Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.05.2002. Die SZ findet die holländische Wahl unheimlich: Massenhaft gaben die Wähler ihre Stimme einem Toten. Die taz durchkämmt das Haar des Kanzlers. Die NZZ befasst sich mit Goethes Verhältnis zum Islam. Die FR meditiert über den Tatort, dessen 500. Folge ansteht. Die FAZ nimmt antiisraelische Äußerungen in der FDP aufs Korn.

SZ, 17.05.2002

Holland nach der Wahl. Gespenstisch, findet Gustav Seibt in einem Beitrag: "Auf exaltierte Weise haben die Niederländer an ein Grundproblem aller politischen Führung gerührt, die Unersetzlichkeit des Einzelnen. Massenhaft gaben sie ihre Stimme einem Toten ... Die Anhänger Fortuyns verhielten sich wie die Jünger eines Propheten, die nach seinem Martyrium eine Gemeinde bilden wollen, um seine Lehre weiterzutragen." Wer einen Toten wählt, so Seibt, stimmt für einen leeren Stuhl. "Fortuyns leerer Stuhl ähnelt nur trügerisch den Dingsymbolen, welche die Kontinuität des Staates sichtbar machen sollen: Auf ihm thront unsichtbar ein Charisma, das vorerst keinen neuen Träger gefunden hat. Ein lebender Mensch ist verschwunden und hat einem Gespenst seinen Platz überlassen."

Weitere Artikel: Jens Bisky kommentiert den Entscheid der Akademie der Wissenschaften gegen einen Boykott Israels und ist froh, dass ein Zeichen gesetzt wird gegen die um sich greifende Stimmung des Kalten Krieges. Susan Vahabzadeh sieht Woody Allens neuen Film in Cannes und hinter seiner Brille etwas Rotes. "C.h.m." mokiert sich über die "Service-Kompetenz eines europäischen Dienstleisters" in deutschen Speisewagen. Martin Köhl schildert die Finanznöte der Bamberger Symphoniker. Thomas Urban fragt, wo das Zentrum für Vertreibung stehen soll (Berlin oder Breslau?). Ralf Berhorst war auf einem Symposium für den Berliner Literaturwissenschaftler Norbert Miller im Literarischen Colloquium am Wannsee. "Jby" blättert in einer Studie über den Wirtschaftsfaktor Berliner Kultur. Karol Sauerland spekuliert, wie Günter Grass' Vertriebenennovelle "Im Krebsgang" in Polen ankommen könnte. Claus Koch liefert seine "Noten und Notizen". Und außerdem freut man sich mit den Cyberstrategen über die abgewendete Indizierung des Computerspiels "Counter-Strike".

Besprochen werden die Ausstellung "Impressionist Still Life" im Museum of Fine Arts in Boston, die Schau zum Preis der Nationalgalerie für junge Kunst im Hamburger Bahnhof in Berlin, Gilbert & Sullivans "The Pirates of Penzance" in der Wiener Volksoper, ein theaterfreier "Lear" von Thorsten Lensing in den Berliner Sophiensälen, Theater von Wallace Shawn und Marc von Henning bei den Wiener Festwochen, Roy Anderssons Kinostreifen "Songs from the Second Floor", Michael Lentz' Prosaarbeiten "Muttersterben" im Buch und auf CD, schließlich noch Niklas Luhmanns systemtheoretischer Blick auf "Das Erziehungssystem der Gesellschaft" (auch in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

TAZ, 17.05.2002

Merkwürdig: "Das dröge Thema" in den Tagesthemen ist heute das bei weitem unterhaltsamste. Bettina Gaus nämlich befasst sich mit der Haarfrage des Kanzlers, die heute ein Hamburger Gericht klären soll: Darf öffentlich spekuliert werden, woher der Bundeskanzler seine schöne, dunkle Haarfarbe hat, "vom lieben Gott oder aus der Tube"? Lächerlich? Ganz und Haar nicht, findet Gaus: "Als ob Haare und Kopfschmuck bedeutungslos wären! Die Indianer wussten schon, warum sie ihre Feinde skalpierten und die Macht eines Häuptlings durch prächtigen Federschmuck betonten." Oder steckt vielleicht doch mehr dahinter, und Schröder befürchtet, Gerüchte über seine angeblich gefärbten Haare könnten seine Glaubwürdigkeit schmälern? Man müsse, schreibt Gaus, schon eine ganz außergewöhnlich niedrige Meinung von den Leuten haben, um glauben zu können, sie ließen sich in ihrer Wahlentscheidung davon beeinflussen. Apropos, woher hat Stoiber eigentlich seine schöne dunkle Hautfarbe?

Im Kulturteil erklärt ein beunruhigend bescheidener Moby (homepage) im Interview, was ihn von anderen Popstars unterscheidet: "Es ist unfassbar, wie sie mit ihrem Billardtisch aus purem Gold oder ihrem Schrank mit 8.000 Paar Schuhen angeben - dafür würde ich mich schämen! Das ist doch so, als wäre man dabei erwischt worden, wie man ins Bett macht!"

