Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.09.2005. Das Thema Nummer 1 erfordert zwar einen sehr weiten Kulturbegriff, aber wir verlinken trotzdem auf die wichtigsten Leitartikel. Auch in der Kultur ist einiges los: Botho Strauß' neue Komödie wurde in Zürich uraufgeführt und erinnert die NZZ an Michel Houellebecqs neuen Roman. Die SZ wirft dem Zürcher Intendanten Matthias Hartmann vor, scheckheftgepflegte Investoren-Kunst zu machen. Die FR erliegt dem fülligen Verführer Josef Ostendorf in den "Bakchen". In der NZZ erklärt Ignaz Kircher, wie Schauspieler sterben sollten, um nicht deppert zu werden. Die FAZ lauscht gebannt der mathematisch kalkulierten Raserei, mit der Inger Christensen ihre Gedichte liest.

Weitere Medien, 19.09.2005

Es ist das Thema Nummer 1, und darum verlinken wir hier auf die wichtigsten Leitartikel der deutschen Zeitungen zu den Wahlen.

In der FAZ zeigt sich "bko." erschüttert: "Dieses Wahlergebnis ist ein Debakel für die Union und ihre Kanzlerkandidatin." Und "Dt." kommentiert: "Das wundersame Erstarken der SPD in den Umfragen der vergangenen Wochen ist nur damit zu erklären, dass es Schröder gelang, den Wettbewerb mit seiner Herausforderin in einer Disziplin auszutragen, in der er unbestritten ein Meister ist: Politikdarstellung."

In der SZ frohlockt Heribert Prantl: "Der 18. September war wohl nicht nur das Ende von Rot-Grün. Seit diesem Abend geht auch die Kanzlerschaft der Angela Merkel zu Ende, noch bevor sie begonnen hat."

In der Berliner Zeitung glaubt Chefredakteur Uwe Vorkötter unter dem Titel "Merkels Sieg, Merkels Niederlage" an eine große Koalition: "Die Große Koalition kann bestenfalls, aber immerhin, einen begrenzten Auftrag erledigen. Dieser Auftrag besteht darin, zu deblockieren, was bisher blockiert war. Es gibt, zum Beispiel, eine Liste für den längst überfälligen Abbau von allerlei Subventionen, auf die sich Roland Koch (CDU) und Peer Steinbrück (SPD) verständigt haben." Im Kulturteil blickt Arno Widmann zurück: "Sieben Jahre Rot-Grün waren keine Ära, sondern eine Verschnaufpause." Und wichtiger: "1998 gab es kein rot-grünes Projekt. Es gab nicht die Vorstellung von einer Neuordnung der Bundesrepublik. Es gab noch nicht einmal ein Regierungsprogramm, und wer sich erinnern kann, erinnere sich: Es gab noch nicht einmal eine Regierungsmannschaft."

Das schlechte Abschneiden der CDU ist Angela Merkels "ganz persönliche Niederlage", meint Gerd Appenzeller im Tagesspiegel. "Wenn sie nicht Kanzlerin werden kann, sind auch ihre Tage als Parteichefin gezählt. Vermutlich wird sie dann nicht einmal die Opposition führen. Es ist also kein guter Abend für die CDU ... Schröder wird, wenn es keine große Koalition gibt, ein rot-gelb-grünes Bündnis zu schmieden versuchen. Er will sich das Heft des Handelns nicht aus der Hand nehmen lassen, er bestimmt, mit wem er spricht. Das denkt und sagt er: Das war eine Kanzlerwahl, und der Kanzler, das bin ich. Majestät lassen sich bitten!"

In der taz lässt der Parteienforscher Franz Walter alles offen. Sowohl Schröder als auch Merkel werden nun nach Bündnispartnern suchen. "Der Kanzler hat da einen großen Vorteil, da er wirklich ein großer Macchiavellist ist." Eine Große Koalition wird aber ein Außenseiter führen. "In den nächsten Tagen wird der Name Wulff geraunt."

