Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.03.2002.

FAZ, 02.03.2002

Morgen stimmen die Schweizer über den UNO-Beitritt ihres Landes ab. Jürg Altwegg resümiert die Geschehnisse und Diskussionen der letzten Jahre und schildert die Karriere des Rechtspopulisten Christoph Blocher, der am alten Bild der heilen und neutralen Schweiz festhält. "Erneut entsteht der Verbund der rechtspopulistischen Verdränger und linkspazifistischen Fundamentalisten, welche die Vereinten Nationen für eine imperialistische Verschwörung unter amerikanischer Führung und israelischem Diktat halten", meint Altwegg und schließt: "Für die Schweiz geht es um die Bestätigung, daß sie ihre innenpolitischen Blockierungen überwindet. Und um eine einigermaßen anständige Rückkehr in die Schicksalsgemeinschaft der Völker."

Der Rechtsphilosoph Gerd Roellecke wird sarkastisch, wenn er an die "geistfeindliche" Politik der Bundesregierung denkt: "Vielleicht sollte man trotzdem Rot-Grün wieder wählen. Das Zerstörungswerk ist noch nicht vollendet. Die deutsche Universität ist noch nicht kaputt genug. Völlig kaputt ist sie erst, wenn alle hochschulreifen und -unreifen Bürger nach vier Jahren Universitätsaufenthalt ein Abgangszeugnis mit der Note 'sehr gut' erhalten, in allen Universitätsgebäuden Technologiezentren angesiedelt sind und sich die Professoren von Nebentätigkeiten ernähren müssen."

Weitere Artikel: Aus Gründen, die wir auch nach mehrmaligem Studium des Vorspanns von Patrick Bahners und einleitenden Artikels von Götz Aly nicht verstanden haben, ist ein Auszug aus Theodor Schieders Gutachten zur Berliner Preußenausstellung 1981 abgedruckt. Verena Lueken berichtet, wie Howell Raines, der neue Chefredakteur der New York Times, seine Mitarbeiter kujoniert: Mehrere Korrespondenten und John Rockwell, zuständig für die Kulturseiten am Wochenende, haben bereits gekündigt. Joseph Hanimann schreibt über Stadtbrachen, die von Künstlern besetzt werden. Stefanie Peter berichtet über das neue Domizil des Deutschen Historischen Instituts in Warschau. Timo John beschreibt, wie die Städtische Galerie in Stuttgart Formen annimmt. Auf der Medienseite liefert Michael Hanfeld eine Reportage über die Dreharbeiten auf Malta zu dem Film "Julius Cäsar" mit Heino Ferch als Vercingetorix und Richard Harris als Sulla. Und Alexander Bartl stimmt schon mal auf den Tatort am Sonntag ein.

Edo Reents gratuliert Rocker Lou Reed zum Sechzigsten. Doron Arazi schreibt zum Tod des israelischen Geheimdienstlers Tuvia Feinman. Dietmar Bartetzko zum Tod des Jazzgeigers Helmut Zacharias.

Besprochen werden die Uraufführung von Ulrich Zaums Stück über Else Lasker-Schüler, "Irrlichter", in Wuppertal, eine Ausstellung mit Albert Eckhouts Gemälden aus Brasilien im Nationalmuseum in Kopenhagen, Suraya Hilals Choreografie "Al Janub - Der Süden" im Tanzhaus NRW in Düsseldorf, eine Aufführung von Gertrude Steins und Virgil Thomas' "Four Saints in Three Acts" in der Inszenierung von Robert Wilson in Lissabon und Bücher, darunter Ulrich Peltzers Erzählung "Bryant Park" (siehe auch unsere Bücherschau Sonntag ab 11 Uhr.

Was von Bilder und Zeiten übrig blieb: Dietmar Dath schreibt die Geschichte der Fields-Medaille, der begehrtesten Auszeichnung für Mathematiker. Abgedruckt ist ein Auszug aus dem in Kürze erscheinenden Buch "Die stumme Prinzessin" des Spiegel-Redakteurs Gabor Steingart, der aus der Sicht des elfjährigen tauben Flüchtlingskinds Danijela die grässlichen Zustände in einer Hamburger Obdachlosensiedlung beschreibt.

In der Frankfurter Anthologie widmet sich Kurt Oesterle einem Gedicht von Frank Wedekind: "Der stumme Knabe".
"O ihr Tage meiner Kindheit, / Nun dahin auf immerdar, / da die Seele noch in Blindheit, / noch voll Licht das Auge war ..."

