Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.11.2003. In der SZ spuckt Tariq Ali allen Kollaborateuren der amerikanischen Besatzung (des Iraks) ins Gesicht. Auch Juan Goytisolo muss in der Welt schwer schlucken. Die FR hat einen großen Abend mit der von Volker Lösch in Dresden inszenierten "Orestie" erlebt. Die FAZ hofft, dass alles, was einen Anfang hat, auch mal enden muss, vor allem die neue "Matrix"-Folge. In der NZZ beobachtet Bahman Nirumand den iranischen Reformer Mohsen Kadivar bei der Vereinigung von Islam und Menschenrechten.

SZ, 05.11.2003

"Länder, die zu den Besatzern des Irak zählen, sollten nicht darüber urteilen, unter welchen Bedingungen Iraker Widerstand leisten dürfen. Die Besetzung des Irak ist verwerflich, und entsprechend fällt die Reaktion aus", befindet der pakistanische Autor Tariq Ali (mehr hier). Er selbst kann dieser Vorform einer nationalen Befreiungsfront viel Positives abgewinnen: Tolle Gedichte etwa ("Ich spucke in die Gesichter der Kollaborateure"), neuen Mut für die palästinensische Waffenbrüder oder Wahlkampfhilfe für die Demokraten in Washington: "Durch diese irakischen Partisanen wird Bushs Position im eigenen Land geschwächt. Sie helfen den Demokraten in Amerika, ihre Regierung anzugreifen."

Im Interview mit Patrick Roth erzählt Keanu Reeves von den Arbeiten am dritten "Matrix"-Film und der Ergebenheit seiner Stuntleute: "Die Jungs ließen sich auf Kommando in den Boden rammen, gegen die Wand schleudern, himmelwärts katapultieren. Arbeiteten ohne Jammern. Mit unglaublichem Eifer. 'Nochmal, Keanu?' Mehr hab ich nie von denen gehört." Den Film selbst bespricht Susan Vahabzadeh mehr als verhalten.

Weitere Artikel: Alex Rühle weiß von einer hübschen Medienfarce zu berichten, wie nämlich die Zeitschrift für den gepflegten Landadel Home and Garden die Wiederveröffentlichung einer Homestory verhindern wollte, die das Blatt im Jahr 1938 von den Hitlers gemacht hatte (nachzulesen hier). Bernd Feuchtner freut sich, dass Sandeep Bhagwati dem Frankfurter Ensemble Modern indische Musik beigebracht hat. Henning Klüver war zum Abschluss der Biennale von Venedig auf einer Tagung zu Globalisierung und Kunst.

Auf der Medienseite zeigt Lutz Hachmeister, wieJournalisten, Berater und Politiker in der Sache Hans Eichel "gemeinsam auf einen beispiellosen Trip der Realitätsverleugnung gingen".

Besprochen werden die James-Rosenquist-Ausstellung im New Yorker Guggenheim, Robert Wyatts neue CD "Cuckooland", Moni Ovadias Inszenierung "Konarmija" nach Isaak Babel in Bologna und Bücher, darunter die "klugen, belesenen, wohlformulierten und witzigen" Essays von Michael Maar "Die Glühbirne der Etrusker" und ein Fotoband zur Geschichte deutscher Einwanderer in Israel (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 05.11.2003

Der spanische Autor Juan Goytisolo sieht sich im Interview mit der Welt durch George W. Bush zum Terroristen gestempelt: "US-Präsident Bush hat mit seiner Doktrin vom unilateralen Krieg gegen den internationalen Terrorismus einen schlimmen logischen Fehler begangen: Jetzt muss sich jeder, der die Besetzung des Iraks verurteilt, als Terrorist fühlen."

TAZ, 05.11.2003

Dorothea Marcus erzählt, wie sie mit Tankred Dorsts "Parzival" zum Kulturaustausch nach Teheran und Isfahan reiste: "Theateraustausch ist ein diffuses Geschäft - man kommt hierher und trifft auf die reine Begeisterung. Das erzeugt irgendwie ein leicht imperialistisches Gefühl, eine irreale Erwartung, als könne man dazu beitragen, das Land zu retten. Es mit gutem Theater anregen, liberale Kräfte stimulieren - im Ohr rauschen die triumphalen Berichte bereits hergereister Feuilletonisten."

Susanne Messmer bedankt sich bei Berlins zuverlässigstem Schwarzhändler von Konzertkarten für treue Dienste. Dietmar Kammerer bemerkt zu "Matrix Revolutions", dass "die Programme bisweilen um einiges menschlicher wirken als die bis an die Zähne bewaffneten Rebellen".

