Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.11.2004. Die FAZ druckt Jürgen Habermas' Kyoto-Preis-Rede, in welcher er den krönenden Schlussstein zur FAZ-Gehirndebatte setzt: Kein freier Wille hat keinen Sinn. In der Welt wettert Regisseur Jürgen Gosch gegen das Ostdeutsche am deutschen Theater. Die SZ bringt eine feurige Verteidigung der Hochkultur und der Subventionen für ihre  Orchester. Die NZZ besucht ein Theaterfestival im armen Armenien.

FAZ, 15.11.2004

Jürgen Habermas hat sich seinen Kyoto-Preis (400.000 Euro) redlich verdient, indem er staunenden Japanern in seiner am Mittwoch gehaltenen Rede den krönenden Schlussstein zur FAZ-Gehirndebatte präsentierte. Die Rede ist heute in der FAZ abgedruckt. Habermas wendet sich gegen Determinismus und Reduktionismus der Hirnforscher Wolf Singer und Gerhard Roth, deren Hirne uns jeden freien Willen abzusprechen programmiert wurden, und hält unser eigenes Hirn - an diesem grauenden Montagmorgen! - zu folgender Hochleistung an: "Unser kognitiver Apparat ist, wie es scheint, nicht darauf eingerichtet, zu begreifen, wie die deterministischen Wirkungszusammenhänge der neuronalen Erregungszustände mit einer kulturellen Programmierung (die als eine Motivation durch Gründe erlebt wird) interagieren können. Um es in Kantischer Terminologie auszudrücken: Es ist unbegreiflich, wie die Kausalität der Natur und die Kausalität aus Freiheit in Wechselwirkung treten können. Wenn wir nämlich diese Art der Programmierung an Naturkausalität angleichen, geht etwas Wesentliches verloren - der Bezug auf die Gründe und Gültigkeitsbedingungen, ohne den propositionale Gehalte und Einstellungen unverständlich bleiben." Da können wir nur noch gratulieren!

Weitere Artikel: In der Leitglosse nennt Hubert Spiegel die von Kulturministerin Christina Weiss in Marbach gehaltene Schiller-Rede ohne nähere Begründung "dürftig" (hier ist sie nachzulesen). Lorenz Jäger resümiert die 31. Römerberggespräche, die sich dem Thema der Bildung widmeten. Dieter Bartetzko gratuliert Petula Clark ("Downtown") zum Siebzigsten. Martin Thoemmes berichtet, dass der Abschiedsbrief der Lübecker Geistlichen Karl Friedrich Stellbrinks und Johannes Prasseks, die 1943 von den Nazis enthauptet wurden, nun von dem Historiker Peter Voswinkel aufgefunden wurden.

Auf der Medienseite stellt Joseph Croitoru den von der EU geförderten Internet-Radiosender Allforpeace vor, der auf hebräisch und arabisch für die Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern wirbt.

Auf der letzten Seite erinnert Katja Gelinsky an den Architekten Victor Gruen (der als Victor Grünbaum aus Wien vor den Nazis geflüchtet war), den Erfinder der Shopping Mall. Wolfgang Sandner erzählt, wie Jiri Nekvasils Neuinszenierung von Smetanas National- und Volksoper "Die verkaufte Brau" in Prag durch postmoderne Ironisierung zum Skandal geriet. Und Michael Seewald gratuliert dem Schauspieler Rolf Schimpf, der niemals aufhören will, den "Alten" zu geben, zum Achtzigsten.

Besprochen werden neue Choreografien von Jiri Kylian und Shusaku Takeuchi am Nederlands Dans Theater(von Wiebke Hüster so anregend gelobt, dass man gleich ein Ticket nach Amsterdam lösen möchte), Stücke von Edward Albee und Peter Handke in Hamburg, Christoph Hochhäuslers Filmdebüt "Milchwald" und einige Sachbücher, darunter Hans Küngs "Der Islam".

FR, 15.11.2004

Hans-Jürgen Linke berichtet vom Vergnügen, den norwegischen Jazz-Saxofonisten Trygve Seim auf dessen einzigen Deutschlandkonzert in Mannheim zu hören. "Es ist, das wird jetzt schon fast peinlich, eine Musik, die sich kein bisschen schämt, einfach und schön zu klingen. Einfach und schön, also sowas, das muss man sich mal vorstellen, nein wirklich, unsere heimischen Jazzmusiker dürften sowas nicht. Vielleicht stehen in Norwegen einfach weniger Verbotsschilder in der Gegend herum?"

