Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.04.2005. In der taz streiten Helga Hirsch und Norbert Frei über das Thema der Vertreibung, und der polnische Autor Stefan Chwin erinnert an die Vertreibung von Polen. Die NZZ führt ein in die forensische Mathematik. Die SZ übersetzt die deutsche Wendung "Alle Jubeljahre" mit "Ogni morte di papa".

TAZ, 08.04.2005

Auf den Tagesthemenseiten geht es heute um die Erinnerung an die Vertreibung. Der Historiker Norbert Frei und die Publizistin Helga Hirsch streiten darüber, ob die Vertreibung in Deutschland verdrängt wurde oder nicht. Frei hat "das Gefühl, dass die 68er ihre sich wandelnden politischen Stimmungen zum Gradmesser der Stimmungslage der Republik machen. Das ist eine Allmachtsfantasie - nur weil die 68er damals über die Vertriebenen nicht gesprochen haben und sich dafür heute geißeln, bedeutet das nicht, dass gesellschaftlich nicht über die Vertreibung gesprochen worden ist." Helga Hirsch findet dieses Bild "zu holzschnittartig". Sie erinnert an den SPD-Politiker Uwe-Karsten Heye. "Seine Mutter hat in der Familie nie über die Flucht gesprochen. Kurz vor ihrem Tod überreichte sie dem Sohn 17 eng beschriebene Seiten. Zwanzig Jahre lang hat er den Text ungelesen mit sich herumgetragen, bevor er den Mut fand, sich den ungelösten Fragen seiner Familiengeschichte zu stellen. Diese Verweigerung eines Dialogs über die Vertreibung war kein Einzelfall. Die Kinder haben das Thema abgewehrt."

Der polnische Schriftsteller Stefan Chwin erinnert in einem Essay daran, dass es nicht nur deutsche, sondern auch polnische Vertriebene gibt: "Ich bin in Danzig geboren, in einem alten Haus, aus dem die deutschen Bewohner im Januar 1945 vor der Roten Armee nach Hamburg oder Rostock geflohen waren. Aber auch meine Familie ist eine Familie von Vertriebenen. Im September 1944 vertrieben die Deutschen meine Mutter aus Warschau, wo sie als Krankenpflegerin an dem gescheiterten Aufstand teilgenommen hatte ... Während der gleichen Zeit wurde mein Vater von den Russen aus Wilna vertrieben, wo er sich als Pole mit höherer Bildung vor dem sowjetischen Geheimdienst NKWD verstecken musste, der Jagd auf polnische Intellektuelle machte." Von der Vertreibung seiner Eltern erfuhr Chwin erst 1989, denn "über diese Dinge durfte man in Polen nicht laut sprechen, ebenso wenig wie über die Vertreibung der Deutschen aus Danzig".

Im Kulturteil singt Andreas Hartmann ein Loblied auf den ästhetischen Extremismus von Black und Death Metal. JAF. schreibt den Nachruf auf den Arbeiterschriftsteller Max von der Grün. Besprochen werden neue CDs von Benjamin Biolay und Coralie Clement und das Kunstprojekt "Heimat Moderne, Experimentale 1, Leipzig 2005".

Schließlich Tom.

FR, 08.04.2005

Helmut Höge erzählt vom Widerstand eines alten Gärtnerehepaars gegen die Zwangsumsiedlung des Dorfes Horno in der Lausitz. Philipp Zitzlsperger erklärt die Symbolik der Papstbestattung. Times Mager widmet Ina Hartwig der Kunst des Spargelstechens.

Besprochen werden zwei Ausstellungen: von Mark Tansey im Museum Kurhaus Kleve und von Ulf Puder in der Städtischen Galerie Wolfsburg.

NZZ, 08.04.2005

Auf der Medien- und Informatikseite stellt gsz. die US-Krimiserie "Numbers" vor. Hauptrolle spielt die forensische Mathematik. "Die ersten drei Sendungen, die auf wirklichen Begebenheiten beruhen, haben Mustererkennung zum Thema. Einem Serienvergewaltiger, einer Bande von Bankräubern und schließlich einem Biochemiker, der ein gefährliches Virus freisetzt, muss das Handwerk gelegt werden. Die Adressen der Vergewaltigten, der überfallenen Banken und der Erkrankungsfälle bieten dem Mathematikgenie Charlie die geeigneten Schemata zur Lokalisierung der Bösewichte. In der vierten Sendefolge geht es um Baustatik, in der fünften um einen Algorithmus zur Zerlegung großer Primzahlen in ihre Faktoren. Manchmal tauchen im Laufe von Charlies Untersuchungen Schwierigkeiten auf - eine ungestützte Annahme, ein falscher Datenpunkt, eine irrige Schlussfolgerung -, die die mathematische Analyse interessant machen und den Sendungen unerwartete Wendungen geben." Die Serie gucken in den USA wöchentlich 15 Millionen Amerikaner!

Im Feuilleton trauert die polnische Journalistin Maria Graczyk um den Papst. Ulrich Ruh informiert über das bevorstehende Konklave: Einen Favorit für die Papstwahl gebe es nicht. Paul Jandl stellt das Programm des Wiener Volkstheaters für die kommende Saison vor.

Besprochen wird eine Ausstellung über Landschaftsarchitektur im MoMA, eine Schau zum Thema "Die Regierung" in der Wiener Secession und Filme: Jacques Richards Dokumentarfilm "Le fantome d'Henri Langlois", Dennis Gansels Film "Napola - Elite für den Führer", Susanne Biers Familienfilm "Zwei Brüder" und Andreas Dresens Film "Willenbrock".

