Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.07.2004. Die SZ empfiehlt Flüchtlingen, etwas anspruchsvoller zu sein, wenn sie nach Europa kommen wollen. Die NZZ begutachtet die Geschenkesammlung von Nordkoreas Kim Jong Il, zu der auch Plüschbären mit FDJ-Hemd gehören. FR und FAZ haben dafür die Rieck-Hallen besichtigt, in denen die Flick Collection gezeigt werden wird. Der Tagesspiegel polemisiert gegen den bis zur Debilität gutmütigen Förderstaat.

SZ, 14.07.2004

"Da könnte ja jeder kommen!", überschreibt Burkhard Müller seinen Kommentar zum Debakel um die Flüchtlinge der Cap Anamur und stellt fest, dass man sie vielleicht besser verstehen könnte, "wenn sie einfach um mehr bäten", weil sie uns dann "ähnlicher wären". Denn: "Wie wenig sie wollen! Wenige Europäer wären mit der Art von Leben zufrieden, auf das die Flüchtlinge hier allenfalls spekulieren; fast allen erschiene es als unerträgliche, bittere Armut. Aber gerade das Missverhältnis von eingegangenem Risiko und der Geringfügigkeit des Erhofften beunruhigt den Zielkontinent."

In einem Interview spricht Klaus von Dohnany über seinen Vater Hans, den deutschen Widerstand und die Gegenwart. Auf die Frage, ob zur Zivilcourage auch "ein "Quäntchen Patriotismus" gehöre, antwortet er: "Nein... dazu gehört eine allgemeine Verantwortung. Die patriotische Seite kommt hinzu, wenn man mit dem Widerstand die Rettung des Landes verbindet."

Weiteres: Christine Dössel beschreibt, wie Christoph Schlingensief seiner Bayreuther "Parsifal"-Premiere entgegen fiebert ("Vielleicht bin ich ja doch konservativ?"). Alex Rühle fragt sich besorgt, wann das so genannte Stalking auch in Deutschland endlich strafrechtlich geahndet wird. Thomas Steinfeld würdigt den Essayisten und Schriftsteller Lothar Baier, der in Montreal seinem Leben ein Ende setzte. Reinhard J. Brembeck gratuliert dem Komponisten Harrison Birtwistle zum 70. Geburtstag und erinnert an den 25. Todestag des Countertenors Alfred Deller. In einem Interview schwärmt der ukrainische Pianist und Komponist Misha Alperin anlässlich des Erscheinens seines Albums "Blue Fjord" von der norwegischen Leere und den "orgiastischen Rhythmen" seiner Heimat.

"dip" informiert, dass Christoph Nix nun doch nicht Kölner Kulturdezernent wird, "jby" besichtigte die Berliner Rieckhallen (mehr), in denen die Friedrich Christian Flick Collection zu sehen sein wird, und "wieg" weiß zu berichten, dass die New York Times mit dem Abdruck von drei Klassikern als Fortsetzungsroman Leser locken will, den Anfang macht F. Scott Fitzgeralds "The Great Gatsby". Die Medienseite schließlich gratuliert der Segelzeitschrift Yacht zum 100. Geburtstag. Das zugehörige "rauschende Fest" am Donnerstag werde "in kleinem Kreis und an geheimem Ort in Hamburg stattfinden - wie es sich beim Umgang mit Lustobjekten gehört."

Besprochen werden Morgan Spurlocks Fast-Food-Dokumentarfilm "Super Size Me", eine Gesamteinspielung der Symphonien Schumanns durch David Zimmermann und das Tonhalle Orchester Zürich. Und natürlich Bücher, darunter Dimitre Dinevs Roman "Engelszungen", eine Ausgabe mit Geschichten von Isaac Bashevis Singer anlässlich seines hundertsten Geburtstags und zwei Publikationen über die Kunsthändler und Verleger Paul und Bruno Cassirer sowie über Ernst Barlach im Dritten Reich. (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 14.07.2004

Der Germanist Michael Ostheimer, derzeit an der Universität von Peking, hat von dort aus Nordkorea bereist und einige irritierende Eindrücke in dieser "Bastion der Abriegelung" gesammelt. Unter anderem besucht er die "Internationale Freundschaftsausstellung": "Hier werden in zwei riesigen, im traditionellen koreanischen Stil erbauten Gebäudekomplexen die Geschenke für den 'Großen Führer' und den 'Geliebten Führer' präsentiert. Neben Eisenbahnwaggons von Mao Zedong und Stalin finden sich unter anderem Flachbildschirme aus Südkorea, Schweizer Armbanduhren und ein DDR-Plüschbär mit FDJ-Hemd in den nach Ländern geordneten Wandschaukästen. Eine elektronische Schautafel zeigt, dass es Kim Jong Il gegenwärtig auf über 52.000 Geschenke aus über 160 Ländern gebracht hat."

