Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.06.2004. Morgen vor sechzig Jahren war D-Day, und die Zeitungen fahren große Geschütze auf. Die SZ zieht Parallelen zur Gegenwart. In der Welt erinnert sich der Journalist Ernst Cramer, der aus Deutschland emigrierte und als amerikanischer Soldat zurückkehrte. Die FR beschreibt das Fernsehspektakel in Frankreich. In der taz spricht Ryszard Kapuscinski über aktuellere Probleme: den Limes zwischen reichen und armen Ländern.

SZ, 05.06.2004

Ulrich Raulff schreibt eigentlich über den 60. Jahrestag des D-Day, aber ganz unvemeidlich kommt er dann auf sehr viel aktuellere Umstände zu sprechen: "Wer aber die Rechtsform des gleichwertigen Kriegsgegners zerstört und sie zu 'gesetzlosen Kombattanten' erklärt, entzieht der politisch-moralischen Bilanz die Basis. Die Alliierten mögen das Reich Hitlers als Schurkenstaat avant la lettre angesehen und bekriegt haben, dennoch haben sie die Truppen der Wehrmacht als gleichwertigen Gegner betrachtet und bekämpft. In seiner ungeheuren Dimension und mit der Masse seiner Verluste folgte D-Day immer noch einer Logik des Vertrags; der 'Krieg gegen den Terror' folgt, wie Susan Sontag bemerkt hat, dem Gesetz des Gulag." (Sontags Artikel war in der nicht mehr verlinkbaren SZ zu lesen, aber auch im Guardian.)

Weitere Artikel: Reinhard J. Brembeck stellt, mit Provokationsabsichten, die Frage, ob sich unsere Opernhäuser Uraufführungen von Werken zeitgenössischer Komponisten noch leisten können - und sollen. Berichtet wird von der Eröffnung des Berliner Tanzkunstfestivals "In Tansit". Wolfgang Schreiber und Fritz Göttler erklären dem Leser Lars von Trier und seinen Verzicht auf die Bayreuther Inszenierung des "Ring" 2006. Aus Berlin berichtet Wolfgang Schreiber zudem, mit welcher "Begeisterung" Claudio Abbados Rückkehr für ein Konzert aufgenommen wurde. Und Fritz Göttler hat den Nachruf auf den Schauspieler Nino Manfredi verfasst. Vorgestellt wird die jüdische Öffnungsbewegung Kabbala Centre. Christopher Schmidt und Axel Rühle treiben Scherze mit der Rechtschreibreform. Perl Leo widmet sich ausführlich der Vorgeschichte des sich nun zum 50. Mal jährenden Wunders von Bern.

Besprochen werden der Film "Alt, neu, geliehen & blau" und Bücher, unter anderen eines zum "Iconic Turn" und ein "Ilias"-Hörbuch. (Mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr.)

In der SZ am Wochenende erzählt Tobias Kniebe die traurige, aufregende, außerordentliche Geschichte des Joe Eszterhas, der einmal der teuerste Drehbuchautor Hollywoods war ("Basic Instinct") und inzwischen persona non grata ist. Er hat soeben seine Autobiografie veröffentlicht: "Damals galt Eszterhas als Magier der bestverkauften Sex-and-Crime-Stories, als Tier an der Schreibmaschine und als Superarschloch. Wie es dazu kam, kann man in seinem neuen Buch 'Hollywood Animal' nachlesen, und auch davon handelt diese Geschichte: von einem Buch, das in Hollywood keine Sau mehr interessiert. Obwohl Eszterhas darin schreibt, dass er mit Sharon Stone geschlafen hat, während Paul Verhoeven, der sexbesessene holländische Maniac, nicht ran durfte, weshalb der noch heute sauer ist und jedem erzählt, Sharon Stone habe kein Talent. Ein Buch über Hollywood, wie es wirklich ist, ein sagenhaftes, krasses Buch."

Weitere Artikel: Auf der Aufmacherseite erfahren wir, dass die Redaktion Louis Begley um einen Text gebeten hat, der uns Amerika erklärt. Der Autor wollte nicht und schreibt stattdessen einigermaßen Belangloses über sich und seine Familie. Auf der Aufmacher-Seite steht es trotzdem. Weiter hinten hat sich Benjamin Henrichs Berliner Freiluft-Gedenkstätten angesehen. Vorabgedruckt wird ein autobiografischer Text Primo Levis, der in einem im Herbst erscheinenden Buch mit "Glossen und Miniaturen" zu lesen sein wird. Oliver Fuchs unterhält sich mit Robert Bell von "Kool & The Gang" über "Exzess". Exzessive Vorstellungen von "Fun" hat der allerdings nicht gerade: "Ah, Fun! Okay. Yeah. Ausgehen, Freunde treffen, Leute kennen lernen, in einem Club rumhängen - wie wär's damit?"