FR, 19.09.2005

"Krude" findet Peter Michalzik Christof Nels Inszenierung "Bakchen" am Schauspiel Frankfurt, verführerisch erschien ihm allein Josef Ostendorfs Dionysos: "Dionysos! Das ist gewagt. Der Gott des Rausches und des Theaters, der große Verführer und Verderber, ein Kerl mit Riesenbauch und -titten, nackt bis auf ein Blumenröcklein um die Lenden und eine eckige Sonnenbrille? Sein blondes Lockenhaar ist ein wenig weibisch nach hinten gekämmt. Er erzählt uns, wie Zeus seine Mutter verbrannte und seine Geburtsstadt Theben ihn trotzdem nicht als Zeus' Sohn akzeptierte. Ein Vertriebener, ein Exilant, ist er. Und jetzt ein Heimkehrer. Dann sagt dieser dicke Nackte etwas neckisch die Worte 'das bin ich' und hebt andeutungsweise das rechte Bein nach außen. Gekränkt, schüchtern, ungefährlich wirkt dieser Dionysos, und doch hat er uns schon gefangen, schon da glauben wir, dass er es ist. Und wir glauben, dass Josef Ostendorf ein ganz großer Schalk und der fülligste Verführer ist, den man sich denken kann."

Weitere Artikel: Hans-Jürgen Linke berichtet vom Cello-Festival in Kronberg, wo unter anderem Maria Kliegel, Natalia Gutmann, Lynn Harrell, Heinrich Schiff, David Geringas, Mischa Maisky Meisterkurse für junge Cellisten anboten. Besprochen wird die Aufführung von Hans Werner Henzes "The Bassarids" an der Oper Köln in der englischen Ur-Textfassung, "unter Weglassung des 1992 vom Komponisten gestrichenen frivol-anachronistischen Intermezzos, auf dessen Späße man tatsächlich verzichten kann", meint ein wenig beeindruckter Holger Noltze.

TAZ, 19.09.2005

Thomas Winkler sieht die nächste Berliner Popkomm aufgrund der fortschreitenden Zersplitterung des Musikgeschäfts bald in einer Turnhalle stattfinden. In der zweiten taz entwirft Albert Hefele einen Dialog, wie er sich gestern zwischen Angela Merkel, Udos Walz und Helmut Kohl hätte ereignen können. Jony Eisenberg empfiehlt, das Flugsicherheitsgesetz, das den Abschuss von entführten Passagiermaschinen erlaubt, wieder zu kippen.

Im Meinungsteil wirft Jürgen Zimmerer Heidemarie Wieczorek-Zeul und der Bundesregierung vor, sich bei der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit in Namibia auf die Rolle des "aseptischen Geldgebers" beschränkt und damit den Karren an die Wand gefahren zu haben.

Tagesthema ist natürlich die Wahl. Alle Koalitionen werden durchgespielt, Sieger und Verlierer festgemacht und die Zukunft der Grünen prophezeit. Hier die Übersicht.

Besprochen werden Armin Petras' komisch gebrochene Inszenierung von Friedrich Dürrenmatts Krimi "Das Versprechen" am Hamburger Thalia-Theater und eine Retrospektive mit Fotoserien des New Yorker Künstlers Gregory Crewdson im Kunstverein Hannover.

Und Tom.

NZZ, 19.09.2005

Fünfzig Jahre nach der Wiedereröffnung besucht Paul Jandl das Wiener Burgtheater und bringt einen sehr hübschen Artikel über das Leben hinter den Kulissen mit. Zum Beispiel über die Burgtheater-Novizin Teresa Weißbach (Bild), die für eine Inszenierung über 5 Meter hinab springt in ein von Technikern hoffentlich bereit gelegtes Sprungkissen, und den Kommentar des älteren Schauspieler-Kollegen Ignaz Kircher: "'Sie ist jung' sagt Ignaz Kirchner. 'Nö, ich würd das nicht machen. Einmal sogenanntes menschliches Versagen, und man sitzt im Rollstuhl.' Als Firs im 'Kirschgarten' hat sich Ignaz Kirchner sterbend über die Bühne zu schleppen, dann fällt der Vorhang. 'Wenn ich undiszipliniert sterbe und er auf mich drauffällt, bin ich für den Rest meines Lebens deppert.'" Auch Barbara Villiger-Heilig berichtet aus diesem Anlass über die Geheimgänge im riesigen Theaterbau.