Weiteres: Roger Friedrich sieht ein "kulturpolitisches Gewitter" über Lugano brausen: Der Stadtrat will die Sammlung außereuropäischer Kunst, gestiftet vom Künstler Serge Brignoni, auflösen (mehr hier und hier). Stefana Sabin gratuliert Isaac B. Singer zum hundertsten Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem der Roman "Jessica, 30" von Marlene Streeruwitz (hier finden Sie eine Leseprobe) und die Demosthenes-Biographie von Gustav Adolf Lehmann (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14).

Tagesspiegel, 14.07.2004

Im Tagesspiegel polemisiert der Autor Florian Felix Weyh gegen die Nachwuchsförderung bis ins mittlere Alter. Seiner Meinung nach sollte mit 25 Jahren Schluss sein: "In den fetten Jahren der Republik verlief der Sturz noch halbwegs abgefedert. Die Alimentierung ließ zwar mit dem 36. Geburtstag nach, doch es gab noch genügend Möglichkeiten, sich durch aufgestellte Grießbreitöpfe hindurchzufressen. Vorausgesetzt, man hatte die Latenzphase der 'künstlerischen Reifung' dazu genutzt, ein dichtes Netzwerk zu jenen Kulturfunktionären zu knüpfen, die die Grießbreitöpfe ohne Altersbeschränkung verwalteten. Für die heute 35- bis 45-Jährigen kommt alles anders. Zur individuellen 35er-Barriere gesellt sich die Erkenntnis, dass man seine Berufsbiografie in den satten Endachtzigern oder euphorischen Frühneunzigern unter falschen Voraussetzungen begann. Damals gab es noch den bis zur Debilität gutmütigen Förderstaat, den man lauthals schmähen konnte, und man bekam dennoch Geld von ihm... Heute steht der alternde Kunstheld genauso verloren auf dem Arbeitsmarkt herum wie ein Straßenkehrer ohne Schulabschluss. Mit kaum vermittelbaren Kenntnissen ('Ich kann hexametern, aber nur bei sonniger Stimmung'), fürs nachgeschobene Brotstudium zu alt."

Stichwörter: Geld

FR, 14.07.2004

Thomas Medicus hatte Gelegenheit, an einer Vorbesichtigung des neuen Ausstellungsorts für die umstrittene Flick Collection am Hamburger Bahnhof in Berlin teilzunehmen und vermerkt: "Öffentlichkeit, Öffentlichkeit, Öffentlichkeit lautet offensichtlich das Rezept, mit dem die Ausstellungsmacher den geringsten Zweifel an der Redlichkeit wie am Aufklärungswillen ihres Projektes zerstreuen wollen." Außerdem weiß er, dass die Sammlung auf "Wunsch der Geschwister des Sammlers" künftig nicht mehr einfach Flick-, sondern "Friedrich Christian Flick Collection" heißen wird.

Weiteres: Karl Grobe stellt eine Datenbank über Opfer der stalinistischen Repression vor, welche die russische Menschenrechtsorganisation Memorial zusammengetragen hat. Stefan Keim berichtet über die "Wiedererrichtung des Himmels" in der Bochumer Jahrhunderthalle, wohinter sich die Literaturreihe der Ruhrtriennale verbirgt, die Schriftsteller und Künstler ins Gespräch bringen will. Dorothea Marcus informiert über die gespaltenen Reaktionen auf das deutsche Theaterprogramm beim Theaterfestival in Avignon, für das Thomas Ostermeier verantwortlich zeichnet. Und in Times mager entlarvt Christoph Schröder die Reaktionen des Schriftstellers Thor Kunkel auf die Kritiker seines Romans "Endstufe" in der Zeitschrift Volltext als "wahren Fundus an kuriosen Zitaten", lobt aber dessen Aufforderung, stattdessen doch lieber "Die Kinder von Bullerbü" zu lesen als "definitiv bessere Wahl".

Besprochen werden eine Aufführung von Roman Haubenstock-Ramatis selten gespielter Oper "Amerika" nach dem Roman von Franz Kafka in Bielefeld und eine Ausstellung des Documenta-11-Teilnehmers Yinka Shonibare in der Kunsthalle Wien, des britischen Künstlers nigerianischer Herkunft, der sich selbst einen "postkolonialen Hybriden" nennt.

TAZ, 14.07.2004

Zu lesen ist ein Nachruf auf den Essayisten und Schriftsteller Lothar Baier(mehr), der sich in Montreal das Leben genommen hat. Jürgen Busche würdigt den 1942 in Karlsruhe geborenen Journalisten als einen, der "kein Achtundsechziger gewesen sein wollte. Doch die Distanzierung gilt zweifellos den Konjunkturrittern der historisch gewordenen Chiffre. Baiers intellektuelle und politische Physiognomie war älter als der Begriff, mit dem diese historisch verbucht werden sollte."

