Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.01.2004. Die FAZ empfindet Walter Kempowskis Gutachten zum Buch "Eine Frau in Berlin" der Anonyma als Triumph der Wahrheit, die NZZ als unzureichend. Und die SZ sagt gar nicht dazu. Die taz debattiert über Antisemitismus und Antiislamismus. In der FR fürchtet Nobert Bolz, dass nach dem Populismus der Elitismus komme. In der Welt definiert Wolfgang Sofsky den Unterschied zwischen Gerechtigkeit und Solidarität. Die SZ fragt: Gibt es einen neuen Konservatismus der Künste?

FAZ, 20.01.2004

Die FAZ druckt das kleine Gutachten Walter Kempowskis zum Buch "Eine Frau in Berlin" der Anonyma. Der Autor kommt hier zu dem Ergebnis, dass die Manu- und Typoskripte als authentisch gelten müssen und dass der Eichborn Verlag in seinen Vorworten ausreichend Aufklärung hierüber gab. Auch stellt er keine Einwirkung von Seiten des Bestseller-Autors und Freunds der Autorin Kurt Marek fest:. "Die Durchsicht der Handschrift und des Typoskripts ergeben aber keinen Hinweis darauf, dass Marek - oder irgendeine andere Person - an der Herstellung des Manuskripts mitgewirkt haben könnte." Felicitas von Lovenberg kommentiert das Gutachten. Für sie bleibt nach der Enthüllung des Namens der Anonyma durch Jens Bisky in der SZ (mehr hier und hier) "der schale Nachgeschmack einer Verleumdung".

Fania Oz-Salzberger kommentiert das Attentat des israelischen Botschafters in Schweden auf ein Kunstwerk, das eine in Blut badende palästinensische Selbstmordattentäterin darstellte - das Kunstwerk wurde anlässlich einer Konferenz gegen Völkermord ausgestellt: "Mein Botschafter hätte seine Hände in der Tasche lassen sollen, die Nägel schmerzhaft in die Haut gegraben, wie es viele von uns tun, wenn wir diese Art von politischen Kommentaren in Gestalt von Kunstwerken betrachten."

Weitere Artikel: Lorenz Jäger fordert nach der Aufdeckung der Machenschaften des Leichenhändlers und -Plastifikators Gunther von Hagens im Spiegel strafrechtliche Konsequenzen. Jordan Mejias konstatiert, dass das Internet im amerikanischen Wahlkampf eine entscheidende Rolle spielen wird, vor allem auf der Seite des Kandidaten Howard Deans - er nennt Deans Website Blog for America und die vom Milliardär George Soros unterstützte Website MoveOn.org. Wiebke Hüster resümiert ein Symposion des Balletts Frankfurt über die Interaktion zwischen Umwelt und Bewegung am Beispiel von Tänzern. Andreas Kilb zeigt sich sehr beeindruckt von dem spanischen Schauspieler Javier Bardem, der in dem Film "Montags in der Sonne" einen Arbeitslosen spielt.

Auf der Bücher-und-Themen-Seite meditiert der Historiker Jürgen Zimmerer anhand einiger neuerer und älterer Bücher über den Stand der Genozidforschung. Und Hannes Hintermeier stellt den Schriftsteller Dan Brown vor, der mit seinem Roman "The Da Vinci Code" (langer Auszug) und anderen Büchern vier vordere Plätze auf diversen amerikanischen Bestsellerlisten belegt. Auf der letzten Seite erinnert Dietmar Dath ohne erkennbaren Anlass an den Rebellenführer Louis Riel der im 19. Jahrhundert mit den frankophonen Indianern gegen die kanadische Zentralregierung focht. Zhou Derong erklärt, dass die deutsche Wirtschaft den Transrapid unter anderem deshalb nicht durchsetzen wird, weil sie allzu sehr auf die Figur des ehemaligen Premierministers Zhu Rongji setzte. Und Walter Haubrich porträtiert den spanischen Regisseur Manuel Gutierrez Aragon, der mit seinem neuen Film "La vida que te espera" zur Berlinale eingeladen ist.

Auf der Medienseite schildert Gina Thomas, wie Conrad Black nach finanziellen Unregelmäßigkeiten sein Medienimperium um den Daily Telegraph die Chicago Sun Times und die Jerusalem Post verliert. Jürg Altwegg erklärt, warum Le Monde und Le Figaro auf neue Magazine setzen. Und der Chef der Landesmedienaufsicht NRW Norbert Schneider wirft im Gespräch mit Michael Hanfeld dem Sender RTL angesichts seiner neuesten Reality-Shows einen "römischen Begriff von Unterhaltung" vor. Jordan Mejias stellt außerdem die Site campaigndesk vor, die den Journalismus zu Wahlkampfzeiten kritisch beobachtet.