NZZ, 02.03.2002

Hannelore Schlaffer sieht schwarz. Niemand trägt mehr etwas anderes: "Nie hat in den letzten hundert Jahren eine Farbe in der Mode einen solchen Siegeszug feiern können wie das Schwarz. Einen Regisseur, wenn er sich nach der Premiere auf der Bühne zeigt, erkennt man am schwarzen Pullover, sein Publikum, je jünger, je avantgardistischer, sitzt in Schwarz vor ihm; der Discjockey manipuliert sein Pult im schwarzen Outfit, die Sekretärin am Computer fühlt sich in Schwarz besonders apart..." Hm, wenn wir MTV sehen, haben wir zumindest bei der weiblichen Jugend einen anderen Eindruck: bunte Tops und süße Mädchenbäuche.

Besprochen werden die Erstaufführung von Maurizio Kagels neuem Stück "Mare Nostrum" in Basel, Yasmina Rezas Stück "Drei Mal Leben" als Schweizer Erstaufführung in Basel, Kader Belarbis (mehr hier) Debut als Choreograf an der Pariser Oper ("Dieses 'Hurlevent' ist eine Sensation", schreibt Thomas Hahn), eine Ausstellung über den Maler Puvis de Chavannes und die Moderne in Venedig und einige Bücher, darunter Joseph Zoderers Roman "Der Schmerz der Gewöhnung", Michael Ignatieffs Essay "Die Politik der Menschenrechte" und ausgewählte Schriften des Architekten Giorgio Grassi (siehe unsere Bücherschau morgen ab 11 Uhr).

(Eine kleine Anmerkung noch zur Presseschau von gestern: Die von Hanno Helbling besprochene Studie der päpstlichen Bibelkommission ist erstens nicht wie hier behauptet auf lateinisch, sondern auf italienisch erschienen. Zweitens kann man sie hier nachlesen. Und drittens wollen wir noch auf unseren Link des Tages hinweisen, in dem Gustav Seibt die Internetadresse des Vatikans vorgestellt hat.)

Literatur und Kunst, die Samstagsbeilage der NZZ ist mal wieder konkurrenzlos. Woher kommt, wohin geht der Islam?, fragt Martin Meyer in der Einleitung zu einem größeren Dossier, das fragen will, ob eine Verständigung zwischen den Kulturen überhaupt möglich ist: "Man wird nicht ernstlich behaupten wollen, dass es 'im Westen' und unter aufgeklärten Geistern an Bemühungen gefehlt habe, den Islam in seiner religiösen und kulturellen Bedeutung wie in seinen widersprüchlichen Facetten zu deuten und zu verstehen. Aber möglicherweise müssten die Realitäten auch deren Grenzen lehren: Nicht alles ist mit allem kompatibel, der Islam weiß dies durchaus."

Es folgt eine Parade der Essays, verfasst von internationalen Koryphäen der Islamkunde, die wir hier nur äußerst kursorisch resümieren können - wer sich dafür interessiert sollte, sich die NZZ kaufen: Schon um die Druckerpatrone zu schonen.

Herausgegriffen sei die These des ägyptischen, im Exil lebenden Intellektuellen Nasr Hamid Abu Zaid (mehr hier): "Es ist .. nicht der Islam selbst, der die Muslime daran gehindert hat, die Moderne zu akzeptieren. Eher ist es eine hartnäckige Neigung zum dogmatischen Denken, welche die Existenz eines Widerspruchs zwischen Islam und Moderne behauptet."

Es schreiben ferner Bassam Tibi (mehr hier), der eine "Bringschuld" der Moslems gegenüber dem Westen postuliert, Tilman Nagel, der die "islamische Verknüpfung von Glaube und Staat" erläutert, Ludwig Ammann (mehr hier), der den Erfolg des Islam "durch Anpassungsfähigkeit und Durchsetzungskraft" erklärt, James Turner Johnson (mehr hier und hier), der über die "Umdeutung des Jihad zur Rechtfertigung des Terrors" nachdenkt, Nilufer Göle, die die Rolle der Frau im Islamismus beleuchtet. Tim Winter (mehr hier), der die Bedeutung der Hadithe, der Sprüche Mohammends für den Islam unterstreicht, Reinhard Schulze, der den islamischen Fundamentalismus als eine "moderne Gegenmoderne" definiert, Navid Kermani (mehr hier), der gegenüber den Islamisten auf der Offenheit des Korans auch für moderne Interpretationen besteht, Hans Daiber (mehr hier), der das Verhältnis des Islams zur wissenschaftlichen Erkenntnis untersucht, William Chittick (mehr hier), der eine "Annäherung an den Sufismus im Kontext des Islam" versucht und Friedrich Niewöhner (mehr hier), der über die Philosophie in der islamischen Tradition meditiert.