Weitere Artikel: Cristina Nord stellt Cannes-Filme vor von Woody Allen und Amos Gitai. Andreas Hartmann hört tanzbaren Minimal-Techno von Akufen ("My Way"). Und Wolfgang Müller liefert ungute Schulerinnerungen nach Erfurt.

Schließlich TOM.

NZZ, 17.05.2002

Andreas Maurer denkt über die nicht gerade tragende Rolle des Films bei der Expo 02 nach: "Gerade zwei (von über drei Dutzend) Ausstellungen, 'SwissLove' und 'Onoma', vertrauen ganz auf das Medium Film, andernorts wird es allenfalls in einer multimedialen Melange verquirlt. Gewiss wird Projektionslicht wacker flackern, doch vorwiegend im Schatten 'synästhetischer' Installationen. Weshalb? Der Diagnose von Vincent Adatte in der Maiausgabe von 'Films' ist zu sekundieren: Weil den einen der Sinn nicht danach stand, die andern keinen Sinn dafür haben und das Medium selbst sich hintersinnt ... die Vor- und Querdenker der Expo scheinen sich den kanonisierten Künsten entschieden näher zu fühlen; und das Kino selbst, dieses ehedem konkurrenzlose Happening, muss sich neu positionieren in einer medial durchdrungenen Welt."

Weitere Artikel: Manfred Osten untersucht Goethes Verhältnis zum Islam. Andrea Eschbach schreibt über Ruedi Baurs grafische Gestaltung des Orientierungs- und Informationssystem für die Expo 02. Hans-Theodor Wohlfahrt annonciert die Eröffnung des Opernfestivals von Glyndebourne, das von einem neuen Triumvirat geleitet wird. A. Sr. gibt die Spielpläne des Baseler Theaters bekannt. Claudia Schwartz meldet, dass die Berliner Museumsinsel mit finanzieller Unterstützung des Bundes saniert wird. Heribert Seifert beschreibt das "Sonderprogramm Katastrophe" beim Kurzfilmfestival in Oberhausen.

Besprochen werden "L. King of Pain" von Luk Perceval nach Shakespeare, der neue Star-Wars-Film, Richard Eyres Film "Iris", Lieven Debrauwers Film "Pauline & Paulette" und nur online zu lesen gibt es einen Artikel von Martin Walder über Woody Allens Eröffnungsfilm des Festivals in Cannes und Amos Gitais Wettbewerbsbeitrag "Kedma".

FR, 17.05.2002

In der FR übernimmt der Philosoph Bert van den Brink die Kommentierung der Wahl in den Niederlanden: "Die Niederländer, die auf dem Weg zu einer gefühligen Revolution waren, scheinen nun im Konservatismus gelandet zu sein. Wie den Bürgern so vieler europäischer Länder ist ihnen das Versprechen auf größere Sicherheit, und die Abkehr von den Mühen der Toleranz und des Multikulturalismus eine hinreichende politische Antwort. Die von Fortuyn analysierten und rhetorisch scharf diagnostizierten Probleme der niederländischen Demokratie und der politischen Kultur dürften durch die Zusammenarbeit von LPF, CDA und VVD kaum gelöst werden."

Der 500. "Tatort" ist für Georg Seeßlen Grund genug, einmal dem kathartischen Potential der Serie auf den Grund zu gehen: "Der Tatort ist eine Beicht- und Bußinstitution in einer Gesellschaft, der es manchmal vor sich selber graust, die aber weder die Kraft noch den Willen hat, etwas zu ändern. Deswegen sind Kommissar und Kommissarin, die ihren Beruf weniger als Rationalisierung denn als Moralisierung betreiben, die stets passende Metapher ... An diesem Tatort konstruierter Wirklichkeit sieht sich Deutschland (plus Österreich und Schweiz) zugleich analytisch und vergebend; jede Einstellung ist Beichte und Absolution zugleich; der Polizist ist Modell dafür, wie mit dem Bösen umzugehen sei, so zwischen Depression und Manie."

Ferner erfahren wir, dass Woody Allen den vom American Jewish Congress geforderten Cannes-Boykott boykottiert. Christian Schlüter erörtert am Beispiel Berlin, ob sich Kultur als Standortfaktor in Dienst nehmen lässt. "Timers mager" resümiert die ersten 100 Amtstage der Hamburger Kultursenatorin Dana Horakova (und das ist erst der Anfang), und Rüdiger Suchsland besucht die Pinakotheken-Metropole München.

Besprechungen widmen sich dem smarten Debütalbum von The Cooper Temple Clause ("See This Through And Leave"), Richard Eyres Filmerzählung "Iris" und George Taboris Inszenierung seines neuen Stücks "Das Erdbeben-Concerto" am Berliner Ensemble.

