Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.07.2003. Die taz weiß, wer unterm Kanzler Roland Koch Kulturstaatsminister werden will. In der SZ findet Boris Groys die geplante RAF-Ausstellung überhaupt nicht anstößig. Die FR nimmt Leo Strauss vor den Neocons in Schutz. Die FAZ lernt Scheitern mit Jan Ullrich.Die NZZ versucht, Zadek zu verstehen.

SZ, 28.07.2003

Der Medientheoretiker Boris Groys mag an der geplanten RAF-Ausstellung überhaupt nichts Anstößiges finden, wie er im Interview mit Sonja Zekri bekennt. "Eine Ausstellung ist immer einseitig. Die Forderung nach vollständiger Repräsentation aller Seiten gilt vielleicht für die Politik. So etwas kann die Kunst nicht. Auf der anderen Seite leben wir in einer Demokratie, in der, wie Beuys es nannte, eine 'soziale Skulptur' entsteht. Auch die Empörung gehört in die Schau. Eine Ausstellung ist ja vor allem ein Appell an die Öffentlichkeit, zu einem Thema Stellung zu nehmen."

Joachim Kaiser ist not amused über Claus Guths "Fliegenden Holländer" in Bayreuth. Das Ganze, schimpft er, "erwies sich als eine psychologisierende Verkleinerung des Wagnerschen Geniestreiches. Elementares und Dämonisches löst sich auf in Gesten hypnotischer und selbsthypnotischer Beschwörung. Oder auch in pretiöse Beiläufigkeiten."

Weitere Artikel: Ludger Fittkau und Petra Gehring berichten, dass sich belgische und schweizerische Ärzte auf Sterbehilfe vorbereiten, "um Kosten zu sparen". Im Interview plaudert Stararchitekt Daniel Libeskind über kompromisslose Architektur und sein neues World Trade Center (Entwurf). Franziska Augstein wundert sich nicht, dass das Standardwerk zur Nazizeit in England geschrieben wird. Dem ersten Teil von Richard Evans "The Third Reich" bescheinigt sie schon mal im Voraus Sachkenntnis und Stil. Willi Winkler zeigt auf, dass aus den ganzen Superstar-Ausscheidungswettkämpfen nur normierte FDP-Wähler als Sieger hervorgehen. Lothar Müller sinniert über den klassischen, aber nicht ewigen Zweiten Jan Ullrich. "zig" kann sich im Gegensatz zum Grünen-Politiker Matthias Berninger nur halbherzig über Schokoladen-Zigaretten empören. Julia Encke wittert in der Renaissance der "Dr. Norden"-Arztromane die Sehnsucht nach der heilen Welt in der Krise. Fritz Göttler schreibt zum Tod des britischen Filmemachers John Schlesinger.

Auf der Medienseite untersucht Alexander Kissler in seiner Phänomenologie der letzten Ausgabe an erschreckend vielen Beispielen aus jüngerer Zeit, inwiefern sich der Geist einer eingestellten Zeitung im letzten Exemplar wiederfinden lässt. Gustav Seibt ehrt in der Reihe Große Journalisten den Erfinder des politischen Journalismus, Ludwig Börne.

Besprochen werden Christian Stückls wenig veränderte "Jedermann"-Inszenierung bei den Salzburger Festspielen, Brian Gilberts untypischer Horrorfilm "The Gathering", Carl Philipp Emanuel Bachs wiedergefundene Matthäus-Passion bei der Ansbacher Bach-Woche, und Bücher, darunter "Kalkül und Leidenschaft", Joseph Vogls kluge Poetik des ökonomischen Menschen, Michael Alberts utopisch-sinnige Kapitalismuskritik "Parecon. Life After Capitalism" sowie Hans-Jörg Heneckes verfrühtes Resümee der Ära Schröder "Die dritte Republik - Aufbruch und Ernüchterung" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 28.07.2003

Nach allem, was wir bisher gehört haben, klärt uns Rudolf Walther nun auf, dass der konservative Philosoph Leo Strauss (hier ein Essay über Strauss und seine "Schule") rein gar nichts zu tun hat mit den Neokonservativen der Bush Regierung a la Wolfowitz. "Das Weltbild der Falken im Pentagon trägt zwar offen kreuzzüglerisch-manichäische und insofern para-religiöse Züge, aber diese stammen aus dem christlichen Fundamentalismus und nicht aus den subtilen religiösen Reflexionen von Strauss. Das von Paul Wolfowitz bereits 1992 vorgelegte Strategiepapier (mehr hier) lebt so wenig wie andere neokonservative Pamphlete von Anleihen bei Strauss... Im Horizont von Strauss' Denken liegt sicher ein Zurück und insofern ein konservatives Moment, aber Strauss weigerte sich beharrlich, den Weg dorthin auch nur anzudeuten."

