Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.09.2004. Die FAZ veröffentlicht ein Hitler-Gedicht von Durs Grünbein. Die FR erklärt die Verdrossenheit Ostdeutschlands. SZ und Welt schreiben erste euphorische Kritiken der neuen Folgen von Edgar Reitz' "Heimat"-Epos. Die NZZ kritisiert die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die sich in der Debatte um die Flick-Sammlung wenig kommunikationsfreundlich zeigte. Viel Kritik auch am verkrampften Umgang der Fernsehsender mit den Rechtsradikalen.

FR, 21.09.2004

Auf der Medienseite kritisiert Peter Henkel in seinen Beobachtungen zum Wahlabend den Umgang von ARD und ZDF mit den Rechtsextremen: "Entweder man lädt die Rechtsextremen gar nicht erst ein, oder man geht cool mit ihnen um. Dass die anderen Parteienvertreter den Tisch verlassen, wenn die braunen Brüder loslegen mit ihren rabiaten Dumpfbackigkeiten, ist in Ordnung; von Journalisten hingegen ist professionelle Gleichbehandlung zu erwarten, nicht aber der billige Versuch, sich durch blanke Unhöflichkeit einen antifaschistischen Glorienschein zu verschaffen." 

Die Verdrossenheit Ostdeutschlands lässt sich nicht allein mit Hartz IV erklären, meint Dieter Rulff und macht sich an eine Erklärung der tieferliegenden Spannungen. "'Ostdeutsch' ist zum Attribut einer künstlichen kollektiven Identität geworden, in der verklärte Erinnerungsfetzen an ein realsozialistisches Gemeinschaftsleben mit der Opferposition in den aktuellen Verteilungskämpfen zu einer trotzigen Identität verschmelzen. Der unternehmerische Einzelne, der bisweilen als Phänotypus eines ostdeutschen Aufbruchs durch die Gazetten geisterte, konnte sich aus schlechten Gründen nie als Leitbild durchsetzen."

Uwe Käding gratuliert dem "Original ohne Nachahmer" und Songwriter Leonhard Cohen zum Siebzigsten. Michael Rüsenberg trifft auf dem Internationalen Jazzfestival "swiss made" in Dortmund zahlreiche Undercover-Schweizer. Hans-Jürgen Linke resümiert ein Symposium in der Frankfurter Alten Oper über das Werk des ungarischen Komponisten und Dirigenten Peter Eötvös. In Times mager sinniert Harry Nutt über Inklusion und Exklusion der extremen Parteien am vergangenen Wahlsonntag.

Besprochen werden eine Sechsfachausstellung in der Münchner Pinakothek der Moderne mit Arbeiten von Robert Gober, Mike Kelley, Christopher Wool, Bill Viola, Gary Hill und Roni Horn sowie das neue Album "Reise Reise" der Schockrocker von Rammstein.

NZZ, 21.09.2004

Eigentlich gab es ziemlich wenig Debatte über die Flick-Ausstellung in Berlin, meint Claudia Schwartz. Immerhin hat "die Präsentation von Flicks Bildern in Berlin nun einige historische Forschungsarbeit zur Familiengeschichte Flick auf den Weg gebracht. Das eine Projekt in Bochum um den Historiker Norbert Frei wurde bereits im vergangenen Jahr von Flicks Schwester, Dagmar Ottmann, in Auftrag gegeben. Mit dem anderen, vom Kunstsammler selbst finanzierten, ist das Münchner Institut für Zeitgeschichte betraut. Es wurde von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz initiiert, zu der die Staatlichen Museen zu Berlin gehören, allerdings erst in letzter Minute vor Eröffnung und erst auf massiven öffentlichen Druck hin - was kein gutes Licht auf das kulturpolitische Verständnis der Institution wirft, die sich in der ganzen Diskussion wenig kommunikationsfreudig zeigte."