Parbleu, das nennen wir ein gelehrtes Dossier!

FR, 02.03.2002

Gleich zwei Artikel, in denen die Fiktion als Allegorie unserer Zeit herhalten muss, liefert die FR heute. Zuerst druckt sie einen Vortrag, den Jean Baudrillard Ende Januar in Stuttgart gehalten hat. Darin unternimmt der französische Soziologe den Versuch einer Deutung der Ereignisse vom 11. September: "Was ist also die heimliche Botschaft der Terroristen? Es gibt eine Erzählung von Nasreddin, in welcher man ihn täglich mit schwerbeladenen Maultieren die Grenze überqueren sieht. Jedesmal werden die Säcke durchsucht, aber man findet nichts. Und Nasreddin überquert immer wieder mit seinen Maultieren die Grenze. Lange danach wird er gefragt, was er denn geschmuggelt habe. Und Nasreddin antwortet: Maultiere..."

Dann erschließt uns Niels Werber die bio- und geopolitischen Implikationen in Tolkiens "Herr der Ringe". Der elementarste völkerrechtliche Grundsatz, an dem sich Elben und Zwerge, Hobbits und Numenorer, Waldmenschen und Ents im Vierten Zeitalter - lange nach den imperialen Raumnahmen der Numenorer in Mittelerde - orientieren, so Werber, sei Carl Schmitts "Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte". Und "dass für den Kontinent Mittelerde die Rettung immer aus einer großen Insel im Westen kam, dass die Numenor eine Seemacht waren - all dies spräche dafür, Tolkiens großes Epos als Allegorie auf den Krieg der westlichen Alliierten gegen Deutschland zu lesen."

Außerdem zu lesen: Sascha Josuweit berichtet von einem spannungsgeladenen 1. Festival Indischer Literatur in Neu Delhi. Thomas Medicus nimmt uns mit auf eine sentimentalische Reise im Berlin-Warszawa-Express. Marius Meller war dabei, als Sascha Anderson in Berlin seine Autobiografie vorstellte. Michael Buselmeier durchforstet neue Nummern von "Literaturen", "Neue Rundschau" und "Literatur und Kritik" nach dem "richtigen" Literaturkanon. Und Daniel Kothenschulte schreibt zum Tod des Violinisten und Orchesterchefs Helmut Zacharias.

Besprechungen widmen sich der Ausstellung "Die Griechische Klassik - Idee oder Wirklichkeit" im Berliner Martin-Gropius-Bau, Stephan Hubers Großinstallation "8,5-Zi.-Whg. f. Künstler, 49 J." im Münchner Lenbachhaus, Joseph Haydns Dramma giocosa "Die Welt auf dem Mond" an der Berliner Staatsoper sowie Büchern, darunter einem neuen Ruhrpott-Roman von Andreas Mand sowie einem Band mit rund 1000 Fotografien von Robert Capa (auch in unserer Bücherschau Sonntag um 11).

Und das FR-Magazin liefert ein Porträt der vor einer Woche von der marxistischen Farc-Guerilla entführten kolumbianischen Präsidentschafts-Kandidatin Ingrid Betancourt und ein Interview mit Tom Tykwer, der uns erklärt, was es bedeutet, dass es keinen Gott gibt und "alle spirituelle Energie aus uns selber kommt": "Ich unterhalte mich gerade mit Ihnen und nehme deswegen das Taxi nicht, das wiederum den Unfall an der Kreuzung haben könnte - weswegen dieses Gespräch hier mir das Leben rettet."

