Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.02.2003. Die FR annonciert ein "prophylaktisches Sterben". Die SZ empfiehlt Colin Powell, lieber gegen Hühnerdiebe zu ermitteln. Die FAZ interessiert sich in der Kriegsfrage vor allem für die "heuristische Figur des Spiegelns". In der NZZ betrauert George Saunders bereits jetzt die todgeweihten irakischen Kinder, während Cynthia Ozick die europäischen Kriegsgegner attackiert. Die NZZ macht auch deutlich, dass eine der ernstesten Kriegsfolgen bereits eingetreten ist: das "große Medien-Blabla".

FAZ, 07.02.2003

Christian Geyer fragt, wie die Historiker einst über Colin Powells Darlegung der Fakten denken werden und kommt zu folgendem Gedanken: "Die für den Historiker erlösende Einsicht könnte insoweit lauten: Er muss endlich aufhören, im Strom der Erinnerung nach der 'Spiegelung' eines zwingenden Kriegsgrunds zu suchen. Erst wenn er sich entscheidet, nicht länger die heuristische Figur des Spiegelns, sondern jene der Projektion anzuwenden, ist aus dem Fluss der Fakten ein Aufschluss zu erwarten." Klar.

Hans D. Barbier und Frank Schirrmacher unterhalten sich mit Angela Merkel über die Lage im Land. "Ich bemerke häufig...", sagt sie, "dass es bei vielen gar kein Urgefühl für die Bedrohung gibt, der wir ausgesetzt sind. Unser bisheriger Wohlstand ist alles andere als selbstverständlich. Wenn wir aber dieses Urgefühl teilen würden, dass die Lage noch ernster ist als die Stimmung, dann würde man auch wieder über die Richtung nachdenken können, in die das Land gehen soll."

Auf der Medienseite stellt Jürg Altwegg ein französisches Buch vor, das den Medien dort peinlich ist - weil es ein paar Wahrheiten über sie erzählt, Daniel Cartons "Bien sur, c'est off: ce que les journalistes politiques ne disent jamais" (Editions Albin Michel): "Tatsächlich erzeugt die Anklageschrift eines Insiders ein Unbehagen, das einem beim Lesen der Qualitätsblätter nicht so schnell loslassen wird. Carton beschreibt ihr extrem hierarchisches Funktionieren, ihre Rituale, Tabus und Verhaltensregeln." Und dies gilt insbesondere für die Zentralorgane der französischen Moralität, Le Monde (Reaktion) und den (pikierten) Nouvel Observateur. Hier (als pdf) ein längerer Auszug aus dem Buch.

Weitere Artikel: Eleonore Büning freut sich über den Riesenerfolg des Berliner Ultraschall-Festivals. Wolfgang Sandner kommentiert Thomas Flierls Berliner Opernkonzept. ("Das Kunststück, den Bund ins Boot zu ziehen und rund einundzwanzig Millionen Euro für andere kulturelle Institutionen der Stadt lockerzumachen, so dass die drei Berliner Opernhäuser mit reduzierten Finanzspritzen städtisch gefördert und weitgehend selbständig erhalten bleiben können, ist freilich schon staunenswert.") Dieter Bartetzko klagt über den Abriss des Frankfurter Allianz-Hauses an der Alten Oper (erstaunlich, dass man in dieser Stadt immer noch etwas zum Abreißen findet!) Gemeldet wird, dass die Harvard Universität eine Millionenspende von Jane Fonda, die zur Gründung eines Instituts für Sexualkunde gedacht war, zurückgibt. Michael Althen würdigt auf der Berlinale-Seite die vom Festival geehrte Schauspielerin Anouk Aimee. Hans-Jörg Rother stellt Filme aus Osteuropa im Forum und im Panorama vor.

Auf der letzten Seite schreibt Mark Siemons ein Profil über Fritz Mierau, der sich über die Vermittlung russischer Literatur in der DDR verdient machte. Reinhard Veser schickt eine schöne Reportage aus Uzupis, einem Künstlerviertel in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Lorenz Jäger berichtet über eine Hommage des Nazi-Architekten Albert Speer an Philip Johnson, den er als eine Art Nachfolger im Geiste anzusehen schien. Auf der Medienseite bedauert "aba." die Abschaltung des Volksmusiksenders MDR in den Kabeln von Rheinland-Pfalz. Und Hans-Christian Rössler schickt eine Reportage aus dem Bagdader Pressezentrum.

Besprochen wird ein Konzert von Tori Amos in der Frankfurter Jahrhunderthalle.

NZZ, 07.02.2003

Zwei amerikanische Stimmen für und gegen den Krieg präsentiert die NZZ im Feuilleton.

Der Erzähler George Saunders (mehr hier und hier) ist gegen den Krieg und beschwört seine unschuldigsten Opfer: "Da wacht ein irakischer Bub auf, denkt widerwillig an den Schulweg, reckt trotzdem schon mal den Fuß unter der Decke hervor. Da kaut ein Mädchen nervös auf seinem Zopf herum, weil es klein ist und sein Vater der Ärmste im Dorf. In diesem Moment sind sie da, träumen von ihrer Zukunft, aber einige von ihnen - eine bestimmte Anzahl, wir werden sie bald genauer bestimmen können - werden bald ausgelöscht sein."