TAZ, 05.06.2004

Der große Reporter Richard Kapuscinski hat in einem Interview wenig Tröstliches über den Lauf der Welt und den Stand der Dinge in der sogenannten "Dritten Welt" zu berichten: "Jetzt wiederholt sich praktisch die Konstellation aus Zeiten des römischen Imperiums. Zwischen den entwickelten Ländern und den unterentwickelten entsteht ein regelrechter Limes. Es gibt viele Gesellschaften ohne Hoffnung, ohne Zukunft, die ohne Hilfe nicht existieren können. Aus der Perspektive der entwickelten Länder sind das nur mehr Risikozonen, in die man leider von Zeit zu Zeit intervenieren muss." Und aus diesen Interventionen entspringt kein Segen: "Wenn man einen Krieg beginnt, ist es sehr schwer, ihn zu beenden. Ist ein Staat einmal desintegriert, ist es furchtbar schwer, ihn wieder zu stabilisieren."

Weitere Artikel: Uwe Rada war mit dreißig SchriftstellerInnen aus Deutschland, Polen und den Niederlanden auf der Oder unterwegs. Susanne Messmer schickt ihre zweite Post aus Peking, wo sie ein Konzert der "einzigen aktiven Pekinger Mädchenband" besucht hat. Vom Elektropunk-Duo "Mediengruppe Telekommander" berichtet Tobias Rapp (und am Rande auch davon, dass er "einen der Chefredakteure der Welt am Sonntag in einem Che-Guevara-T-Shirt durch das Berliner Nachtleben springen " sah).

Besprechungen: Marco Stahlhut schreibt freundlich über Noam Chomsky, aber nicht über den Noam-Chomsky-Verehrungs-Film "Power and Terror". Rezensiert werden unter anderem ein Band mit dem Briefwechsel zwischen F. Scott und Zelda Fitzgerald, Nach-Achtundsechziger-Reflexionen von Joachim Bessing und Adriano Sack und Belletristisches von Andrea de Carlo und Doron Rabinovici. (Mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr.)

Die zweite taz stellt die Europa-Wahlwerbespots vor. Diesen zum Beispiel: "'Tina' und 'Thomas'in einer Fußgängerzone. Schul-TV? Nein, Büso-Kandidaten! Es folgt ein wahnsinniger Monolog von Helga Zepp-LaRouche vor einer Bücherwand über die Notwendigkeit eines neuen Welt-Finanzsystems. Dann wieder junge ambitionierte Wahlkämpfer in der Fußgängerzone." (Website der Partei.)

Im taz mag porträtieren taz-AuslandskorrespondentInnen zum sechzigsten Jahrestag des D-Day sechs Frauen, etwa Izabele Sztrauch und ihre Mutter: "Erste Details über die alliierte Landung erfahren die beiden Frauen aus Lodz mehrere Wochen nach Auschwitz. Da sind sie kahl geschoren und tragen die graue Streifenkleidung der KZs. Sie sind in einem Arbeitskommando in Celle eingesetzt. Müssen für das Unternehmen 'Hochtief' Löcher ausschachten. Manchmal werfen alliierte Flieger Bomben über ihrer Baustelle ab. 'Nie habe ich Leute mit mehr Angst gesehen als unsere SS-Kommandanten', erinnert sich Isabelle Choko, 'wie die Hasen rannten sie in den nächsten Unterstand. Wir hingegen hätten tanzen können. Vor Freude über die Bomben.'"

Und Tom.

FR, 05.06.2004

Die FR widmet dem sechzigsten Jahrestag des D-Day ein ganzes Dossier. Im Feuilleton berichtet Martina Meister von einem großen Fernsehspektakel aus diesem Anlass: "In der Nacht vom 5. zum 6. Juni wird der Fernsehsender France 2 ein großes Medienzelt in Sainte-Mere-Eglise aufschlagen, wo der berühmteste Kirchturm der Normandie steht, weil ein US-Soldat mit seinem Fallschirm daran hängen blieb. Für diese Nacht wird sich das kleine normannische Dorf in einen medialen Rummelplatz verwandeln, auf dem Frankreichs bekannteste Moderatoren Veteranen treffen, Historiker befragen und ab Mitternacht von dem Schlachtverlauf vor 60 Jahren in Echtzeit berichten - ganz so wie es heute CNN in Irak tut."

