Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.09.2004. In der FR grübeln Rupert von Plottnitz und Horst Meier über den Wahlerfolg der NPD. Die NZZ schreitet die Massen des neuen Rats für Rechtschreibung ab. Die taz trauert um das deutsche Kaufhaus. In der FAZ erzählt Ralph Rothmann, wie ihm Siegfried Unseld einen Streich spielte. In der SZ fordert der Fundamentaltheologe Johann Baptist Metz mehr Selbstkritik der katholischen Kirche.

FR, 28.09.2004

In zwei Beiträgen kommentiert die FR die Äußerungen von Innenminister Schily, wonach das Karlsruher Bundesverfassungsgericht mit seiner Ablehnung eines Verbots für den Erfolg der NPD in Sachsen verantwortlich sei:

Der Frankfurter Anwalt und ehemalige Justizminister in Hessen für Bündnis 90/Die Grünen, Rupert von Plottnitz, bezeichnet die Äußerung als "Ablenkungsmanöver" und "mehr als einen verbalen Übergriff". Er weist in seinem Artikel noch einmal darauf hin, dass das Verbot an einer mangelnden Vorbereitung durch Schilys Behörde gescheitert war. "Der Versuch, (dem Gericht) zwecks eigener Entlastung die Haftung für das Übel der NPD zuzuschieben, zeugt von einem eher dürftigen Rechtsstaatsverständnis."

Der Hamburger Jurist und Publizist Horst Meier kritisiert dagegen die "Ausgrenzungsreflexe" und sieht im "Scheitern der Verbotspolitik" einen "enormen Vorteil", weil nur "die offene Auseinandersetzung" etwas gegen Rechtsextremismus bewirken könne. "Schlimmer" als das Personal dieser Parteien seien "die, die sie ohne Rücksicht auf Verluste wählen. Eine Partei kann man verbieten. Man kann aber Wählern nicht verbieten, die 'falsche' Partei zu wählen. Wie der Verein heißt, bei dem einer seine Ressentiments ablädt, ... ist dem 'Protestwähler' schnuppe."

Weitere Artikel: Klaus Walter beobachtete den Kasseler Punk-Kongress ("Ist das nicht ein Widerspruch in sich?"). Rüdiger Suchsland berichtet vom Filmfestival von San Sebastian, auf dem eine komplette Retrospektive des "Kino-Pessimisten" Anthony Mann gezeigt wird. Manfred Schneider informiert über den OECD-Bericht Bildung, der Deutschland auch in diesem Jahr "ein schlechtes Zeugnis" ausstelle. Jamal Tuschik beschreibt eine von dem Frankfurter Verleger Axel Dielmann organisierte literarische "Schnitzeljagd", sein "bodenständiger" Beitrag zum Frankfurter "LiteraTurm"-Fest. In Times mager kommentiert Ina Hartwig die zunehmende Beruhigung im Hause Suhrkamp, lobt das neue Herbstprogramm, bemängelt allerdings das Fehlen von "neuen jungen Wilden" darin. Auf der Medienseite stellt Christian Schlüter Springers neue Literaturzeitschrift Der Freund vor, die der "durchaus schüchterne" Schriftsteller Christian Kracht herausgibt. Und im Forum Humanwissenschaften wirft Christian Geulen einen Blick in diverse Historikerzeitschriften.

TAZ, 28.09.2004

Angesichts der aktuellen Karstadt-Krise denkt Ralph Bollmann in tazzwei über den deutschen Mythos Kaufhaus nach. Dies sei nach dem Zweiten Weltkrieg ein Ort gewesen, "wo es alles für alle zu kaufen", was "dem Gleichheitsanspruch der deutschen Nachkriegsgesellschaft" entsprochen habe. "Diese Idee war in anderen Ländern gänzlich unbekannt. Die großen Flaggschiffe der internationalen Kaufhauswelt waren stets Orte des Luxus, nicht der Gleichmacherei - das Harrods in London etwa, die Galeries Lafayette in Paris oder das große Rinascente-Haus am Mailänder Dom. Wenn deutsche Urlauber dagegen in französischen oder italienischen Provinzstädten nach einem Kaufhaus suchten, wurden sie stets enttäuscht. Allenfalls nach langem Suchen fanden sie ein winziges und weitgehend menschenleeres Geschäft, wo gelangweilte Verkäufer in fahlem Neonlicht just jene Waren anboten, die mit romanischem Raffinement am allerwenigsten zu tun hatten." Diese Entwicklung habe jetzt auch Deutschland erreicht: "Alles für alle, das geht nicht mehr."