FAZ, 17.05.2002

Patrick Bahners nimmt die antiisraelischen Äußerungen des FDP-Manns Jamal Karsli aufs Korn und kritisiert Äußerungen Jürgen Möllemanns, dass die Israelis nur an ihre "nationalen Interessen" dächten: "Es gehört zu den Ursachen der ungerechten Pauschalkritik an Israel, die auf dem Mannheimer Parteitag allen Bekundungen guten Willens zum Trotz soviel Beifall erhielt, daß das Bewusstsein für den Zusammenhang von Souveränität und Freiheit, von Verteidigungsbereitschaft und Selbstbestimmung in Deutschland geschwunden ist. Kein Wunder, daß die FDP die Wehrpflicht abschaffen will."

Verna Lueken untersucht unterdes, warum ausgerechnet die protestantische Rechte in den USA, die sonst mit den politischen Positionen der amerikanischen Juden wenig gemein hat, so fest zu Israel steht und macht moralische und theologische Gründe aus: "moralisch, weil die Anhänger dieser Kirchen das unendliche Leiden der Juden anerkennen, das die Christenheit ihnen zugefügt hat, theologisch, weil sie die zweite Erscheinung Christi erwarten, mit der erst zu rechnen ist, nachdem die Diaspora ein Ende gefunden hat und die Juden im Heiligen Land seßhaft geworden sind."

Andreas Kilb schickt einen ersten Bericht aus Cannes. Er hat unter anderem den Dokumentarfilm "Bowling for Columbine" von Michael Moore gesehen, der sich mit dem Massaker von Littleton und der Macht der amerikanischen Waffenlobby befasst. Leider zerfasert der Film, meint Kilb: "Am Ende weiß man nicht einmal mehr, ob nicht vielleicht auch Moore von dem Verfolgungswahn befallen ist, den er seinen Landsleuten vorwirft. Jedenfalls klingt die These von der kapitalistischen Verschwörung der Produzenten, Ladenketten und Politiker, auf die 'Bowling' schließlich zuläuft, auf gespenstische Weise vertraut." Katja Gelinsky berichtet zugleich über die National Rifle Organization, die Präsident Bushs Regierung auf ihre Seite bringt. Man versichert, "dass die amerikanische Verfassung ein individuelles Recht auf Waffenbesitz" garantiert.

Weiteres: Florian Illies hat sich die Skulpturen von Stephan Balkenhol im Bankettsaal des Kanzleramts angesehen. Christian Geyer fragt, ob die Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung nun einen Paradigmenwechsel darstellt. In einer kleinen Meldung erfahren wir, dass das Spiel "Counterstrike" nun doch nicht auf den Index jugendgefährdender Schriften gesetzt wird. Ralf Forsbach resümiert eine Frankfurter Debatte zur Bioethik. Siegfried Stadler berichtet über den Streit um die Dresdner Antikensammlung und die Frage, ob sie zum Teil nach Chemnitz umziehen soll. Gina Thomas meldet, dass der ehrwürdige britische Verlag John Murray (der Verlag von Lord Byron) von der Firma Hodder Headline übernommen wurde, die zur WH Smith-Gruppe gehört. Lucian Haas hat ein von Verbraucherministerin Renate Künast veranstaltetes Symposion zur grünen Gentechnik besucht.

Auf der Medienseite behauptet Alexander Bartl mit guten Argumenten, dass die ARD im "Groschenheft-Kitsch" "sämtlichen ihrer Konkurrenten weit voraus ist" (und wer führt in der Volksmusik?). Michael Hanfeld unterhält sich mit ARD-Intendant Fritz Pleitgen über Fußballrechte. Ferner wird gefragt, ob man den Kanzler einfach nackt zeigen darf, wie es Stern gerade getan hat. Auf der letzten Seite bilanziert Eberhard Rathgeb hundert Tage Hamburger Kulturpolitik nach dem Amtsantritt Dana Horakovas. Und Edo Reents schreibt ein kleines Profil des ehemaligen Boxweltmeisters George Foreman, der Gospelsongs geschrieben hat und sie gern von Jose Carreras und den Wiener Sängerknaben aufgeführt hörte.

Besprochen werden George Taboris Stück "Erdbeben-Concerto" beim Berliner Ensemble, Marc von Hennings Stück "Erfindung des Lebens" bei den Wiener Festwochen, Karl Goldmarks "Saba"-Oper in Mannheim, Robert Weiss' "Messiah"-Choreografie beim Budapester Ballettfestival und Arbeiten der vier Bewerber auf den Preis der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof in Berlin.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um Egon Wellesz' Oper "Die Bakchantinnen", um deutsche Arien mit Thomas Quasthoff und Karita Mattila, um eine neue CD von Elvis Costello und um eine CD der Gruppe Weezer.