Ganz und gar hingerissen ist Hans-Klaus Jungheinrich von Claus Guths "Fliegendem Holländer" in Bayreuth. Er lobt Anfang und Schluss, Bühnenbild, die Sänger, den Dirigenten und den Regisseur: "Alles in allem also eine hochrangige Wagneraufführung, die erste wirklich bedeutende seit Heiner Müllers Tristan-Inszenierung."

Auf der Medienseite verkündet Michael Grabenströer, dass das im September startende Rhein-Main TV einen neuen amerikanischen Investor gefunden hat. Die Frage aber bleibt: "Wozu braucht es Ballungsraumfernsehen?" Michael Ridder dankt Neun Live von ganzem Herzen, dass sie die 80er-Jahre-Serie "Ein Colt für alle Fälle" wieder auflegen.

Weiteres: Ursula März lässt es sich nicht nehmen, Hans-Christoph Buch zu seinem Welt-Artikel über die verheerende Wirkung von Frauen auf die Literatur die Meinung zu sagen: "Außen Christa Wolf und innen Otto Weininger. Das soll ihm erst mal jemand nachmachen." Gerhard Midding schreibt zum Tod des britischen Filmregisseurs John Schlesinger ("Marathon Man"). In Times mager verteidigt Volker Schmidt den zu Unrecht verteufelten Neid gegen seine schlechte Presse.

TAZ, 28.07.2003

Gabriele Goettle hat sich wunderbare 935 Zeilen lang mit Markus Moser unterhalten, BSE-Experte aus der Schweiz, Unternehmer und Erfinder des erfolgreichsten BSE-Prionen-Tests weltweit. Die beiden sprechen über Zufälle, Rückfälle und repressive Regierungen. "Alles, was wir glaubten überwunden zu haben in unseren modernen Demokratien, weil wir sagten, das kommt nur von der Diktatur selbst, weil sich jemand Zugang verschafft hat zur Macht und sie missbraucht, gewalttätig die Leute einschüchtert, die Meinungen unterdrückt, das kommt plötzlich ohne jede Not hoch. (...) Und dann, von einem Tag auf den anderen, wird gesagt, O.K., es gibt jetzt BSE, du kannst es melden, du musst es melden! Und nach ein paar Wochen fällt keinem mehr auf, dass es je anders gewesen war. (...) Also wenn 1998 keine positive Kuh unter den 3.000 getesteten gewesen wäre, wäre unser Test bei der Evaluierung nicht genommen worden, die Studien wären desaströs gewesen. Man hätte vielleicht die ganze Sache am Ende begraben und wäre der Meinung geblieben, dass Großbritannien ein BSE-Problem hatte im vorigen Jahrhundert und Resteuropa war so weit BSE-frei."

In ihrem Report auf der Tagesthemenseite breitet Eva Schweitzer die neuesten Erkenntnisse bezüglich der Propagandaschlacht im Irak-Krieg aus: War früher das CIA für die Desinformation zuständig, erledigt das jetzt das Pentagon. Hier noch ein paar Fakten zu Film und Krieg sowie CIA und Presse.

Außerdem: Barbara Schweizerhof verabschiedet den britischen Filmregisseur John Schlesinger. Klaus Harpprecht kolportiert auf der Meinungsseite, warum "FAZ-Hauptherausgeber" Frank Schirrmacher sich so bei Roland Koch andient: "Man sagt, er schiele auf das Amt des Kulturstaatsministers beim künftigen Kanzler Koch". Auf der Medienseite vermutet Marina Mai, dass hinter den Vertriebsproblemen einer in Warschauer erscheinenden Zeitschrift für Auslandsvietnamesen nur einer stecken kann: "der lange Arm Hanois". Brrr.

Eine überraschend wohlwollende Besprechung widmet sich der Bayreuther Inszenierung des "Fliegenden Holländers" in der genauen, frappierenden, gänzlich neuen Lesart von Claus Guth.

Schließlich Tom.

NZZ, 28.07.2003

In leicht spöttelndem Ton kommentiert Franz Wille den "Zadek way of the art", den Europas teuerster Theaterregisseur in seinem Buch "Menschen Löwen Adler Rebhühner" darlegt. Wille fragt sich, ob der "Bilderstürmer der sechziger und siebziger Jahre endlich ruhiggestellt" ist. Zadeks Fürstentum ist das Literaturtheater und sein Regiestil hätte Machiavelli vor Neid erblassen lassen, findet Wille. Er zitiert Zadeks Ausspruch "Die Hauptfrage ist: Wie komme ich von dem, was der Schauspieler macht, zu dem, was ich will." Dazu stellt Wille fest: "Peter Zadeks Humor wird Donald Rumsfeld gefallen."