Und schließlich Tom.

FR, 05.11.2003

Einen "großen Abend" hat Nikolaus Merck mit der von Volker Lösch inszenierten "Orestie" am Staatsschauspiel Dresden erlebt. Ganz wunderbar fand er vor allem den Chor, alles Laien, die fünf Monate mit Schleef-Chorist Bernd Freytag geprobt hatten. Doch was "diese wagemutigen Sachsen über die erlernte Kunstfertigkeit hinaus zu idealen Vertretern des Publikums macht, hat ihnen niemand beibringen können: ihre Gesichter und Figuren, in denen sich jene Wirklichkeit ausdrückt, nach der das Theater der Gegenwart so dringend verlangt. In den großen Auseinandersetzungen der Chöre mit Klytaimnestra und Orestes, mit Elektra und Apollon in die Gesichter zu schauen und auf die gespannten und zugleich so anrührend untrainierten Leiber, ist aufregend. Doch erst die stupende, nicht nachlassende Spielfreude, mit der die Choristen die Profi-Kollegen herausfordern, macht diese Unternehmung so bemerkenswert."

Micha Brumlik antwortet auf einen offenen Brief des Völkerrechtlers Norman Paech, der in der Jungen Welt Brumliks Haltung in der Hondrich-Debatte kritisiert hatte. Es gibt einen Unterschied, meint Brumlik mit Blick auf die Selbstmordattentäter, zwischen erklären und rechtfertigen: "Die historische Forschung kann heute relativ gut erklären, warum es zum Aufstieg Pol Pots und zur Exekution aller Brillenträger in Kamputschea kam. Ist sie damit schon gerechtfertigt?"

Besprochen werden der letzte Teil der Matrix-Trilogie, vier große Premieren am Kölner Schauspiel, die Stefan Keim allesamt intellektuell schlampig findet ("Klischees in einer oft unerträglich manierierten, auf die Zustimmung einer kleinen Szeneklientel zielenden Form"), eine Ausstellung mit Werken des argentinisch-italienischen Konzeptkünstlers Lucio Fontana in der Städtischen Galerie in Villingen-Schwenningen, Aufführungen des Mariinsky-Theaters unter Valerie Gergiev bei den Berliner Festwochen und Bücher, darunter Arnold Stadlers neuer Roman "Eines Tages, vielleicht auch nachts", Ivan Ivanjis Erzählung "Die Tänzerin und der Krieg" und ein Band mit Fotografien von Arno Schmidt (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 05.11.2003

Bahman Nirumand ist außerordentlich beeindruckt von einem Interview, dass der Geistliche Mohsen Kadivar (homepage) der Teheraner Monatsschrift Aftab gegeben hat. Kadivar, der zu den radikalsten Reformern gehöre, denkt über die Vereinbarkeit von "Islam und Menschenrechten" nach. Zuerst schildert er, wer wo und wie unter den konservativ ausgelegten islamischen Geboten ungerecht behandelt wird (z.B. die Frauen). Danach stellt er die kühne Frage, ob hier eine "historisch fehlgeleitete Entwicklung" bei der Auslegung des Koran zu beklagen ist, oder die Wurzeln der Ungerechtigkeit in den Ursprüngen des Islam selbst liegen: "Es sei nicht zu leugnen, dass sowohl gewisse Aussagen des Propheten wie auch bestimmte Stellen im Koran eindeutig im Widerspruch zu den Grundsätzen der Menschenrechte stehen, sagt er. Dies sei jedoch nicht das Entscheidende. Das Hauptproblem liege darin, dass nach Auffassung der Traditionalisten 'nicht die Individuen im Mittelpunkt der Diskussion stehen, sondern Gott und der Glaube'. Dementsprechend richte sich die Aufmerksamkeit der Gelehrten nicht auf die Rechte und Freiheiten der Menschen, sondern auf die Pflichten, die Gläubige Gott gegenüber zu erfüllen haben. Damit werde die geistige, spirituelle Substanz der Religion zugunsten der Einhaltung von Vorschriften und Erfüllung von Pflichten preisgegeben."

