Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.12.2005. Andrea Breths "Minna von Barnhelm"-Inszenierung in Wien wird ungnädig aufgenommen. Christoph Marthalers "Fruchtfliege" in Berlin kam besser an. In der FAZ macht Jared Diamond ("Kollaps") der Menschheit Hoffnung aufs Überleben. Laut NZZ ist der Pakt des Vergessens in Spanien immer noch nicht gebrochen. Die Welt staunt über den britischen Umgang mit der neuesten Architektur ("Demolition").

NZZ, 19.12.2005

Markus Jakob diagnostiziert einen noch immer anhaltenden "Pakt des Vergessens" in Spanien. Noch immer gelinge es dem Land nicht, sich der Franco-Ära, der politischen Morde und Massenhinrichtungen zu stellen und die damals begangenen Verbrechen auch nur beim Namen zu nennen. "Sind es vielleicht eben die Simplifizierungen der franquistischen Ideologie, von denen sich weite Bevölkerungskreise noch heute betören lassen? Jene heilige Einfalt und jenes Anpassertum, die das Regime seinen Untertanen als Lebensentwurf verschrieb und für dessen Verwirklichung es zunehmend auch vorsorgte? Ein Arbeitsplatz, eine Wohnung, eine Familie, das Ganze lebenslänglich . . . Und selbstverständlich ein Spanien - das Falange-Motto 'Espana, una, grande y libre' geistert noch heute durch viele Köpfe. Kein Wunder, dass dieses Land die erbärmlichsten Massen dumpfer Konformisten hervorgebracht hat und zugleich die denkbar seltsamsten Exzentriker. Und beide mitunter in einer Person vereinigt."

Weitere Artikel: Frank Helbert schildert die Verdrängung der filigranen neapolitanischen Krippenbaukunst durch chinesische Massenware aus Plastik. Beat Stauffer berichtet über eine Tagung des internatinalen Religionsforums der Universität Freiburg zum Thema "Islam in Europa".

Besprochen werden Andrea Breths Inszenierung der "Minna von Barnhelm" am Wiener Burgtheater und die Ausstellung "Die Kinder der Manns. Ein Familienalbum" im Literaturhaus in München.

TAZ, 19.12.2005

Das war nichts, urteilt Uwe Mattheiss nach Andrea Breths Inszenierung von Lessings "Minna von Barnhelm" am Wiener Burgtheater. "Breth setzt zwei deutsche Ideologien - Preußen und den pazifistischen Konsens der alten Bundesrepublik - nur stumpf gegeneinander und büßt dabei das analytische Moment ein, das ihre Theatertexterkundungen für gewöhnlich auszeichnet. Der Widerspruch im Inhalt und die Affirmation in der Form, dem Text dienen und geschlossene Figuren zeichnen zu wollen, laufen unrettbar auseinander. Da hilft selbst die atmosphärische Wirkung des altehrwürdigen Burgtheaters nicht mehr. Hier kollabiert ein Begriff von Theater bei aller Virtuosität im Spiel an seinen eigenen Voraussetzungen."

In der zweiten taz berichtet Arno Frank, dass die USA strengere Einwanderungsregelungen verabschiedet und die beliebte Green-Card-Lotterie abgeschafft haben. Jan Feddersen schlendert über den "Winterpride", den ersten Weihnachtsmarkt von Schwulen und Lesben am Berliner Nollendorfplatz. Im Medienteil wissen Christian Bartels und Peter Luley, dass bei der redaktionellen Zusammenlegung von TV Spielfilm und TV Today unter der Burda-Flagge zehn neue Stellen geschaffen und 40 alte gestrichen werden.


Besprochen werden eine "gelungene" Ausstellung im Münchner Literaturhaus über die sechs Kinder von Thomas Mann und Alberto Mendez' "großartiger" spanischer Bürgerkriegs-Roman "Die blinden Sonnenblumen".

Und Tom.