Weitere Artikel: Claudia Schwartz lobt die Ausstellung "Grazland - 100% Stadt" im Haus der Architektur in Graz, die sich mit der Zersiedelung der europäischen Städte beschäftigt. So werden in der Kulturhauptstadt 2003 nicht nur Architekten wie Peter Cook, Colin Fournier oder Klaus Kada, sondern auch die Kehrseiten der Suburbanisierung, vorgestellt. Peter W. Jansen schreibt den Nachruf auf John Schlesinger, den "Meister des Casting" (Filmografie hier). Besprochen werden die Claus Guth-Inszenierung des "Fliegenden Holländers", die Ausstellung des unkonventionellen "Ex-Designers" Marti Guixe im Mu.dac in Lausanne und die Lorenzo de' Medici-Biografie von Ingeborg Walter (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 28.07.2003

Der Schriftsteller Burkhard Spinnen ("Der schwarze Grat") nimmt Jan Ullrichs zweiten Platz bei der Tour de France als Vorbild für eine von Deutschland zu lernende Kunst des Scheiterns: "Jan Ullrich .. hat deutlich verloren und ist nicht untergegangen. Er ist gefallen, aber nicht abgestürzt. Daran werden wir uns ein Beispiel nehmen. Weil wir müssen."

Gerhard R. Koch goutiert Claus Guths Bayreuther Inszenierung des "Fliegenden Holländers": "Claus Guth ist es bei seinem Bayreuth-Debüt fesselnd gelungen, die Innenwelt der Außenwelt als Außenwelt der Innenwelt auf die Bühne zu projizieren." Auch Eleonore Büning zeigte sich in der FAZ am Sonntag begeistert von der Aufführung.

Eine testamentarische Verfügung einer Millionärin zeigt laut Jordan Mejias, dass Spenden von Sponsoren manchmal groß, aber nicht großzügig sind. Zum Beispiel engt die verstorbene Millionärin und Mäzenin Sibyl B. Harrington die Programmplanung der Metropolitan Oper arg ein, denn mit ihrem hinterlassenen Geld sollen nur Opern von "von Komponisten wie Verdi, Puccini, Bizet, Wagner, Strauss und anderen, deren Werke zum Kernrepertoire der Metropolitan Opera während ihres ersten Jahrhunderts gehörten", finanziert werden. Und "Zu inszenieren und darzubieten ist jede dieser Neuproduktionen auf eine traditionelle Weise, die allgemein den Absichten des Komponisten und Librettisten die Treue hält." Da lobt man sich den Steuerzahler!

Weitere Artikel: Dietmar Polaczek schildert in der Leitglosse Italien als Land in dem alles zufällig geschieht (und zwar zufällig zu Gunsten von Berlusconi). Andreas Kilb schreibt zum Tod des Regisseurs John Schlesinger. Kerstin Holm berichtet, dass die russische Provinzstadt Pskow zu ihrem elfhundertsten Geburtstag ihrer Fürstin Olga zwei Denkmäler setzt. Oliver Tolmein wendet sich gegen die Abstellung der künstlichen Ernährung bei Komapatienten. Karin Leydecker fürchtet den Abriss des historischen Hafermagazins in der pfälzischen Stadt Landau.

Auf der letzten Seite berichtet Andreas Rosenfelder vom Prozess gegen Kölner Polizeibeamte, die einen Mann zu Tode prügelten. Katja Gelinsky lobt ein Gesetz des demokratischen Gouverneurs von Illinois Rod Blagojevich, das die Aufzeichnung von Polizeiverhören vorschreibt. Und Gina Thomas porträtiert den britischen Politiker, Bestsellerautor und Kriminellen Jeffrey Archer. Auf der Medienseite beschreibt Heinrich Wefing das immer größere Gewicht des spanischsprachigen Fernsehens in den USA. Und Sebastiano Sortino vom Verband der italienischen Zeitungsverleger beschreibt im Interview mit Francesca Giudice, wie Berlusconis neues Mediengesetz zufällig Berlusconis hauptsächlichem Medium, dem Fernsehen, zu gute kommt: "Das Fernsehen hält in Italien 51 Prozent des Werbemarktes. In Deutschland dagegen nur dreißig Prozent. Durch die Reform können die Sender noch mehr werben."

Besprochen werden eine Ausstellung von Skulpturen Roy Lichtensteins auf dem Dach des Metropolitan Museums und der Film "Natürlich Blond 2".