Weitere Artikel: Paul Jandl resümiert das 8. Philosophicum Lech. Besprochen werden die große Schau zu den Werken des Architekten Egon Eiermann in Karlsruhe, Verdis Requiem mit Zubin Mehta im Opernhaus Zürich und Bücher, darunter Carlo Lucarellis Krimi "Laura di Rimini", Frieder Günthers Studie zur bundesdeutschen Staatsrechtslehre und Sahar Khalifas Roman "Die Verheißung" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 21.09.2004

Auf der Medienseite kann Eberhard Seidel über die Wahlberichterstattung von ARD und ZDF nur den Kopf schütteln: "ARD, ZDF, RBB und MDR haben der Demokratie in der Wahlnacht einen schlechten Dienst erwiesen. Mit welchem Recht glaubten die Verantwortlichen, die gewählten Vertreter der DVU und NPD von den meisten Parteienrunden ausschließen zu dürfen? Mit welchem Recht behandelten sie deren Vertreter wie Aussätzige, für die elementarste Formen des zwischenmenschlichen Umgangs offensichtlich nicht gelten? Der journalistische Umgang mit den Rechtsextremen an diesem Abend erschütterte mehr als ihr - absehbarer - Wahlerfolg in Brandenburg und Sachsen. So schafft man Opfer und Helden."

Jahr für Jahr bekommt New York weniger Geld von der Bush-Regierung. Ressentiments gegen die Stadt sind ein fundamentaler Charakterzug der amerikanischen Konservativen, behauptet Sebastian Moll im Kulturteil, und holt dafür historisch weit aus. "'Die christliche Rechte war in Amerika schon immer da', sagt (der Urbanismus-TheoretikerRichard Sennett, 'und sie war immer angetrieben von der Angst vor dem Anderen': Ob das 'Andere' nun die trunksüchtigen Iren waren, die die puritanische Moral des Boston von 1730 verdarben, oder die Schwarzen, Puerto Ricaner, Katholiken und Juden, die bei Richard Nixon Gelüste weckten, eine Atombombe auf New York zu werfen. Die Aggression gegen die Stadt, so Sennett, entstand stets aus dem Gefühl, dass die Stadt etwas Fremdes ist, etwas Bedrohliches, außer Kontrolle Geratenes."

Der Soziologe Dirk Baecker startet seine neue monatliche Kolumne mit einem Artikel über die Verwandtschaft von McKinsey-Gläubigen und Attac-Jüngern. "Die einen wie die anderen wenden sich gegen Bürokraten, allerdings aus zwei verschiedenen Richtungen. Erstere sehen die Bürokratie als Effizienzhindernis, letztere als Fassade der Macht."

Weitere Artikel: Mit einem pinkfarbenen Feuerwerk ist die Moma-Ausstellung in Berlin zu Ende gegangen, und Brigitte Werneburg zieht Bilanz. Jan-Hendrik Wulf blättert in den aktuellen Ausgaben von Merkur und den Blättern für deutsche und internationale Politik. In der zweiten taz beobachtet Jan Feddersen auf einer Hamburger Tagung zur RAF, wie die ehemaligen Mitglieder ihren Platz in der "VIP-Lounge als Zeitzeugen" verlieren und nun dem scharfen Blick der Historikers ausgesetzt sind, "kalt und mitleidlos".

Die einzige Besprechung widmet sich Stephan Puchers Inszenierung des "Othello" am Schauspielhaus Hamburg "als Machtkampf zweier Selbstdarsteller mit den Mitteln des Entertainments".

Schließlich Tom

SZ, 21.09.2004

H.G. Pflaum preist ein filmisches Jahrhundertwerk, den "Heimat"-Zyklus von Edgar Reitz, dessen dritter und letzter Teil nach insgesamt 25 Jahren Arbeit nun im Münchner Prinzregententheater vorgestellt wurde. "Würde ein Lebewesen von einem fernen Planeten uns die Frage stellen, welche Filme man sehen müsste, um Auskunft zu bekommen über Deutschland im 20. Jahrhundert, so würde der Heimat-Zyklus von Edgar Reitz wohl zu den wichtigsten Empfehlungen gehören. Rund 25 Jahre, ein halbes Arbeitsleben, hat der Autor und Regisseur damit verbracht, eine Familien-Geschichte zu erzählen, die in einem kleinen Hunsrückdorf beginnt und mit ihren Zentrifugalkräften die Figuren weit durch Deutschland und andere Länder treibt und sie doch immer wieder zurückkehren lässt an ihren Ausgangspunkt."