Weitere Artikel: Paul Jandl ruft angesichts der Intrigen bei der Suche nach einem neuen Direktor des Wiener Volkstheaters "Niedertracht!" und "Mobbing!", sieht er doch "das Blut der Ehrabschneidung fließen". Besprochen werden Tom McCarthys Film "The Station Agent", das Eröffnungskonzert der Wien modern 2003 (mehr), bei dem "einem großen Publikum das Gefühl vermittelt wird, dass neue Musik ganz normal dazugehört und ihre eigene Geschichte hat", so Peter Hagmann, das Konzert des Pianisten Fazil Say in Zürich und Bücher, darunter Jhumpa Lahiris Entwicklungsroman "Der Namensvetter" (mehr) und zwei "umfangreiche" Werke zur Geschichte der Sephardim (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 05.11.2003

Recht ungnädig gibt Andreas Kilb am Ende seiner Besprechung der dritten "Matrix"-Folge ("Revolutions" heißt der Film) seiner Hoffnung Ausdruck, dass "alles, was einen Anfang hat, ein Ende haben" muss.

Weitere Artikel: Gerhard R. Koch war nicht zufrieden mit dem Masterprize für Neue Musik, der nach umständlichen Juryprozeduren doch nur an die konventionellsten Werke ging. Jürgen Kaube befasst sich in der Leitglosse mit wenig überzeugenden Selbstdarstellungstechniken von Wissenschaftsorganisationen wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Max-Planck-Institut. Jordan Mejias hat sich neue New Yorker Theaterstücke zum 11. September angesehen, vermisst aber nach wie vor "einen Goya, einen Picasso, einen Steinbeck fürs Theater des Terrors". Michael Althen gratuliert dem Schriftsteller und Schauspieler Sam Shepard zum Sechzigsten. Uwe Walter resümiert ein Kolloquium über die Grundlagen der modernen Menschenrechte in der Antike an der Uni Saarbrücken.

Für die Stilseite besucht Erwin Seitz die Versuchsküche der Zeitschrift essen & trinken. Auf der letzten Seite erinnert die Künstlerin und Daniil Charms-Forscherin Gudrun Lehmann an den russischen Dichter Daniil Charms. Ilona Lehnart macht Reformbedarf bei der Berliner Akademie der Künste aus, deren zu hohe Personalkosten an den künstlerischen Etats knabbern. Und Dirk Schümer porträtiert Veronica Lario, die Gattin Silvio Berlusconis, die gern - ohne Gatte - ins Theater geht, und zwar am liebsten in Berlusconi-Satiren wie das demnächst startende Stück "Lanomalo bicefalo" von Dario Fo.

Auf der Medienseite informiert uns Gina Thomas, dass James Murdoch die britische Fernsehgesellschaft BskyB übnernimmt. Jörg Bremer meldet, dass Israel Journalisten vom Sicherheitsdienst überprüfen lässt. Und Alexand Bartl beobachtete, wie der ARD-Wettermann Kachelmann über den Namen "Enzensberger" stolperte - dieser hatte ihn in einem offenem Brief kritisiert, weil er einen Tornado nicht Windhose nennt.

Besprechungen gelten den Kasseler Musiktagen und dem Tourneeauftakt des Rockmusikers Rocko Schamoni.

Tagesspiegel, 05.11.2003

Gestern hatten wir Harald Martensteins Tagesspiegel-Reportage über den Suhrkamp Verlag übersehen. Darum heute noch mal der Hinweis. Wir zitieren den Anfang: "Der Suhrkamp-Verlag hat sechs Pressedamen. Da ruft man einfach an. 'Guten Tag. Sie haben ja jetzt eine neue Geschäftsführerin, die Frau Berkewicz. Da dachte ich...' Die Pressedame: 'Frau Berkewicz redet zurzeit mit niemandem.' Ihr Ton klingt, als hätte man im Weißen Haus angerufen und mit arabischem Akzent George W. Bush verlangt. 'Wissen Sie, ich soll ein Porträt ihres Verlages schreiben. Mit wem könnte ich mich denn da unterhalten?' 'Sie dürfen, wenn Sie möchten, schriftliches Informationsmaterial abholen.' Ich denke: Das ist wieder genau wie damals, als ich diese Geschichte über Scientology machen musste. Ich sage: 'Danke, das hilft mir sicher sehr.' 'Kommen Sie nächste Woche, Mittwoch, 14 Uhr.' Ich denke: Um mir ein paar Prospekte in die Hand zu drücken, brauchen sie eine Woche Vorlauf. Das ist ja ein extrem schräger Laden."

Heute bietet der Tagesspiegel übrigens ein schönes Interview mit dem französischen Fotografen und Filmemacher Raymond Depardon.