Und die Essayistin Cynthia Ozick (mehr hier) ist gegen die europäischen Kriegsgegner, deren Argumentation sie so persifliert: Saddam Hussein "hat im eigenen Land Tausende vergast, was, nun ja, gar ein bisschen nach Hitler riecht. Aber Verbindungen zu Terrororganisationen? Gewiss nicht. Niemand hat das einschlägig nachgewiesen. Wie bitte? Sie halten es für richtig zu erwähnen, dass er die Familien palästinensischer Selbstmordattentäter jeweils mit 25 000 Dollar honoriert? Und damit aktiv die Terroristen des Islamischen Jihad, der Hamas, Tanzim, Fatah und Hizbullah unterstützt? Wie unsinnig, uns damit zu kommen. Er terrorisiert damit ja bloß die Juden."

Weitere Artikel: Claudia Schwartz schildert deutsche Reaktionen auf den Gang der Flick Collection nach Berlin. Barbara von Reibnitz liest eine Nummer der Internationalen Zeitschrift für Philosophie, die sich mit den Einflüssen der Antike auf das politische Denken der Moderne befasst. Und Patricia Benecke meldet, dass der Schauspieler Kevin Spacey das Londoner Old Vic Theatre übernimmt.

Besprochen wird eine Mailänder Ausstellung mit sehr frühen Sankt-Petersburg-Fotos, die der Schweizer Fotograf Ivan Bianchi in den 1850er Jahren schoss.

Auf der Filmseite erzählt Jürgen Kasten, was man über das verschollene Frühwerk Fritz Murnaus weiß, dem die Berlinale eine Retrospektive widmet. Und Jürgen Müller betrachtet "Nosferatu" als "deutsche Erzählung über die Heimkehr aus dem Weltkrieg". Patrick Straumann schreibt zum Tod des portugiesischen Regisseurs João Cesar Monteiro. Ferner geht es um Filme von Jacqueline Veuve, um Rolando Collas Geschichten vom Krieg und um die Exportförderung für Schweizer Filme in der EU.

Auf der Medien- und Informatikseite warnt ein Kasten vor einer besonders ernsten Kriegsfolge: "Mit einem großen Medien-Blabla ist zu rechnen. Denn die dann zur Verfügung stehenden Informationen werden bei weitem nicht ausreichen, den für den Kriegsfall entsprechend aufgerüsteten Medienapparat auszulasten." "H. Sf." wendet sich gegen außergerichtliche Hinrichtungen und Todeslisten im Krieg gegen den Terror. "tpg." erzählt, wie sich Fernsehsender auf den Ernstfall vorbereiten.

TAZ, 07.02.2003

Katrin Bettina Müller erfreut sich an den Zahlenspielen in kulturellen Krisenzeiten, die ja auch bei den deutschen Bühnen immer beliebter werden. Über Freikarten für Journalisten wird zum Beispiel gern diskutiert. Aus der Sicht einer unterbezahlten taz- Kulturredakteurin stellt sich das so dar: "Nehme ich die durchschnittliche Summe, mit der ein Theaterticket subventioniert wird - 90 Euro nach einer Statistik über die Spielzeit 2000/2001 -, und multipliziere sie mit der Zahl meiner Theaterbesuche in einem Monat (13 Veranstaltungen), dann kommt da das befriedigende Sümmchen von 1.170 Euro heraus. Schon fühlt man sich wie ein im Luxus schwimmendes Geschöpf."

Weitere Artikel: Joey Burns, Kopf der alternativen Country-Band Calexico, spricht über das neue Album der Band "Feast of Wire", die Grenze zu Mexiko, kulturellen Austausch und die Ignoranz seiner Landsleute. Und Susanne Messmer findet, dass Nick Cave mit seinem neuen Album "Nocturama" alt geworden, aber würdig geblieben sei.

Weniger Sentiment als vielmehr Kalkül erkennt Adam Krzeminski auf der Meinungsseite im radikal proamerikanischen Kurs der polnischen Regierung: "Man wünscht sich ein stärkeres wirtschaftliches Engagement der Amerikaner in Polen, wozu der Kauf der amerikanischen F-16-Abfangjäger und die Modernisierung der polnischen Flugzeugindustrie den Auftakt bilden sollen. Der polnische Ministerpräsident Leszek Miller sprach darüber mit Präsident Bush ausgerechnet während der Rede Colin Powells vor dem UN-Sicherheitsrat. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass für einen konservativen Präsidenten der USA ausgerechnet die polnischen Postkommunisten und Neosozialdemokraten nun bevorzugte Partner und Alliierte in Ostmitteleuropa sind."

Und schließlich Tom.