Weitere Artikel: Silke Hohmann hat eine Ausstellung im Frankfurter Kunstverein zur "Rhetorik des Gefühls" besucht. Peter W. Jansen schreibt zum Tod des italienischen Schauspielers Nino Manfredi. Von den Dresdner Musikfestspielen berichtet Hans-Klaus Jungheinrich, dass es allzu viel unter einen Hut bringen wollte. Rudolf Walther informiert über neue Unruhe am Hannah-Arendt-Institut, dessen Leiter Gerhard Besier "sich darum bemüht, die Scientology-Sekte des amerikanischen Mystikers und Geschäftsmannes Ron L. Hubbard hoffähig zu machen" - und das nun auch in einem Heft der Institutszeitschrift. Renee Zucker plädiert in ihrer Zimt-Kolumne für ein wenig mehr Fatalismus in Krankheitsfragen.

Welt, 05.06.2004

Auch die Literarische Welt widmet ihre zentralen Artikel dem D-Day. Zu Wort kommt der auf Seiten Amerikas kämpfende deutsche Jude, der Journalist Ernst Cramer: "Wir waren in Frankreich, an jenem Strand, der als 'Omaha Beach' berühmt werden sollte. Der Lärm war fast unerträglich. Da war der pausenlose Donner der über unsere Köpfe hinbrausenden Geschosse von den Schiffen auf dem Kanal und den deutschen Stellungen landeinwärts. Fast noch lauter aber war das unaufhörliche Blöken, ja Schreien vieler Kühe. Die Normandie ist Milchwirtschaftsgebiet, und die Kühe waren wegen der Kämpfe zwei Tage nicht gemolken worden. Ihre Euter waren prall; das musste fürchterlich schmerzen."

Im Interview geht es mehr noch um den Nachkrieg als den D-Day, Cramer zieht Parallelen zum Irak-Nach-Krieg: "Nötig wären neben den überragenden Kampftruppen geschulte Spezialeinheiten gewesen, die, ähnlich wie die Militärregierungs-Teams vor 60 Jahren in Deutschland, den Irakern die Grundbegriffe der Demokratie nahe gebracht hätten; einer Demokratie, nicht unbedingt nach westlichem Muster, aber doch der Freiheit und Toleranz, also auch der Gleichberechtigung der Frau, verpflichtet."
Stichwörter: Gleichberechtigung, Irak, Lärm, D-Day

NZZ, 05.06.2004

Es gibt sie seit jeher: die Königsmörder, und sie sind wie sich herausstellt, meistens sehr gebildet. Manfred Schneider liefert in Literatur und Kunst eine kleine Kunde der Täter und ihrer Motive. "In einer überaus grossen Zahl von Attentaten der abendländischen Geschichte geht es nicht nur um Politik, nicht nur um die Frage des gerechten oder ungerechten Herrschers, des Tyrannen oder unfähigen Führers; es geht auch und vielleicht in erster Linie um Bilder. Den endgültigen Entschluss zur Tat fassten bereits Brutus und seine Mitverschwörer, als Cäsars Standbilder mit Königsdiademen geschmückt wurden. Attentate sind nicht selten auch eine Form des Bildersturms. Der ikonoklastische Affekt, der die Attentäter antreibt, der Wunsch und Wille, das überhöhte Bild oder die blasse Kopie eines Mächtigen zu beseitigen, wird zumeist getragen von der Vorstellung des absoluten Originals. Und dieses absolute Original, das der Attentäter an die Stelle der matten Reproduktion rücken möchte, ist er selbst."

Außerdem in der Samstagsbeilage: Adolf Max Vogt findet bei Giorgio de Chirico die Obsession der Architektur. Der designierte Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino nähert sich Hans Falladas "mangelnden Sicherheitsabstand zur Wirklichkeit" (es handelt sich hier um den Abdruck der Dankesrede für den Fallada-Preis). Passend dazu auch eine unbekannte, neu erschienene Korrespondenz von Fallada. Christiane Hammer stellt die schöne neue Welt von Chinas Nachwuchsautoren vor. Irmela Hijiya-Kirschnereit sieht in der Pflege der nationalen Küche einen Versuch der japanischen Identitätsfindung ("'Was bin ich froh, in Japan geboren zu sein!' ist ein Ausruf der Begeisterung, der angesichts einer besonderen Meisterleistung des Kochs wiederholt zu hören war.") Ursula Seibold-Bultmann lobt Halles neue Parkanlagen als "Signal für neue Wege".

