Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.07.2004. Die SZ liest Martin Walsers neuen Roman "Der Augenblick der Liebe" als "dünn überfirnistes Bild einer wahren Affäre des alten Mannes mit einer jungen Frau". Die FR sieht Walser im "unbefriedbaren Ödipalkampf". In der FAZ kritisiert Andre Glucksmann die französische Politik, die den Antisemistimus befördere. Die NZZ spielt Pachinko.

FR, 23.07.2004

Unzufrieden ist Ursula März mit Martin Walsers neuem Roman "Der Augenblick der Liebe": "Wir sehen den 77jährigen deutschen Schriftsteller Martin Walser im unbefriedbaren Ödipalkampf gegen jedwede Zwänge von Schuld, Schuldgefühl, kultureller Ordnungsvereinbarung und autoritärer Ordnungsinstanz", schreibt die Rezensentin, die "von einer solchen öffentlichen, intellektuellen Persönlichkeit die Statur der geistigen Autorität" erwartet, und nicht "dieses diffus antiautoritäre ich-will-alles-sagen-und-denken-dürfen-wie-ich-es-authentisch-ureigen-fühle-Gefuchtel".

Weiteres: Helmut Müller-Sievers hat sich von Kristina Valaitis, der Geschäftsführerin des Illinois Humanities Council (IHC), versichern lassen, dass ihr die Gelder unter Bush nicht gekürzt wurden. Besprochen werden Videos von Marine Hugonnier, Julian Rosefeldt und Sebastian Diaz Morales in den Kunstwerken Berlin, Donald Petries Politsatire "Willkommen in Mooseport" und Benjamin Brittens "The Rape of Lucretia" in München.

TAZ, 23.07.2004

Michael Bartsch sieht das Hannah-Arendt-Institut unter Leitung von Gerhard Besier auf dem richtigen Weg: Thematisch habe Besier das Institut "längst vom verengten Blick auf den deutschen Diktaturenvergleich gelöst, den die PDS stets als politischen Affront empfand".

Weiteres: Alia Rayyan erzählt von einem Fischessen in Ramallah nach den Protesten gegen Jassir Arafat. Auf der Meinungsseite plädiert Gerdlin Friedrich gegen das Kopftuch an Schulen. Besprochen werden ein Konzert von Tortoise und Lambchop auf der Berliner Museumsinsel und drei CDs aus dem Balkan.

Schließlich Tom.

SZ, 23.07.2004

Etwas unentschieden bespricht Burkhard Müller im Aufmacher den neuen Roman von Martin Walser "Der Augenblick der Liebe", vor allem aber als "autobiografischen Niederschlag", als "nur ganz dünn überfirnistes Bild einer wahren Affäre des alten Mannes mit einer jungen Frau". Das Ende findet er eine bodenlose Gemeinheit, besser schon die Passagen, in denen die vermeintliche "Altersgeilheit" dem "Ächtungsdienst" unterworfen wird. "Das ist eine ganz vortreffliche Formulierung. In ihr, wie in dem von Walser bevorzugten Darstellungsmittel der erlebten Rede überhaupt, mischen sich das Ressentiment und die Hellsichtigkeit zu einem faszinierenden Chiaroscuro, und findet der Verfasser Gelegenheit, die unumschränkte Solidarität mit seiner Kunstfigur zu erklären. Ihm ist klar, dass der Ächtungsdienst der Herren und Damen auf der ästhetischen Ebene als Kitschvorwurf wiederkehren wird, und so springt er, in vorauseilendem Trotz, mit beiden Beinen in den erotischen Kitsch der reiferen Jahre, dass es nur so spritzt."