Barbara Villiger-Heilig fühlt sich durch die in Zürich uraufgeführte Botho Strauß-Komödie "Nach der Liebe beginnt ihre Geschichte" an Michel Houellebecqs neuen Roman "Die Möglichkeit einer Insel" erinnert, beides Werke, "wo die Menschheit ankämpft gegen den Verlust der Liebesfähigkeit. Zwei Neoromantiker. Beide beschäftigt die Frage, wie Mann und Frau im heutigen Befindlichkeitspanorama dauerhaft zueinander finden. Beide kritisieren den wandelbaren Zeitgeist, beide kontrastieren ihn mit wertkonservativer Verbindlichkeit."

Weitere Artikel: Andrea Köhler schildert die Sorgen von Urbanisten angesichts eines möglichen Wiederaufbaus der Stadt New Orleans als kitschige Replik ihrer selbst.

Besprochen werden ferner die Uraufführung von Igor Bauersimas neuem Stück "Lucie de Beaune" in Zürich, das Eröffnungswochenende von "Basel tanzt", ein Konzert des Chicago Symphony Orchestra unter Daniel Barenboim in Luzern und Hermine Huntgeburths Film "Die weiße Massai" (mehr hier).

SZ, 19.09.2005

"So altbacken beginnt hier eine neue Zeit." Enttäuscht und zugleich bestätigt zeigt sich Christopher Schmidt vom Auftakt der Intendantenzeit von Matthias Hartmann in Zürich. Wie in Bochum fabriziere Hartmann "Investoren-Kunst", überhaupt sei er mehr Theater-Controller als Regisseur. "Ein Branchenwitz besagt, man würde ihm sofort eine Gebrauchtinszenierung abkaufen. Denn sie ist garantiert scheckheftgepflegt." Hartmanns Uraufführung von Botho Strauß' "Nach der Liebe beginnt ihre Geschichte" in Zürich hat Schmidt erwartungsgemäß nicht erwärmt. "In kühler Perfektion reizt er den technischen Apparat aus. Eine High-End-Aufführung der Feinmechanik schnurrt da ab, die an den Uhrmacher in jedem Schweizer appelliert." Und auch Igor Bauersimas Mantel-und-Degenstück "Lucie de Baume" ist in seinen Augen nicht mehr als eine "Petitesse royale" gewesen."

Weitere Artikel: Nur Gutes hat Anke Sterneborg über das expandierende 30. Filmfestival in Toronto zu berichten, wo wieder mehr auf Realitätsnähe gesetzt wird. Lothar Müller streift durch das polnische Oberschlesien, wo sich der Niedergang der Kohleindustrie mit dem Aufstieg einer lebendigen Kunstavantgarde kreuzt. Oliver Fuchs und Dirk Peitz erleben auf der zweiten Berliner Popkomm, wie die Musikbranche nach staatlicher Schützenhilfe fragt, im Wahlkampfstress aber niemand antwortet. Johannes Willms besichtigt den renovierten Grand Palais (Zeichnung) in Paris, der zur Weltausstellung 1900 den Vormachtsanspruch Frankreichs mit Glas und Stahl untermauern sollte. Richard Chaim Schneider rät Tony Blair davon ab, den britischen Holocaust-Gedenktag auf Druck muslimischer Organisationen in einen Erinnerungstag an Genozide umzuwandeln. Christiane Kohl meldet, dass die Semperoper wegen Flutfolgen und Personalkosten in großen Finanzschwierigkeiten steckt. Roger Waters, ehemals Bassist von Pink Floyd, hat mit "Ca Ira" eine Oper über die Französische Revolution geschrieben und verrät Alexander Menden, dass das Komponieren von Opern sich nicht groß vom Popsong-Schreiben unterscheidet.

Hans-Peter Kunisch hat auf dem Kalifornien-Schwerpunkt des Berliner Literaturfestivals unter anderem erfahren, dass auch Latinos aus L.A. ihre Romane auf Amerikanisch schreiben. Joachim Sartorius stellt in den Nachrichten von der Poesie das Gedicht "D'une tempe a l'autre" des rumänischstämmigen Dichters Gherasim Lucas vor. Im Medienteil gibt es ein schnelles Potpourri des Wahlwochenendes, und Senta Krasser präsentiert den neuen Kinderkanal Nick.