Der Schriftsteller Georg Klein bringt Leonhard Cohen ein Ständchen zum Siebzigsten und bewundert dessen Poesie. "Das lyrische Reich Cohens ist eine Art transzendentales Schlafzimmer. Stets sind die Laken frisch verschwitzt vom Kampf der Geschlechter."

Weitere Artikel: Ijoma Mangold denkt mit der zuständigen Enquete-Kommission des Bundestages darüber nach, ob Kultur als Staatsziel in die Verfassung aufgenommen werden sollte. Henning Klüver dokumentiert den Streit der Florentiner um Arata Isozakis Gestaltung des Uffizien-Ausgangs: der Streit hat mittlerweile "ideologische Züge" angenommen. Holger Liebs freut sich über die "originelle" Auswahl für die Kunstbiennale 2005: der Maler Thomas Scheibitz (eine Stichprobe zum Ansehen) und der Aktionskünstler Tino Seghal werden Deutschland in Venedig vertreten. In der "Zwischenzeit" nimmt Herrmann Unterstöger unter anderem Frank Schirrmachers Stilblüte von den "ungehobensten Schätzen" aufs Korn. Julia Encke schreibt zum Tod des Fotojournalisten Eddie Adams. Cathrin Kahlweit informiert, dass auch Deutschland nicht vom wachsenden Zwang zur Schönheitsoperation verschont bleibt. C. Bernd Sucher überbringt dem Schauspieler Claus Eberth Glückwünsche zum siebzigsten Geburtstag.

Auf der Medienseite versucht die Innenpolitik-Chefin des ZDF Bettina Schausten im Interview zu erklären, warum sie am Wahlsonntag dem NPD-Kandidaten Holger Apfel das Wort abgeschnitten hat: "Letztlich weiß man in einer Live-Sendung vorher gar nichts - zu erwarten war eher, dass sich Herr Apfel wie schon im Wahlkampf als Biedermann geben würde. Wir haben im Vorfeld keine Szenarien entworfen: 'Was machen wir, wenn Herr Apfel pöbelt. Was machen wir, wenn Herr Milbradt geht.' Das alles kann man vorher nicht steuern." Klaus Ott erklärt, warum die Erhöhung der Rundfunkgebühr noch nicht fix ist. Und Christopher Keil erklärt Nicht-Guckern, was am Sonntag in der SAT 1-Gesprächsrunde zu den Gebühren passiert ist.

Besprochen werden neue deutsche Stücke beim 4. Festival europäischer Dramatik in Santiago de Chile, Anna Badoras Inszenierung von Christoph Heins Roman "Landnahme" am Staatsschauspiel in Dresden, Armin Petras Euripides-Modernisierung in der "Neuen Szene" des Schauspiels Leipzig, der Tanz dreier "tollkühner Damen" im Berliner Haus der Kulturen, Liz Gills Film "Goldfish Memory" und natürlich Bücher, darunter Walter Rüeggs Geschichte der Universität in Europa, die Erinnerungen des Germanisten Georg Witkowski sowie die "Kaffeehauslieder" der Lyrikerin Zhai Yongming (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 21.09.2004

Eckhard Fuhr schreibt nach ersten Reaktionen in Venedig eine erste längere Kritik der neuen Folgen von Edgar Reitz' "Heimat"-Epos: Noch mal zwölf Stunden. "Kann das alles wahr sein? Erliegt solches Pathos des Gelingens nicht der Suggestion des puren Anspruchs, dem Sexappeal unzeitgemäßer Größe, gar der uneingestandenen Sehnsucht nach so etwas wie Vollendung und Vollkommenheit?" Nun ja, nein! Meint Fuhr am Ende der Sichtung, "Heimat" sei "am Ende doch ein grandioses Jahrhundertepos".