Weiteres: Der Politikerphilosoph Julian Nida-Rümelin entwirft "gegen Fundamentalismus und Indifferenz" eine kleine philosophische Skizze der Demokratie, die auf einen "unaufgeregten Realismus ohne Metaphysik" setzt, dabei jedoch den Wahrheitsanspruch nicht aufgibt. Der Historiker Wilfried Nippel antwortet seinem Kollegen Egon Flaig, der vor einem Monat in der SZ die Abschaffung der Sklaverei als die große moralische Errungenschaft des Westens bezeichnet hatte. Nippel meint nun, dass die moralischen Argumente kaum gezogen hätten, wenn die Nationalökonomie nicht ein Produktivitätsdefizit in der Sklavenarbeit festgestellt hätten. Und in der hübschen Kolumne "Vom Satzbau" sucht Hermann Unterstöger das Verb im Schachtelsatz.

Besprochen werden die opulente Schau "Die Thraker" in der Bundeskunsthalle Bonn, Larry Clarks Teenager-Film "Ken Park", Paul Houghs Film "The Backyard", ein Liederabend mit Ian Bostridge bei den Münchner Opernfestspielen, Marcel Marceaus Tourneestart in Berlin, Kurt Weills Kurzopern "Der Protagonist" und "Royal Palace" bei den Bregenzer Festspielen (mit einer großartigen Catherine Naglestad und einem beeindruckenden Gerhard Siegel, wie Kristina Maidt-Zinke ausdrücklich erwähnt) und Bücher, darunter Kurt Stöpels Bericht "Tour de France" und Roger Callois' "Schrift der Steine" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 23.07.2004

Urs Schoettli stellt das Glücksspiel "Pachinko" vor (mehr hier), eine Mischung aus Flipper und Spielautomat, auf das die Japaner ganz versessen sind: "Pachinko, Japans Roulette des kleinen Mannes, ist Teil einer Welt, in der sich leicht die Wege mit dem organisierten Verbrechen kreuzen. Was dem Laien als reine Glückssache erscheinen mag, kann in Tat und Wahrheit durch die Betreiber eines Pachinko-Salons beeinflusst werden. Wie die Nägel, die den Gang der Kugeln regulieren, zurechtgebogen werden, kann einen entscheidenden Einfluss auf die Fortuna des Spielers haben. Bestandene Pachinko-Fans behaupten, in der Lage zu sein, besonders gewinnträchtige Maschinen ausmachen zu können. Das organisierte Verbrechen ist in Japan so gut etabliert, dass unlängst sich jemand bei der Post beklagte, Mitglieder der Yakuza, der japanischen Mafia, bekämen ihre Briefe rascher zugestellt als 'gewöhnliche Sterbliche'."

Weitere Artikel: Evelyne Polt-Heinzl porträtiert Annemarie Selinko, die nahezu unbekannte Autorin des Weltbestsellers "Desiree". Besprochen werden die Aufführung von Gian Carlo Menottis Oper "Goya" mit Placido Domingo in Wien, die Eröffnung der Bregenzer Festspiele mit Einaktern von Kurt Weill sowie der Auftakt zum 29. Paleo-Festival in Nyon (mehr). Außerdem wird gemeldet, dass sich neue Perspektiven für die von der Auflösung bedrohte Sammlung Brignoni in Lugano ergeben haben.

Auf der Medienseite stellt Andrea Höhne eine Untersuchung zur Irak-Berichterstattung deutscher Medien vor. Danach habe die Qualitätspresse an Glaubwürdigkeit gewonnen, doch "mit der Bereitschaft zur Kritik am eigenen Medium hapert es offenbar noch. In 90 Prozent der untersuchten Presseartikel wurde die Kriegsberichterstattung der Fernsehsender und nicht die der Presse kritisiert; man schreibt also lieber über andere und übt nur selten Selbstkritik. 

"ahn." nimmt das Leitmedium des Kosovos ins Visier, den öffentlichen Rundfunk RTK, der 70 Prozent der Bevölkerung erreicht und immer wieder eine "explosive Atmosphäre patriotischer Hysterie" schafft. "ras" hält fest, dass die BBC und ihr früherer Reporter Andrew Gilligan so gut wie rehabiliert sind.