SZ, 08.04.2005

Birgit Schönau liefert historische Hintergründe zu den Pilgerfahrten nach Rom. Denn so einzigartig, wie heute verkündet wird, sei der Ansturm auf Rom beileibe nicht: "'Alle Jubeljahre', sagen wir heute, um Geschehnisse zu beschreiben, die selten, aber doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit eintreffen. 'Ogni morte di papa', sagen die Römer: bei jedem Papsttod, also: Nicht oft genug. Das hängt damit zusammen, dass der Tod eines Papstes in den vergangenen 2000 Jahren nicht selten die Befreiung von einem Tyrannen bedeutete, seit dem Mittelalter aber auf jeden Fall Geschenke und milde Gaben. Jeder neugewählte Papst war nämlich verpflichtet, Klerus und Klöster mit Geldgeschenken oder Ländereien zu bedenken, außerdem musste er Brot und Fleisch an die Armen verteilen lassen. Sta come un papa, heißt es in Rom, wenn von einem die Rede ist, der wie Gott in Frankreich lebt: 'Dem geht's wie dem Papst.' Zeitweise war es guter Brauch, die Paläste des frisch verstorbenen Pontifex Maximus zu plündern -- das letzte Hemd hat ja auch bei einem Papst keine Taschen."

"Viel Scham im Haus" hat Tobias Timm in der Berliner Nationalalerie gespürt, wo die Künstlerin Vanessa Beecroft hundert nackte Frauen mit - symbolträchtig!- schwarzen, roten und goldenen Haaren vorführt: "Die nackten Frauen schämen sich, die Künstlerin im hellgrauen Trenchcoat schämt sich, und der Betrachter, der in die Rolle des Voyeurs gezwungen wird, schämt sich auch. Denn die Frauen können zurückschauen."

Weiteres: Thomas Steinfeld weiß zu berichten, dass der Rat für Rechtschreibung heute für die Rücknahme eines entscheidenden Punktes der Reform plädieren wird: die Regeln für Getrennt- und Zusammenschreibung. Der israelische Historiker Moshe Zimmermann erzählt eine typische Geschichte aus Israel: Verlässlichste Torjäger der Fußball-Nationalmannschaft sind die beiden israelischen Palästinenser Abbas Suan und Walid Badir, doch bevor sie Israels Fußballehre retten dürfen, müssen sie sich gnadenlos vom Publikum ausbuhen lassen. Im Interview mit Helmut Mauro spricht der Pianist Ivo Pogorelich, der heute eine Deutschland-Tournee startet, über sein künstlerisches Lebenskonzept und die Verteidigung der persönlichen Freiheit: "Man muss dabei sehr oft Nein sagen, und gilt deshalb bei vielen Menschen als schwierig, arrogant und egozentrisch. Das muss man in Kauf nehmen."

Besprochen werden Jens Roselts Turgenjew-Adaption "Rauch" in Baden-Baden, Hirokazu Kore-edas Film "Nobody Knows", Christof Nels Inszenierung des "Idomeneo" am Opernhaus Köln und Bücher, darunter Augusten Burroughs "Trocken!" und eine Biografie der Transvestitin Catharina Linck (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 08.04.2005

Im Aufmacher kritisiert Joachim Müller-Jung eine nach wie vor unklare Rechts- und Gesetzeslage beim Thema Sterbehilfe. Jürgen Kaube kritisiert die neuen Master- und Bachelorstudiengänge an deutschen Universitäten. In der Leitglosse kritisiert Christian Geyer angesichts der römischen Massen die Kritiker der Kirche. Niklas Maak hat das von Rem Koolhaas geplante Konzerthaus in Porto besucht. Gina Thomas stellt einen erstaunlichen Wandel des Verhältnisses zwischen den höchsten britischen Repräsentanten und dem Papsttum fest ("James Callaghan war britischer Premierminister, als 1978 die beiden Päpste kurz nacheinander starben. Er fuhr weder zur einen noch zur anderen Beerdigung.") Der Germanist Horst Haider Munske annonciert, dass heute der Rat der Rechtschreibung zur Frage der Getrennt Schreibung zusammen tritt. Oliver Jungen gratuliert dem Historiker Jürgen Petersohn zum Siebzigsten.

Auf der Medienseite hat Michael Hanfeld erkundet, welchen Aufwand die Sender für die Berichterstattung aus Rom treiben ("bei CNN sind nach Angaben des Senders 800 Leute in Rom im Einsatz"). Außerdem erfahren wir, dass die Beerdigung des Fürsten Rainier in der nächsten Woche sowohl im Ersten als auch im Zweiten übertragen wird.

Für die letzte Seite hat Heinrich Wefing knallhart recherchiert, wie Bundespräsident Horst Köhler bei einer Japan-Reise seine Amtspflichten wahrnahm: "Wenn Horst Köhler lächelt, verändert sich sein ganzes Gesicht. Es wird weicher und weiter, die Lippen teilen sich, und um seine Augenwinkel erscheint ein Strahlenkranz von Fältchen, ein wahres Delta von vielverzweigten Linien. Die erstaunlichste Veränderung aber geschieht mit den Augen selbst. Es ist, als schauten sie verwunderter in die Welt..." Jürg Altwegg berichtet, dass das Mindestheiratsalter für Frauen in Frankreich von 15 auf 18 Jahre hinaufgesetzt wird, um Zwangsheiraten zu erschweren. Und Michael Gassmann spekuliert über die Frage, warum Kardinal Angelo Sodano bei seiner Predigt auf dem Petersplatz von seinem Redemanuskript abwich und Johannes Paul II. nicht "den Großen" nannte.

Besprochen werden Terry Georges Film "Hotel Ruanda", eine Inszenierung der neoveristischen Oper "Der Konsul" von Gian Carlo Menotti in Zürich, eine Ausstellung mit koptischen Textilien im Diözesanmuseum Köln und ein Auftritt der Frauenband Le Tigre in Hamburg.