FAZ, 21.09.2004

Das Interessanteste an der Aufmacherseite ist ein Hitler-Gedicht von Durs Grünbein. Überschrift: "Das große Weichei". Wir zitieren:

"Es war nicht gut, wenn er saß. Man sah dann den weichen
Zug um die Augen, die schlaffen Schultern, die Karpfenwangen.
Im Hauptquartier waren Blumen tabu. Er ertrug keine Leichen.
Mimose hieß er - als Gefreiter im Krieg. Sah überall Schlangen.
Frauen mit Brille waren ihm, Männer mit Tänzerbeinen suspekt (...)"

Weitere Artikel: Henning Ritter rühmt anlässlich der Ausstellung in der Wiener Albertina Rubens' Zeichenkunst. Heinrich Wefing zeigt sich nicht recht überzeugt von der Ausstellung über schrumpfende Städte in den Berliner Kunst-Werken. Christian Geyer macht in der Leitglosse geistvolle Anmerkungen zu den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg und leugnet jede Ähnlichkeit zwischen PDS und NPD ("wenn nicht im aristotelischen Sinne des propter hoc, so doch im Humeschen Sinne des post hoc"). Regina Mönch zieht eine vorläufige Schadensbilanz für die Anna-Amalia-Bibliothek (Spendenkonto) - 50.000 Bücher sind vernichtet, die Schadenssumme liegt bei 60 Millionen Euro. Gemeldet wird, dass Leipzig nach dem Ende des "Bücher-Butts" einen neuen wichtigen Literaturpreis schafft. Die Jury ist mit Kritikern führender Qualitätszeitungen besetzt und kann vier Preise in verschiedenen Kategorien vergeben. Dieter Bartetzko gratuliert Leonard Cohen (Homepage) zum Siebzigsten. Michael Stolleis resümiert den "Deutschen Rechtshistorikertag". Julia Spinola berichtet, dass beim Frankfurter Solti-Dirigierwettbewerb gleich zwei erste Sieger gekürt wurden - der Amerikaner James Gaffigan und der Bulgare Ivo Venkov.

Auf der Medienseite berichtet Tobias Rüther, dass die öffentlich-rechtlichen Sender nun mit einer Gebührenerhöhung von 86 Cent rechnen können. Michael Hanfeld kommentiert diese Erhöhung, die geringer als erwartet ausfällt, als Niederlage der Sender. Hanfeld analysiert auch die Einschaltquoten einer Fernsehtalkshow, die sich mit der Frage der Gebührenerhöhung auseinandersetzt. Hanfeld porträtiert auch die Chirurgen, welche bei RTL künftig live Brüste verschönern. Außerdem schildert Cai Tore Philippsen den verkrampften Umgang der Sender mit den rechtsextremistischen Parteien am Wahlabend.

Auf der letzten Seite porträtiert Christian Schwägerl den neuen Präsidenten des Europäischen Patentamts in München, Alain Pompidou und stellt fest, dass die große Frage nach wie vor heißt, wie weit sich Patentrechte "auf Lebendiges erstrecken sollen, auf Gene, embryonale Stammzellen, neuartige Pflanzen und die Produkte der aufscheinenden synthetischen Biologie sowie der Nanobiotechnologie". Und Dirk Schümer erinnert an den venezianischen Barockkomponisten Baldessare Galuppi, der immer noch ein wenig im Schatten Vivaldis steht.

Besprochen werden Hauptmanns "Vor Sonnenuntergang" im Berliner Gorki-Theater, eine Ausstellung über den Ersten Weltkrieg im Bayerischen Armeemuseum Ingolstadt, das Spektakel "Freie Sicht aufs Mittelmeer" in Basel, mit dem der Regisseur Dani Levy an die gloriosen Zeiten der Schweizer Jugendbewegung Anfang der Achtziger erinnert, und Glucks "Armide" in Ulm.