszentrums, die sich mit den Visionen vom optimierten Menschen in Genetik und Robotik beschäftigte, und Bücher, darunter "Die Religion"ersuche von Jacques Derridas und Gianni Vattimos (mehr in unserer Bücherschau Sonntag ab 11 Uhr).

Im Magazin versucht sich unter anderem Fritz Eckenga an der ewigen Wiederkehr des Historischen. Thomas Stillbauer fragt, was eigentlich unsere Erstklässler treiben, und Petra Mies hat sich in der Parfum-Abteilung umgetan