Eher kapitalismuskritisch denn religionsbezogen beurteilt Robert Hodony die Kunstausstellung "Die Zehn Gebote", in der das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden nach der heutigen Relevanz der biblischen Botschaft fragt. "Bei vielen der ausgestellten Werke hat man allerdings den Eindruck, dass sie ohne den biblischen Kontext und in einem anderen Rahmen weit besser untergebracht wären." In einer weiteren Ausstellungskritik stellt Gregor Jansen die Manifesta vor, eine Art "nomadisierende Biennale für zeitgenössische Kunst", die in ihrem fünften Jahr im baskischen San Sebastian Station macht.

Und Oliver Tolmein kommentiert das "moralische Dilemma" für Schiffskapitäne, wonach Schiffbrüchigen geholfen werden muss, Flüchtlingen dagegen nicht geholfen werden darf.

Und hier TOM.

FAZ, 14.07.2004

Der Rechtsphilosoph Klaus Lüderssen bestätigt, dass Stauffenberg und seine Mitstreiter beim Attentat auf Hitler "nicht nur die Moral, sondern auch das Recht auf ihrer Seite" hatten. Der Überfall auf eine junge Frau in einem Pariser Vorortzug hat sich als Erfindung herausgestellt, Lorenz Jäger rät jetzt immer dann zur Skepsis, "wenn die Opfererzählung so beschaffen ist, dass sie als ein demonstratives Fanal gegen die allgemeine Unfähigkeit zum moralischen Urteil und zum moralischen Handeln funktioniert". In der Randglosse beklagt "aro" die unseriöse Kölner Personalpolitik: Der Kasseler Theaterintendant Christoph Nix wird nun doch nicht neuer Kulturdezernent am Rhein "und wahrscheinlich ist er das Amt des Rektors der Fachhochschule Neubrandenburg, das er für seine Kölner Ambitionen abgesagt hat, gleich mit los". 

Heinrich Wefing hat mit den Kollegen schon mal die "spröden" Rieck-Hallen besichtigt, in denen die Flick Collection gezeigt werden soll: "Glanz geht von diesem Ort nicht aus", stellt er fest und kündigt außerdem an, dass im Auftrag der Stiftung Preußischer Kulturbesitz das Münchner Institut für Zeitgeschichte die Geschichte der Familie Flick untersuchen und die Bundeszentrale für politische Bildung die Ausstellung mit Diskussionen begleiten wird. Gerhard Rohde stellt fest, dass Festspielaufführungen wie jetzt in Aix-en-Provence immer häufiger koproduziert werden, wodurch den Festivals etwas von der "ästhetischen und geistigen Individualität verloren geht", aber wahrscheinlich nicht so viel Geld.

Fabian Hilfrich berichtet von einer Tagung von Diplomatiehistorikern in Austin, die weidlich Kritik an Bushs Politik übten, aber kaum Gehör finden. Wolfgang Sandner war auf dem "Festival Mitte Europa". Der Schriftsteller Claudio Magris gratuliert seinem auf Jiddisch schreibenden Kollegen Isaac B. Singer, der heute hundert Jahre alt geworden wäre. Matthias Grünzig lobt die "wunderbar poetische Studienatmosphäre" in der neuen Technischen Universität von Ilmenau. Die Psychologen Una Röhr Sendlmeier und Sarah Ueing stellen in der Werbung eine überzeichnet positive Darstellung von älteren Menschen fest. Mechthild Küpper zeichnet eine Skizze von Dirk Böndel, der neuer Direktor des Deutschen Technikmuseums in Berlin wird.

Auf der Medienseite kritisiert der Verfassungsrechtler Dieter Grimm das so genannte Straßburger "Caroline"-Urteil, das seiner Meinung nach mehr für den Privatspärenschutz als für die Pressefreiheit übrig hat: "Über die Sängerin darf dann ohne Einwilligung fotografisch nur berichtet werden, wenn sie singt, über den Fernsehmoderator, wenn er moderiert, über den Fußballstar nur, wenn er kickt, nicht zum Beispiel, wenn er nachts in der Disco Gäste anpöbelt." Und Michael Jeismann empfiehlt die Dokumentation "Offiziere gegen Hitler", die heute abend in der ARD zu sehen ist.

Besprochen werden Lucas Belvaux' filmisches Triptychon "Un couple epatant", "Cavale" und "Apres la vie" (den Andreas Kilb auf keinen Fall als Trilogie verstanden wissen will!) und Bücher, darunter Ines Pedrosas Roman "Du fehlst mir" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).