Weiteres: Auf den Kulturseiten porträtiert Christian Broecking in seiner Jazzkolumne den politisch engagierten Singer und Songwriter Terry Callier. Jan Engelmann resümiert die erste Debatten-Reihe des Berliner "Black Atlantic"-Festivals mit dem Titel "Eine andere Geschichte - Gedächtnis, Körpererinnerung, Geschichtsbegriffe". Uli Hannemann wirft schon mal einen Blick auf die Fußball-WM 2006 und entwirft ein Szenario, wie das von "Sportminister Schily" eingeklagte "südländische Naturell" aussehen könnte. Und auf tazzwei bringt Bernhard "ich war auch bei MoMAs" Pötter seinen Kindern die moderne Kunst nahe.

Besprechungen: Morten Kansteiner berichtet von den Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag des Dortmunder Theaters, die mit sieben "Sternstunden des Expressionismus", das heißt mit Texten von Georg Kaiser, Lasker-Schüler, Sternheim oder Trakl, August Stramm, Horvath, Toller, Brecht und Benn begangen wurden. Und Christoph Twickel singt mit dem dritten Band der Erinnerungen Ernesto Cardenals in der Hand ein Loblied auf die nicaraguanische Revolution ein.

Schließlich Tom.

SZ, 28.09.2004

In der Serie über die christlichen Wurzeln Europas denkt heute der emeritierte Fundamentaltheologe Johann Baptist Metz (mehr hier und hier) über Zuständigkeiten und das "Elefantengedächtnis" der katholischen Kirche nach. "Elefanten vergessen nicht, sie tragen nach. Mit ihrem Elefantengedächtnis hat auch die Kirche buchstäblich ein nachtragendes Wesen. Sie trägt uns, den ins Vergessen Verliebten, eine Jahrtausende alte Geschichte nach, mit ihren Höhen und Tiefen und mit einer an diesem Gedächtnis langsam erwachten Bereitschaft zur Selbstkritik der Kirche. Diese Selbstkritik wäre heute vor allem bei ökumenischen und sozialen Fragen zu mobilisieren."

Weitere Artikel: Drohenden "Wahn ohne Leidenschaft" infolge rigoroser Einsparungen diagnostiziert Henning Klüver nach der Deutschen Kulturwoche in Italien, die eigentlich eine "GermMania" entfachen sollte. Katajun Amirpur resümiert den 29. Deutschen Orientalistentag. Ira Mazzoni besichtigt die vom Bayerischen Nationalmuseum rekonstruierte Wittelsbacher Kunstkammer auf der Burg Trausnitz bei Landshut. Alexander Kissler betrachtet den Umgang mit aktiver Sterbehilfe im europäischen Vergleich. "jhl" kommentiert die saftige Erhöhung der Eintrittspreise für das neue MoMA in New York: 20 statt 12 Dollar. Fritz Göttler gratuliert Brigitte Bardot zum Siebzigsten, und in der "Zwischenzeit" erklärt Joachim Kaiser, warum Kafka sich in Schnitzler irrte und er selbst dessen - spät gelesenen - Roman "Der Weg ins Freie" für Schnitzlers Hauptwerk hält. Auf der Medienseite gibt es einen Hinweis auf eine Doku-Soap aus der Welt des französischen Starkochs Alain Ducasse.

Besprochen werden eine Ausstellung über Cezanne und den "Cezannismus" im Essener Folkwang-Museum, Büchners "Dantons Tod" am Mühlheimer Theater an der Ruhr, eine Inszenierung von Luigi Nonos "Intolleranza" am Saarbrücker Theater in einem "sprechenden" Bühnenbild von Daniel Libeskind, der Zeichentrickfilm "Lauras Stern", die Paul-Anderson-Verfilmung "Resident Evil: Apocalypse" von Alexander Witt mit Milla Jovovic und Bücher, darunter eine Thomas-Gottschalk-Biografie von Gert Heidenreich, Pierre Michons "Leben der kleinen Toten" und ein Hörbuch, auf dem Susanne Lothar und Ulrich Mühe Prosa und Lyrik von Iwan Bunin lesen (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 28.09.2004

Joachim Güntner berichtet, dass die gebeutelte Kultusministerkonferenz aus lauter Panik vor der Rechtschreibdebatte einen Rat für Rechtschreibung zusammenstellt, bei dem man sich fragen muss, wer ihm eigentlich nicht angehört. " So kämen denn zu den Wissenschaftern aus Akademien und linguistischen Instituten nicht allein Pädagogen und Repräsentanten des Schriftstellerverbands PEN, sondern auch die wirtschaftlichen Interessengruppen hinzu: Abgeordnete von den Wörterbuchverlagen Duden und Bertelsmann, vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels, von den Nachrichtenagenturen und den Verlegerverbänden der Zeitungen und Zeitschriften. Überdies sollen Vertreter von Schulen, Eltern und Behörden Gehör finden" Viel Spaß bei der Entscheidungsfindung!