FR, 07.02.2003

Warum nur wollen die USA so sehr diesen Krieg, dass sie auf "immer absurdere Weise verzweifelt, ja verbohrt" nach Gründen für ihn fahnden, klagt Peter Fuchs in der Reihe "Krieg gegen den Irak?" Warum pumpen sie in die Gegenwart so viel "Riskanz, Aufregungsmöglichkeiten, Nicht-Vermeidbarkeitsgefahren"? "Man kann gar nicht friedlich bleiben, wenn die Zukunft voller Gefahren gesehen wird und man zugleich die Möglichkeit hat, waffengewalttätig vorab zu intervenieren. Der Angriffskrieg ist kein Angriffskrieg. Er ist Verteidigung im Blick auf den gegenwärtigen (eigentlich hoch kontingenten) Entwurf der (amerikanischen) Zukunft. Klar ist, es wird gestorben werden, aber: Es wird ein prophylaktisches Sterben gewesen sein, für dessen Notwendigkeit niemals ein Beweis geführt werden kann."

Weitere Artikel: "nk" freut sich über die Freilassung des iranischen Theologen und Dissidenten Hossein Ali Montazeri, "die Ikone der iranischen Reformbewegung, eine lebende Erinnerung daran, wofür die Islamische Revolution einmal stand". Auf dem Medienkunstfestival "Transmediale" hat Dirk Fuhrig zwar einige Glanzlichter entdeckt, wundert sich aber dennoch, "wie schlicht Medienkunst heute noch öffentlich daher kommt: Software-Bastelei in vielerlei Varianten, inhaltlich belanglos." Karl Grobe begibt sich auf historische Spurensuche in den amerikanischen Westen. Hans Doderer erinnert an den Anarchisten und Reichstagsabgeordneten Johann Most (1846-1906), mithin ein "deutscher Terrorist in den USA". Und Ursula März hat in einem Berliner Gerichtssaal erfahren, womit man eine Mücke mästen muss, um aus ihr einen Elefanten zu machen: mit männlichen Hormonen. Und in der Kolumne Times mager feiert "kcb" die neue lybisch-kubanisch-deutsche Völkerfreundschaft.

Besprochen werden Ron Marshalls Filmmusical "Chicago", mit dem gestern die Berlinale eröffnet wurde, Anton Rubinsteins Oper "Der Dämon" in Paris, Robert Carsens "Fidelio"-Inszenierung in Amsterdam, die Roland-Barthes-Ausstellung im Pariser Centre Pompidou, die Ausstellung "Liebeskunst" im Zürcher Rietbergmuseum sowie der Thriller "Anatomie2".

SZ, 07.02.2003

Die von Colin Powell vorgelegten Erkenntnisse über den Irak haben Heribert Prantl überhaupt nicht gereicht. Für ihn waren das keine Beweise, allenfalls Indizien, Vermutungen und Befürchtungen. Da kann der ehemalige Staatsanwalt nur den Kopf schütteln: "Die Anforderungen an die Verurteilung eines Hühnerdiebes sind also wesentlich höher als die, die offensichtlich zur Begründung und Rechtfertigung eines Krieges genügen sollen."

Zur Berlinale gibt es eine ganze Reihe von Berichten. Regisseur Steven Soderbergh erzählt von den alten Göttern, seinem neuen Film "Solaris" und warum bei ihm auch Frauen mit auf die Raumstation dürfen: "Wenn die großen Fragen gestellt werden, sitzt immer ein Club von Jungs herum und trifft die Entscheidungen. Das fand ich irgendwie nicht cool." Anke Sterneborg stellt die "streitbaren und außerirdischen" Mitternachtsfilme im Forum vor. Und über Anouk Aimee, die einen Ehrenbären erhält, bemerkt Fritz Göttler: "Sie ist animalisch, aber das mit einer Aura des Aristokratischen."

Weitere Artikel: Seit in Birmingham bei einer Gangschießerei zwei unbeteiligte Mädchen ums Leben gekommen sind, rüstet die britische Regierung für den Kampf gegen "Macho-Idioten-Rapper", worin Raphael Honigstein ein ganz "zynisches New-Labour-Manöver" sieht, das Problem "von der trostlosen Realität der Sozialwohnungsghettos auf das kulturelle Terrain" zu verlegen. Henning Klüver meldet, dass Marina Berlusconi - "ganz der Vater" - Chefin des größten italienischen Mondadori Verlages geworden ist. In seinen "Noten und Notizen" sinniert Claus Koch über das Kinderkriegen, die Biotechnik und den "Sarah-Rebekka-Rachel-Komplex". Der Philologe Walter Burkert fragt, wer dem Menschen eigentlich das Recht gibt, "Tiere und andere Menschen" zu schlachten?

Besprochen werden die letzte Szene des "Licht"-Zyklus, die Karlheinz Stockhausen auf Gran Canaria präsentierte, ein Konzert des Beaux Art Trios in München, die Schau zweier barocker Fürstensammlungen im Münchner Haus der Kunst und Bücher, darunter der Sammelband "Was ist der Mensch?" und Briefe von Johann Gottfried Seume.