Weiteres: Christoph Schröder freut sich, dass der vernachlässigte Schriftsteller Peter Kurzeck den Kranichsteiner Literaturpreis gewonnen hat. In Times mager lacht Rudolf Walther über die PDS, die die Berliner Mohrenstraße umbenennen will. Auf der Medienseite informiert Hans-Jürgen Krug über Radio Russkij Berlin. Und Jutta Heess stellt das große Hörspiel rund um Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" im br vor.

Besprochen werden zwei Theaterinszenierungen aus Bremen, Kristo Sagors "Trüffelschweine" und Sophokles' "Antigone" in der Version von Thomas Bischoff und einige hessische Ereignisse.

Welt, 15.11.2004

"Es ist diese Art von peitschender Unbildung und Dummheit und Militanz, die ein deutliches Produkt der DDR ist", sagt der Regisseur Jürgen Gosch im Interview über das Ostdeutsche am deutschen Theater. Von einer Glorifizierung desselben hält er gar nichts: "Das ostdeutsche Theater ist schön, weil es vorbei ist. Und weil man jünger war, als man es erlebt hat. Ich empfinde auch die alten Gebäude inzwischen als Belastung. Das Deutsche Theater ist ein schönes Haus, andererseits möchte man reinschlagen."

TAZ, 15.11.2004

Robert Hondonyi lässt sich im Kunsthaus Dresden vorführen, wie sehr die New York School die Kunst der Moderne geprägt hat. An den künstlerisch leicht verfremdeten Kopien der großen modernen Klassiker von Cezanne bis Kosuth sieht er aber auch, wie schnell doch ein Kanon entsteht. "Die Arbeiten in der 'International Exhibition' gehen von Werken aus, die in der legendären Armory Show in New York, Chicago und Boston gezeigt wurden. Im Jahr 1913 konnte sich hier erstmals ein breites amerikanisches Publikum mit der avantgardistischen Kunst Europas vertraut machen. Die Schau mit mehr als 500 Bildern, unter anderem von Henri Matisse, Constantin Brancusi, Edvard Munch und Marcel Duchamp, geriet zu einem bis dahin ungekannten gesellschaftlichen Spektakel. Die Künstler wurden gefeiert und gleichzeitig verspottet. Die Armory Show gilt heute als die erste große Ausstellung des 20. Jahrhunderts, die ein Medienereignis wurde und damit die Funktion des modernen Ausstellungswesens, man denke an das 'MoMA in Berlin', vorwegnahm: 'Die Show selbst war das Thema.'"

Im Feuilleton resümiert Jan-Hendrik Wulf ein Historikerpodium in der Berliner Staatsbibliothek, auf dem die Flicks als im Nationalsozialismus erfolgreiche, aber deswegen nicht unbedingt nazistische Unternehmer dargestellt wurden. "Lün" testet auf der Medienseite drei neue Magazine für Journalisten. Die einzige Besprechung widmet sich der Aufführung von Heiner Goebbels Elias-Canetti-Stück "Erarijaritjaka" im Berliner Festspielhaus.

In der zweiten taz spricht der franko-algerische Rai-Sänger Khaled im Interview über Algerien, die Muslime und die Stimmung in den USA während seiner Tournee kurz nach 9/11. "Es war nicht einfach, in dieser Zeit mit einer riesigen Tourkarawane durch das Land zu ziehen, in der die meisten Künstler und Techniker arabische Namen hatten." Robin Alexander und Arno Frank lästern über das "träge und besserwisserische" Fußballmaskottchen der WM 2006. Peter Unfried denkt über das grassierende Genre der Kinderkolumne nach. Niklaus Hablützel stellt "Feinde der Aufklärung" vor, eine Kanzlei, die Querverweise auf unerwünschte Informationen mit Klage verfolgt.

Und Tom.

NZZ, 15.11.2004

Renate Klett nimmt das Theaterfestival Highfest in Eriwan in Armenien zum Anlass, das Land vorzustellen, das sich von Feinden und schlechten Freunden umzingelt fühlt und sich über die Absenz der ansonsten so reisefreudigen Deutschen wundert. "Vor allem von Exilarmeniern werde ich immer wieder gefragt, warum es in Armenien so wenig deutsche Touristen gebe, die seien doch sonst überall. Die Antwort geben sie gleich selbst. In Deutschland seien so viele Türken, und die hätten große Macht und würden das verhindern. Da ist es dann wieder, das Trauma, auch noch in der dritten Generation."