Auf der Filmseite werden besprochen: Morgan Spurlocks Dokumentation "Super Size Me", Charlie Kaufmans und Michel Gondrys Film "Eternal sunshine of the spotless mind" und Ulrike Ottingers 198-minütige Umsetzung des Romans "Zwölf Stühle". Ferner eine Buchsprechung zum Band "Carl Mayer - Scenar(t)iste" über den Stummfilm-Drehbuchschreiber Carl Mayer (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 23.07.2004

Zwar will Andre Glucksmann nach Ariel Scharons Aufruf nicht gleich die Koffer packen, um aus Frankreich zu emigrieren, aber er bestätigt, dass der Antisemitismus in Frankreich und Europa stärker geworden sei, und sich keineswegs nur aus dem Islamismus, sondern auch aus Globalisierungskritik und rechtem Gedankengut speise. Auch die französische Politik kritisiert Glucksmann: "Der Anstieg des Antisemitismus ist durchaus keine Folge der Intifada, sondern ein Zwillingsbruder der Welle von Antiamerikanismus, die seit dem 11. September an die Küste Europas schwappt und den Kontinent seit dem Irak-Krieg überflutet. Die französische Diplomatie hat sich an die Spitze des antiamerikanischen Kreuzzugs gesetzt. Da das politische Frankreich nahezu einmütig behauptet, die amerikanische und israelische Führung missachteten das Recht, kann es nicht verwundern, dass die Nacheiferer der Hamas-Märtyrer sich äußerst wohl fühlen in einem Frankreich, das zwei große Feinde zu haben glaubt: Bush und Scharon."

Der irakische Autor Khalid Al-Maaly (mehr hier) schreibt ein melancholisches Stück über seine Heimkehr aus dem Exil nach 25 Jahren. Eine Szene aus der Wiedersehensfeier mit Verwandten: "Als etwas Ruhe einkehrt, zeigt ein Gast eine ältere arabische Ausgabe von Newsweek. Auf dem Titelbild das bekannte Foto von Saddam Hussein nach seiner Gefangennahme. Die Zeitschrift wandert von Hand zu Hand. Einer schlägt vor, das Titelbild an die Wand zu hängen. Da wir noch nie das Bild des Präsidenten aufgehängt hätten, könnten wir es doch jetzt tun."

Weitere Artikel: Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf (mehr hier) stellt im Aufmacher die Frage "Gibt es einen neurobiologischen Gottesbeweis?", die er aber nicht abschließend beantwortet. Patrick Bahners lässt sich in der Leitglosse die Backmischung Klinsmann-Bierhoff munden. Gerhard R. Koch gratuliert der portugiesischen Pianistin Maria Joao Pires zum Sechzigsten. Edo Reents besucht das Rock- und Popmuseum Westfalen in Gronau. Denis Scheck erklärt Bret Easton Ellis' (mehr hier) "American Psycho" zu seinem Lieblingsbuch. Erna Lackner besucht die Wiener Ausstellung "Tyrannenmord - Der 20. Juli 1944 und Österreich" (mehr hier) und erzählt, wie blamabel schwer sich Hitlers erste Opfer mit der Anerkennung ihrer eigenen Widerstandskämpfer um Stauffenberg tun.

Auf der Medienseite erfahren wir von Michael Hanfeld, dass RTL seine Senderspitze austauscht. Stefan Niggemeier stellt den neuen RTL-Chef Marc Conrad vor. Jürgen Kaube erzählt, wie das ZDF den Radfahrer Jens Voigt zensierte, der sich zufälligerweise gerade kritisch über die Berichterstattung von ARD-Kollegen äußerte.

Auf der letzten Seite beklagt Andreas Rossmann, dass das geplante Museum für die berühmte optische Sammlung von Werner Nekes in Mülheim wegen eines Streits zwischen Stadt und Sammler nun doch nicht zustande kommt. Und Tilman Spreckelsen erinnert an den Botaniker Aime Goujaud-Bonplant, der zusammen mit Alexander von Humboldt Südamerika bereiste.

Besprechungen gelten zwei Einaktern von Kurt Weill bei den Bregenzer Festspielen, Larry Clarks Film "Ken Park", einer Installation von Urs Fischer im Kunsthaus Zürich und einigen Sachbüchern, darunter einer Biografie über Ferdinand Porsche.