TAZ, 02.03.2002

Tatsächlich, Frauke Meyer-Gosau hat ein neues Genre entdeckt: Die Autobiografievermeidung. Geschrieben hat sie erstmals der Spitzelkünstler Sascha Anderson (der ihr auch den super Titel "Sascha Anderson" verpasst hat). "Mal ehrlich - nach dieser Lektüre kann man schwer glauben, dass Anderson überhaupt weiß, was das wäre. Was er hingegen genau weiß, ist, wie man Unmissverständliches konsequent vermeidet. Die Nebelkerzen in Form spätexpressionistischen Dichterlallens, die den ersten Teil der Autobiografie ausmachen, werden, wo es ernster wird, von der weit schlichteren Methode des Abbruchs abgelöst: Wo es um das gehen sollte, was er wirklich getan, was er preisgegeben und wem er wie geschadet hat, steht nichts." (Siehe dazu auch unsere Bücherschau am Sonntag um 11)

Weitere Artikel: Harald Fricke kommentiert die in Berlin erfolgten Nominierungen für den "Preis der Nationalgalerie für junge Kunst", Fritz von Klinggräff sieht im Versuch, das Deutsche Nationaltheater Weimar zum privatrechtlichen Unternehmen umzuwandeln, einen Modellfall für Deutschland.

Und im tazmag schildert Rainer Moritz, Chef bei Hoffmann und Campe, sein Leben als ewige Krise (hier), der Rabbiner David Bollag erklärt, warum es eine "typisch jüdische Rachsucht" nicht gibt: In der Thora sei "Auge für Auge" zu lesen, nie "Auge um Auge" wie bei Luther. Und Christian Semler spürt dieser theologischen Differenz bis in den Kampf um politisch instrumentalisierte Stereotype im Krieg zwischen Israelis und Palästinensern nach.

Schließlich Tom.

SZ, 02.03.2002

Ertränkte, strangulierte Ludwig II. wirklich seinen Arzt Dr. Gudden? Der Historiker Johannes Fried will's nicht glauben. In einem akribischen Vergleich verschiedener Zeugenaussagen des Preußischen Legationssekretärs Philipp zu Eulenburg führt er den Gegenbeweis: "Der Graf erinnerte sich an Erlebtes. Aber alle erinnerten Fakten waren, obgleich plausibel, so durcheinander geraten, dass keines mehr zutraf. In dieser Erinnerung überlagerten wiederholte Geländebesichtigungen je vom Ufer und vom Boot aus einander, vermengten sich richtige und falsche Spuren zu einem einzigen Erinnerungsbild, vermischten sich eigene Wahrnehmungen mit fremden Berichten und Vermutungen und verschmolzen zu einer visuellen Chimäre."

Ein nicht ganz unähnliches Problem hat offenbar Sascha Anderson, dessen soeben erschienene Autobiografie Ijoma Mangold in einem Beitrag verreißt: "Man kann vieles aus diesem sehr besonderen Buch lernen: Vor allem darüber, dass es im Labyrinth der Selbsterforschungen auch beim besten Willen nur notwendige Sackgassen gibt. Dass Anderson aber eine Darstellung seiner Geschichte gelungen wäre, die seinem moralischen Versagen eine ästhetisch überzeugende Form gibt, ist gewiss nicht der Fall. Nur weil es keine verlogene Literatur ist, ist es noch lange keine gute Literatur."

Weitere Artikel: In einem Interview mit der SZ äußert sich Staatsminister Julian Nida-Rümelin positiv zur Einrichtung einer Schiedsstelle für NS-Raubkunst, Reinhard J. Brembeck sagt, warum Privatisierungen eine Chance für die Hochkultur sind (eine Schließung ist allemal schlimmer), Hans-Peter Kunisch blickt auf die Schweiz vor der UN-Abstimmung und fragt: "Sind die Schweizer jetzt ein wagemutiger weltoffener Haufen geworden?" Im Gespräch mit Moritz Rinke erläutert Mario Adorf sein Bühnencomeback, Andrian Kreye informiert über die Eröffnung des American Folk Art Museum in New York, Fritz Göttler schreibt zum Tod von Lawrence Tierney, Hollywoods größtem "bad guy", und Werner Burkhardt verabschiedet das einstige Wunderkind Helmut Zacharias.

Besprochen werden Mauricio Kagels "Mare Nostrum" im Theater Basel und Aischylos' "Die Perser" in Dresden und Bücher, darunter die voluminöse Neuausgabe von Max Webers "Wirtschaft und Gesellschaft" und die gemeinsame Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge in zwei Bänden (siehe auch unsere Bücherschau Sonntag ab 11 Uhr).

Und in der Wochenendbeilage erzählt Birgit Schönau, wo Italien sein Gedächtnis aufbewahrt: In den Tagebüchern des Archivs von Pieve nämlich. Gerhard Waldherr dokumentiert die zunehmende Brutalität der US-amerikanischen Polizei. Und Alexander Kulpok porträtiert Karl May als Erzähler himmlischer Lügen vor dem Herrn.