Weitere Artikel: Martin Krumbholz hat das weitläufige Museum Insel Hombroich bei Neuss besucht und einen "magischen Ort" vorgefunden, der zum besucherverschlingenden "kulturellen Utopia" werden könnte. Stefan Laube meldet die feierliche Einrichtung eines Guardini-Lehrstuhls in an der Humboldt-Universität in Berlin und Marguerite Menz porträtiert die Stadt Genf als ein Zentrum für Gegenwartskunst. 

Besprochen werden Guy Krnetas in Basel uraufgeführtes Stück "E Summer lang, Irina", eine materialreiche Ausstellung über Musik im "Dritten Reich" in Paris und die deutschsprachige Erstaufführung des Stücks "Der Augenzeuge" des israelischen Dramatikers Joshua Sobol in St. Gallen.

SZ, 15.11.2004

"Jetzt hilf nur Pathos": Reinhard J. Brembeck gibt den gerade in Berlin tagenden Orchestern Flankenschutz und verfasst ein leidenschaftliches Plädoyer für die Hochkultur. Hier seien Subventionen einmal sinnvoll, meint Brembeck. "Weil solche Stücke fundamental fürs kulturelle Selbstverständnis Deutschlands sind, weil sie Identität stiften, weil darin nach wie vor gültige Welt- und Lebensentwürfe abgehandelt werden, weil sie als nie übertroffene Spitzenleistung nicht nur der klassischen Musik vor dem Vergessen bewahrt werden sollen."

Marcus Rothe unterhält sich mit den Filme- und Theatermachern Agnes Jaoui und Jean-Pierre Bacri über das Anderssein als Künstler. Bacri: "Bei mir zu Hause hing lange ein Plakat, auf dem sich 300.000 Schafe von einem Felsen in den Abgrund stürzten. Nur ein einziges Schaf bahnte sich in entgegengesetzter Richtung den Weg und sagte dauernd 'Pardon'. Ich bin kein Rebell, aber ich will gegen den Strom schwimmen. Doch bei den Dreharbeiten habe ich meinen eigenen Wohnwagen, esse gut und sehe mir mit meinen Freunden im Fernsehen Fussballspiele an. Das ist eher ein bürgerlicher Lebensstil. Weit entfernt von Che Guevara."

Weitere Artikel: Andrian Kreye stöbert im Internet, wo amerikanische Verschwörungstheoretiker Beweise für einen großangelegten Wahlbetrug der Republikaner sammeln. Johan Schloemann staunt, wie elegant sich der Historiker Michael Mitterauer auf einer Preisverleihung den Umarmungsversuchen von Edmund Stoiber entzogen hat. Jens Bisky war dabei, als der israelische Schriftsteller Amos Oz bei der Auszeichnung mit dem Welt-Literaturpreis eine Dankesrede hielt, die "in die Schulbücher" gehört. Derselbe Autor fordert angesichts des aufgeschobenen Abrisses der Zumthor-Türme im Dokumentationszentrum "Topographie des Terrors" eine eingehende Untersuchung des Skandals.

Kristina Maidt-Zinke applaudiert Ulrich Raulff für dessen Antrittsrede als neuer Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach: "Selten dürfte in jenen heiligen Betonhallen an einem einzigen Abend so viel gelacht worden sein." Fritz Göttler schreibt zum Tod des Filmkomponisten Carlo Rustichelli. Gottfried Knapp erinnert an den Maler Max Wendl, der heute hundert Jahre alt geworden wäre. Willi Winkler schildert auf der Medienseite die Maßnahmen wie Geldstrafen und Beugehaft, mit denen kritische Journalisten in den USA gemaßregelt werden.

Besprochen werden Verdis "La Traviata" unter Lorin Maazel zur Wiedereröffnung des Teatro La Fenice in Venedig, die "große" Schau der Werke von Raffael in der National Gallery in London, Martin McDonaghs Gruselstück "Der Kissenmann" in der Version von Hans-Ulrich Becker am Münchner Residenztheater, ein Auftritt des Emerson-Quartetts im Münchner Herkulessaal, und Bücher, darunter Constantin Floros' Biografie von Anton Bruckner ("Eine Meisterleistung", schwärmt Wolfgang Schreiber), Dieter Fortes Roman "Auf der anderen Seite der Welt" sowie Elisabeth Bauschmids Untersuchung über die letzten Monate der NS-Konzentrationslager in der Reihe der Dachauer Hefte (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).