Weitere Artikel: Marli Feldvoss gratuliert Brigitte Bardot zum Siebzigsten. Besprochen werden Verdis "Stiffelio" im Opernhaus Zürich, eine Ausstellung über den Architekten Santiago Calatrava in der Henry Art Gallery in Seattle, Das Festival Musica in Straßburg, Shakespeares "Sommernachtstraum" in St. Gallen, das Doppelheft des Merkur (mehr hier) und einige Bücher, darunter Christine Pitzkes "Versuche, den Morgen zu beschreiben".

FAZ, 28.09.2004

Der Schriftsteller Ralf Rothmann (mehr hier) erzählt in einem Text zum achtzigsten Geburtstag Siegfried Unselds, wie ihn der Verleger, um sich für eine Verstimmung zwischen den beiden zu rächen, einmal ins Theater entführte: "Er hatte schon eine Probe des Stückes gesehen und führte mich an einen guten Platz im Parkett, dritte Reihe. Die meisten Schauspieler waren in Teerpappe gekleidet, und irgendwann beschloss der Regisseur, noch origineller zu sein, und ließ feinen, mit Kieselsteinen durchsetzten Sand vom Schnürboden kippen, ewige fünf Minuten lang. Und während der Staub uns einnebelte und ich langsam, aber sicher keine Luft mehr bekam und immer panischer wurde, saß mein Verleger da wie in Zement gegossen, und das rasche Blitzen aus seinen Augenwinkeln heraus sagte mir: Na was? Nur Schwächlinge müssen atmen."

Weitere Artikel: Miklas Maak beschreibt in einem hübschen kleinen Text, wie sich in die gegenständlichen Gemälde Matthias Weischers (der gerade in Bremen ausgestellt wird, weitere Bilder hier)) durch genau gemalte Wandoberflächen oder Fassadenelemente abstrakte Strukturen einschleichen. Christian Schwägerl weist darauf hin, dass die Regierung ein Gendiagnostik-Gesetz vorbereitet, in dem knifflige Fragen zu regeln sind - etwa ob Versicherungen oder Arbeitgeber durch Gentests künftig Menschen mit Erbkrankheiten ausschließen dürfen. In der Leitglosse empfiehlt Lorenz Jäger bedürftigen Eltern, ihren Kindern keine "Brutal-Computerspiele" und Doppel-Whopper mehr zu spendieren und das Geld statt dessen in "halbwegs passable Schulbücher" zu investieren. Katja Gelinsky bereitet uns ausführlich auf eine in den USA anstehende Entscheidung des Supreme Courts zu entscheidenden Fragen des Strafprozessrechts vor. Michael Althen gratuliert Brigitte Bardot zum Siebzigsten (hier der Artikel und eine Bildergalerie). Andreas Rosenfelder resümiert einen historischen Kongress über das Phänomen Punk in Kassel. Gerd Roellecke gratuliert dem Verfassungshistoriker Manfred Botzenberger zum Siebzigsten.

Zwei Meldungen weisen darauf hin, dass alles nach Plan läuft: Der Gruselfilm "Der Untergang" zieht ein Millionenpublikum in Bann, und Springer kehrt wie angekündigt zur ehemaligen Rechtschreibung zurück.

Auf der Medienseite berichtet Adolf Theobald, dass die deutsche Bistumspresse radikal verändert werden soll. Und Gina Thomas schildert das Verhältnis der britischen Presse zu Tony Blair.

Auf der letzten Seite erinnert Frank-Rutger Hausmann an den Chemiker Adolf Butenandt, der 1938 den Nobelpreis ablehnen musste, weil Hitler wegen des kürzlich verliehenen Friedensnobelpreises an Carl von Ossietzky noch sauer war. Jürg Altwegg berichtet, dass in Genf das E-Voting per Internet schon erfolgreich praktiziert wird. Und Peter Rawert stellt den gelehrten und bibliophilen Sammler Volker Huber vor, der sich auf Bücher über die Zauberkunst aus dem 16. bis 18. Jahrhundert verlegt hat.

Besprochen werden Stephen Sondheims Musical "Sweeney Todd" in der Komischen Oper Berlin, ein "Don Giovanni", inszeniert von Peter Stein in Chicago, Viktor Ullmanns Stück "Kaiser von Atlantis" in Luzern, die Saisoneröffnung in Köln, wo unter anderem ein arg gekürzter "Hamlet" gegeben wurde, eine Ausstellung mit Spitzenwerken des Museums Folkwang, die zur Zeit in München gezeigt werden, Claudio Monteverdis frühe Oper "Orpheus", inszeniert von John Dew in Darmstadt, und zwei Einspielungen von Händel-Opern auf CD.