Besprochen werden die Giorgione-Ausstellung im Kunsthistorischen Museum in Wien, die Kasseler Uraufführung der Oper "Johann Faustus" nach dem Libretto von Hanns Eisler, Gounods "Romeo et Juliette" im Münchner Nationaltheater, Iciar Bollains Film "Te doy mis ojos" und Bücher - unter anderem Giorgio Agambens neuer Essay "Ausnahmezustand", Christian Uetz' Gedichtband "Das Sternbild versingt", Nicholson Bakers Roman "Eine Schachtel Streichhölzer", Haruki Murakamis rätselhaftes Buch "Kafka am Strand".

FAZ, 05.06.2004

Morgen ist D-Day, und Thomas Speckmann rekonstruiert "den schrecklichen Tag von Omaha Beach" aus der Sicht des deutschen Maschinengewehrschützen Hein Severloh, der als die "Bestie von Omaha" in die Geschichte eingehen sollte. Severloh überlebte als amerikanischer Kriegsgefangener: "Auf dem westlich des Tals von Vierville gelegenen Plateau hatten die Amerikaner auf einer großen Grünfläche ein provisorisches Gefangenenlager errichtet. Von hier aus konnte Severloh überblicken, welche vernichtende Wirkung die Geschosse seines MG 42 und Karabiners am total verwüsteten 'Omaha'-Strand gehabt hatten: Überall trieben Wracks herum, an Strand und Vorstrand standen zerstörte Panzer. Vereinzelt brannten immer noch Fahrzeuge. Die ersten Angriffswellen hatten hier Verluste von mehr als fünfundneunzig Prozent gehabt. Während des D-Days sind rund 10.000 amerikanische Gis gefallen, davon schätzungsweise mehr als ein Fünftel oder mehr als zweitausend Mann in Severlohs Kugekhagel."Wie sich die französischen Medien auf den D-Day einstellen, berichtet Jürg Altwegg.

Peter Glotz, Direktor des Instituts für Medien- und Kommunikationsmanagement der Universität St.Gallen, reagiert auf die traditionnellen Pfingsttreffen der Vertriebenenverbände und legt den Vertriebenen ein Nabokov-Wort ans Herz: "Für einen Emigranten, der die Roten hasst, weil sie ihm Geld und Land gestohlen haben, empfinde ich nichts als Verachtung. Die Sehnsucht, die ich all diese Jahre lang gehegt habe, ist das Bewusstsein einer verlorenen Kindheit, nicht der Schmerz um verlorene Banknoten."

Weitere Artikel: Christian Geyer gratuliert CIA-Chef George Tenet, dem "sympathischsten Gesicht der amerikanischen Führungsriege", zu seinem Rücktritt. Die deutsche Rechtschreibreform soll trotz ihrer eklatanten Mängel und des Votums dieser Zeitung zum 1. August 2005 verbindlich werden, meldet "Igl" und deutet dies als politisches Armutszeugnis. Mark Siemons berichtet von der Eröffnung des neuen Berliner Museums für Fotografie.

Aus der weiten Welt: Gina Thomas macht aufmerksam auf die britische - und rechtspopulistische - Partei UKIP, die sich gegen Großbritanniens EU-Mitgliedschaft stellt und bei den Europawahlen für Furore sorgen will. Die Prager Öffentlichkeit zeigt sich empört von Daniel Libeskinds Projekt für das angedachte Dali-Museum am Moldauufer. Henning Ritter gratuliert dem italienischen Philosophen und Politiker Massimo Cacciari zum Sechzigsten. Joseph Hanimann lobt Matthias Langhoffs Pariser Theater-Baustelle für deren "bis in die improvisierte Form hinein originelle Arbeit". Jürgen Dollase singt Lobeshymnen auf Patrick Bertron, den wirklichen und würdigen Nachfolger des französischen Starkochs Bernard Loiseau, der sich letztes Jahr das Leben nahm. Und schließlich blickt Walter Brandmüller weit in die Vergangenheit zurück, auf den Mord am heiligen Bonifatius, der sich zum 1250. Mal jährt.

Besprochen werden unter anderem eine Ausstellung zum Thema "Bilder und Macht" im Bonner Haus der Geschichte, die Robert-Crump-Ausstellung im Kölner Museum Ludwig, Claudio Abbados wehmütig stimmender Konzertabend mit den Berliner Philharmonikern, CDs - Avril Lavignes Pubertäts-Hymne "Under My Skin", Verdis Opern in ihren Urfassungen, Evgeny Kissins Einspielung von Schubert und Liszt, und zweimal die Kölner Spaßpunk-Band Angelika Express -, Eliane Caffes Film "Geschichten aus Jave", und schließlich Bücher - Richard Powers Roman "Der Klang der Zeit", Marie-Luise Scherers Erzählband "Der Akkordeonspieler" und Kinderbücher.