Besprochen werden eine Ausstellung über Christus-Darstellungen in der Fotografie in Hamburg, die Uraufführung von Wolfgang Maria Bauers Stück "Späte Wut in Heidelberg, eine Michael-Kalmbach-Ausstellung in der Nürnberger Dürer-Gesellschaft und "Das Rheingold" in Kopenhagen.

NZZ, 20.01.2004

Für Joachim Güntner bleiben nach Walter Kempowskis Gutachten zu Anonymas "Eine Frau in Berlin" mehr Fragen offen als jemals zuvor. Dass Kempowski die Authentizität von Manuskript und Typoskript bestätigte, helfe nicht weiter, meint Güntner: "Das war, mit Verlaub, nie die Frage. Nicht, ob zu der Edition authentische Quellen existieren, sondern ob das im Eichborn-Verlag erschienene und von Hans Magnus Enzensberger herausgegebene Buch die im Untertitel annoncierten Tagebuchaufzeichnungen so getreu wiedergibt, dass man von einem authentischen Zeitzeugnis sprechen darf, stand zur Debatte. Darüber schweigt sich Kempowski aus... Bei der Witwe des Nachlassverwalters, Hannelore Marek, hat er dagegen erfahren: "Es gebe, sagt sie, zwischen der abgetippten Tagebuchfassung und der Buchausgabe des Kossodo-Verlags (von 1959) noch ein drittes Manuskript. Das hören wir zum ersten Mal." Güntners Artikel wurde leider nur für NZZ-Abonnenten online geschaltet.

Besprochen werden die Ausstellung "Flug in die Vergangenheit" im Essener Ruhrlandmuseum, die Georg Gersters Flugbilder archäologischer Stätten zeigt, die Bonner Ausstellung über die deutsch-russische Geschichte "Spuren - Sledy", eine Aufführung von Tschaikowskys "Eugen Onegin" im Opernhaus Zürich und Bücher, darunter Adam Zagajewskis Gedichtband "Die Wiesen vor Burgund", frühe Texte von Henri Michaux und Philipp Bloms Szenen der Leidenschaft "Sammelwunder, Sammelwahn" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 20.01.2004

"Nicht belegbar" , "verantwortungslos" und die "wahren Gefährdungslagen verschleiernd" nennen Michael Kiefer und Eberhard Seidel (mehr hier) auf der Meinungsseite die von dem Ethnologen Werner Schiffauer zur Diskussion gestellte These (taz vom 6.11.2003, hier das Interview), "dass es in der Gesellschaft einen ganz massiven Antiislamismus gibt, der den Antisemitismus abgelöst hat". Sollte die Behauptiung stimmen, "Gewalttaten mit antiislamischem Hintergrund hätten zugenommen und die antisemitischen gar ersetzt, wäre es höchste Zeit, die Belege vorzulegen, um wirksame Strategien gegen die neue Herausforderung zu entwickeln. Solange diese fehlen, kann von einer Ablösung des Antisemitismus durch einen 'Antiislamismus', besser einer Islamfeindlichkeit, keine Rede sein. Es seit denn, man betrachtet, wie Schiffauer, bereits das repressive Vorgehen des Staats gegen Organisationen wie Hisb ut-Tahrir oder dem Kalifatsstaat, die zum Judenhass und -mord aufriefen, als Islamfeindlichkeit."

Im Feuilleton: Um die "Tücken von mimetischem Begehren in Mode und Kunst" geht es in einem Essay von Isabelle Graw. Klaus Pierwoss resümiert den letzen Stand im Bremer Theaterstreit um die "Zehn Gebote". Nur der Vollständigkeit halber - solidarische Randgruppenpflege - sei noch ausdrücklich auf eine Reportage über die "letzte Raucherbar in Manhattan" verwiesen. Und auf der zweiten Meinungsseite räsoniert Bernhard "der Erfinder des Familienlebens" Pötter über die Schrecken eines kinderfreundlichen Deutschland.

Besprochen werden eine Inszenierung von Wolfgang Borcherts Drama "Draußen vor der Tür" am Schauspielhaus Düsseldorf, und Gerrit Bartels rezensiert in seinen Kurzbesprechungen Bücher von Maximilian Steinbeis, Dana Bönisch, Marcus Ingendaay, Markus Seidel und Peter Stamm (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Und hier TOM.