Besprochen werden Stefan Bachmanns "verklebte" Inszenierung von Ferdinand Raimunds Stück "Der Verschwender" am Wiener Burgtheater und Bücher, Markus Orths' historischer Roman "Catalina", der Briefwechsel der Rechtsgelehrten Ernst Levy und Wolfgang Kunkel sowie die Prominentenporträts "Close Up" des Fotografen Martin Schoeller (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 19.09.2005

"So kann Theater sein." Peter von Becker ist hin und weg von Matthias Hartmanns Einstand als Theaterdirektor in Zürich. Hartmanns Uraufführung von Botho Strauß' neuem Stück "Nach der Liebe beginnt ihre Geschichte" war riskant, schreibt Becker, am Ende aber zurecht bejubelt. "Vom stahlverstrebten Bühnenhimmel fallen durchsichtige Hauszelte, ein Liebespaar in flagranti hat ein Betrogener in seiner 'Netzhaut' gefangen, es redet Kiros Totenkopf, zur ihrer Eifersucht auf einer Schiffsreise machen die anderen Spieler die Möwenschreie: täuschend echt - und zugleich ein Höllengelächter. Einmal zerfließen die an die Glaswände gepressten Gesichter des Ensembles mit verquetschten Nasen und Mündern zu Fratzen eines Bacon-Gemäldes; ein anderes Mal tritt Kiro den Kopf der frechen Ex ihres Sohnes (als ruhrpottgefärbte Wuchtbrummme: Lina Beckmann) durch die Speichen ihres Fahrrads - und eine Blase platzt, gefüllt mit Melonenfleisch. So einfach kann kompliziertes Theater, kann ein grausames Märchen sein."

FAZ, 19.09.2005

Andreas Kilb berichtet vom Internationalen Literaturfestival in Berlin und staunt zumal über den Vortrag eines Gedichtes über Rom durch die dänische Lyrikerin Inger Christensen: "Christensen liest ihr Gedicht, das eine einzige mathematisch kalkulierte Raserei ist, mit vollendetem Understatement vor. Ihre Show, das sind die Wörter, die sie zu immer neuen Formen und Figuren ordnet, ein Flohzirkus der Sprache, den sie mit leichter Hand regiert."

Weitere Artikel: Gerhard Stadelmaier feiert auf vier Spalten Botho Strauß' neue Komödie, die in Zürich von Matthias Hartmann zur Uraufführung gebracht wurde ("'Nach der Liebe beginnt ihre Geschichte' ist eine fromme Komödie für eine kommende Gesellschaft: das Drama des Glaubens eines Dramatikers, dass es in der haltlosen Welt einen Halt geben muss"). Martin Kämpchen meldet, dass die größten Bollywood-Produktionen der letzten Zeit Kassenflops waren und dass man sich in Bombay wie in Hollywood auf kleinere Formate besinnt. Christian Schwägerl zeigt in der Leitglosse, wie die Gelontologie, die Wissenschaft vom Lachen, der Leitwissensschaft dieser Zeitung, der Gerontologie, auf die Sprünge helfen kann. Chefkritiker Hubert Spiegel gratuliert Chefkritiker Ulrich Greiner zum Sechzigsten. Heinrich Wefing besucht die neue, von Norman Foster entworfene Freihandbibliothek der FU Berlin. Andreas Rosenfelder graute auf der Popkomm Berlin vor alternden Popmanagern, die in Klingeltönen die Rettung ihrer Branche erblickten. Jürg Altwegg liest französische Zeitschriften, die sich zum hundertsten Geburtstag der Denker ganz viel mit Sartre und ganz wenig mit Aron auseinandersetzen.

Auf der Medienseite beschreibt Jennifer Wilton die Wahlberichterstattung ihrer Kollegen aus dem Internet. Reinhard Veser stellt eine nachahmenswerte Kolumne in polnischen Zeitungen vor, die Wahlkampfaussagen von Politikern auf Stichhaltigkeit überprüfen. Thomas Thiel berichtet über eine Wahlumfrage des TV-Unterhalters Stefan Raab, den seine Zuschauer gern als Kanzler sähen.

Auf der letzten Seite beobachtet Jordan Mejias wie das einst so umstrittene Institut der Schwulenehe in Massachusetts zum Alltag wird. Und Malte Herwig empfiehlt eine vom Fischer-Verlag geschaffene, sehr informative Internetseite über Franz Kafka.

Besprochen werden die "Bakchen" des Euripides in Frankfurt, Philip Glass' Oper "Waiting for the Barbarians" nach einem Roman von Coetzee in Erfurt und Sachbücher.