FR, 20.01.2004

Kommt nach dem Populismus nun der Elitismus?, fragt sich der Berliner Medienwissenschaftler Norbert Bolz in seinem Artikel zur laufenden Debatte. Obgleich es ihn erstaunt, "dass ausgerechnet die Partei, die uns das grandiose Nivellierungswerk der Gesamthochschulen aufgezwungen hat, nun Elite-Universitäten fordert". Das aber zeugt immerhin "von einem erstaunlichen Lernprozess", findet Bolz. "Auf jeden Fall hat der Kanzler wieder einmal den Zeitgeist erkannt. Die Forderung nach Elite-Universitäten entspricht präzise dem Geist einer Zeit, in der Deutschland den Superstar sucht und das Volk per Handy kund tut, wen es zu 'Unseren Besten' rechnet."

In einem "vorzeitigen Nachruf" verabschiedet der Historiker Klaus Naumann vom Hamburger Institut für Sozialforschung den "Sozialtypus Soldat": "Gewiss, bei jedem Oderhochwasser werden wir den Nato-oliv eingekleideten Helfer, Schützer und Retter wieder sehen. Aus dem gesellschaftlichen Alltag, aus der Nachbarschaft, wird er indessen verschwunden sein." Allerdings, so Naumann, verhalte es sich vielleicht "mit dieser Figur aber auch gemäß Herbert Wehners Diktum: 'Wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen!'"

Weiteres: Mit einem ausführlichen Artikel erinnert Paul Michael Lützeler an die Weltausstellung 1904 in Lousiana ("Ohne die Haitianische Gelbfieber-Fliege hätte es weder 1803 den Verkauf des Louisiana Territoriums, noch 1904 die Weltausstellung in St. Louis gegeben."). Ina Hartwig kommentiert das Gutachten von Walter Kempowski über das "Anonyma"-Buch "Eine Frau in Berlin" ("Hut ab! Einen in Fragen der historischen Laien-Zeugenschaft besser Bewanderten als Walter Kempowski hätte der Eichborn Verlag nicht gewinnen können"). Frank Keil berichtet von einem Treffen anlässlich des 60. Geburtstags von Einar Schleef in dessen Geburtsort Sangershausen. "Mittelmäßigen Terror-Kitsch" nennt Silke Hohmann das Kunstwerk, das zu israelisch-schwedischen Verstimmungen führte. Und in Times mager geißelt Hans-Klaus Jungheinrich die "rhetorische Schlagfigur vom 35-Stunden-Tag'", die Michael Stürmer in einem HR-Interview propagierte, als "militant-sturmmäßige Disziplinierungswut".

Besprochen werden eine Ausstellung des fotografischen Werks der "heute nahezu unbekannten Hamburger Stadtchronisten" Emil Bieber, Max Halberstadt, Erich Kastan und Kurt Schallenberg am Altonaer Museum und das Kompendium "New York City Rock - Underground und Hype von 1950 bis heute".

Welt, 20.01.2004

Der Soziologe Wolfgang Sofsky denkt über den Unterschied zwischen Gerechtigkeit und Solidarität im Sozialstaat nach. "Gerechtigkeit herrscht dann, wenn jeder nur nach dem verlangt, was ihm zusteht, und wenn er wirklich erhält, worauf er ein Anrecht hat ... Anrechte gründen nicht auf Bedürfnissen oder Bedürftigkeit, sondern auf Verdienst und Leistung. Armut verpflichtet nicht zum Ausgleich einer Schuld, sondern zu Gaben der Mildtätigkeit. Nothilfe ist keine Frage von Gerechtigkeit, sondern von Solidarität." Der Staat könne nicht Hort der Gerechtigkeit sein, nur "die Gesellschaft. Staaten taugen bestenfalls zum Rechtsschutz der Bürger, aber nicht zum Hüter der Gerechtigkeit, geschweige denn der Solidarität. Sie helfen menschlichen Bedürfnissen nicht ab, sondern erzeugen immerzu neue. Bürokratien pflegen zuerst sich selbst zu versorgen und ihre Befugnisse auszuweiten. Politische Gerechtigkeit bemisst sich daher zuerst daran, ob die Bürger für ihre Steuern überhaupt gleichwertige Regierungsleistungen erhalten."

SZ, 20.01.2004

Aus der SZ ist uns bisher nichts zur neuen Debatte um die Anonyma überliefert, obwohl sie doch ursprünglich von ihr aufgebracht wurde - oder sollten wir etwas übersehen haben?

Angesichts der "Elite-Debatte" müssten den "im Kanzleramt ausgerufenen Innovationen, Visionen und Reformen" eigentlich "Restauration und Tradition als gesellschaftliche Sehnsüchte" antworten. "Gibt es einen neuen Konservativismus der Künste?", fragt das Feuilleton deshalb heute und schickt Gewährsleute zur Inventur in die diversen Gewerke.

Christopher Schmidt bescheidet, das "verunsicherte Gegenwartstheater" lasse "sich vorerst nur so umschreiben: Es schmutzt nicht, ist staubfrei und parkettsicher. Es pflegt seine Sekundärtugenden". Holger Liebs sieht auf dem kriseneingeschworenen Kunstmarkt letztlich nur "die Rhetorik der Rezession" durchscheinen, die den Rückgriff auf das Bewährte begünstige. Fritz Göttler bescheinigt dem Film ein entspanntes "beschaulich und nebenher", trotzdem bleibe "das Kino aber, das ist klar, der Ort der Zersetzung". Als "weißen Fleck" rettet Ijoma Mangold die Literatur über die Runden, die immer "dort, wo sie gut ist, sich in Begriffen von Fortschritt und Restauration nicht fassen" lasse. Für Reinhard M. Brembeck sind "die Meisterwerke der Musikgeschichte ohne Ausnahme auch radikale Stücke", deren "Ausleger" immer auch selber radikal sein müssten - woran auch "der neue Konservativismus" nichts werde ändern können. Einzig Gerhard Matzig bleibt nach seinem Blick auf Berlin, den "Showroom deutscher Baukunst", deutlich reserviert: "Häuser und Stadtteile sind das, die nicht vom Morgen erzählen wollen - sondern vom Gestern. Die nicht Avantgarde sind - sondern Tradition. Die nicht verändern oder erfinden - sondern bewahren oder wiederfinden. Das wäre kein Problem, verstellten sie uns nicht zunehmend den Blick dafür, dass es die Zukunft ist, die kommt."

Weiteres: Jörg Häntzschel erzählt einigermaßen genüssliche die Geschichte der amerikanischen Übermutter geschmackvoller Haushaltsführung, Martha Stewart, die derzeit wegen äußerst indezenter Aktiengeschäfte vor Gericht steht. Sabine Kebir begleitete eine Gruppe deutscher Schriftsteller - neben Günter Grass waren Ingo Schulze, Judith Hermann und Kathrin Röggla dabei - bei ihrem Besuch im Jemen. Thomas Steinfeld kommentiert die kunstbedingte diplomatische Krise zwischen Schweden und Israel: Der israelische Botschafter Zvi Mazel hatte bei einer Ausstellung in Stockholm das Kunstwerk des Israeli Dror Feiler attackiert, das die palästinensische Selbstmordattentäterin Hanadi Dschaharat als Schneewittchen in einem Meer aus Kunstblut schwimmend zeigt (Bild). Tobias Timm konzediert Berlin die Existenz einer Modemesse namens "Fashion Week", fragt sich allerdings, ob die Stadt "auch Mode" habe. Wolfgang Schreiber gratuliert der französischen Pianistin Yvonne Loriod zum 80. Geburtstag, und in der "Zwischenzeit" arbeitet sich Joachim Kaiser an einem "tollen anti-mephistophelischen Satz" von Thomas Mann ab. Ijoma Mangold schließlich informiert über das Ausscheiden von Suhrkamp-Lektor Thorsten Ahrend aus dem Suhrkamp Verlag. Gemeldet wird die Absicht der Heidelberger Staatsanwaltschaft, gegen den Plastinator und offensichtlichen Leichengrossisten Gunther von Hagens zu ermitteln.

Besprochen werden die Ausstellung der Sammlung Falckenberg im dänischen Humlebaek, der Liebesfilm "Eine Affäre in Paris" von James Ivory, zweimal "Romeo und Julia", nämlich am Hamburger Schauspiel (hier) und am Stuttgarter Staatstheater, sowie Bücher, darunter eine bisher nur in den USA erschienene Studie zur Frage, wie der 11. September passieren konnte, ein Sammelband über "Naturschutz und Nationalsozialismus", der Roman "Sex und Geheimnis" von Paule Constant und eine Analyse der amerikanischen "Außenpolitik der Angst" von Benajmin Barber (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).