FAZ, 19.12.2005

Michael Jeismann unterhält sich mit dem Apokalyptiker Jared Diamond ("Kollaps") über vergangene und künftige Untergänge der Zivilisation. So ganz will er die Hoffnung nicht aufgeben: "Wir können natürlich keine Katastrophe wie ein Erdbeben verhindern, aber doch solche, bei denen wir die einzige Ursache sind - wie zum Beispiel die Erwärmung der Atmosphäre. Wer das hinnimmt und davor die Augen verschließt, ist ein Mensch, der keine Kinder hat oder keine Verantwortung übernehmen will."

Weitere Artikel: "rtg" glossiert den Umstand, dass der Autor Luciano Canfora, dessen Buch "Demokratie - Geschichte einer Ideologie" vom Beck-Verlag abgelehnt wurde, nun Asyl im Papyrossa-Verlag fand. Der Kunstsammler Heinz Berggruen erzählt eine seiner Schnurren aus seinem Leben, um nachzuweisen, dass es nicht nur ruppige, sondern auch sanftmütige und sensible Berliner gebe. Richard Kämmerlings sah Diedrich Diederichsen in Köln beim Lesen zu und meditiert nebenbei über den schwerwiegenden Streit zur Frage, ob Pop links sei. Andreas Rossmann gratuliert dem Dramatiker Tankred Dorst zum Achtzigsten. "bat" feiert die Entdeckung eines Wandgemäldes der Mayas. Andreas Rossmann gratuliert der Schauspielerin Tana Schanzara zum Achtzigsten.

Auf der Medienseite resümiert Karen Krüger ein Symposion über die Zukunft des Rundfunks zwischen wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit und gesellschaftlichem Auftrag. Jürg Altwegg meldet, dass der Literaturchef des Figaro, Angelo Rinaldi, gefeuert wurde. Und Dietmar Dath stellt eine Krankenhausserie nach Lars von Trier von Stephen King auf Kabel 1 vor.

Für die letzte Seite besucht Reiner Burger die idyllische Stadt Pirna, in deren Kliniken die Nazis Tausende von geistig Behinderten umbrachten und wo jetzt ein Mahnmal der Künstlerin Heike Ponwitz (mehr hier) entstand. Thomas Wagner mokiert sich über eine Gruppe von Wissenschaftlern der University of Illinois, die behaupten, das Lächeln der Mona Lisa entschlüsselt zu haben. Und Christian Schwägerl porträtiert den isländischen Journalisten Arnar Eggert Thoroddson, der sich in Berlin - der zweitgrößten isländischen Stadt der Welt - niederließ, um für das Morgunbladid über das kulturelle Treiben seiner Landsleute zu berichten.

Besprochen werden Andrea Breths "Minna Von Barnhelm"-Inszenierung (Gerhard Stadelmaier ist ungnädig), eine Ausstellung über Adam Elsheimers Gemälde "Flucht nach Ägypten" in München, Christoph Marthalers Forschungsspiel "Fruchtfliege" an der Berliner Volksbühne und Rimski-Korsakows Oper "Mozart und Salieri" in Geras aufwendig saniertem Jugendstiltheater - sowie Sachbücher, darunter Remi Bragues Studie "Die Weisheit der Welt - Kosmos und Welterfahrung im westlichen Denken" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 19.12.2005

Rainer Haubrich berichtet über die Channel 4-Serie "Demolition", für die die Briten die abrisswürdigsten Gebäude der Nation gewählt haben: "Unter dem Titel 'Das dreckige Dutzend' stehen die zwölf meistgenannten Gebäude bereits im Internet, neun davon stammen aus den sechziger und siebziger Jahren. Am Wochenende startete 'Demolition' mit der Vorstellung des ersten von ihnen, der 'Gewinner' am Ende der Staffel - so hofft man bei Channel 4 - soll dann tatsächlich abgerissen werden."

Christoph Marthaler hat seinen Einstand als Hausregisseur der Berliner Volksbühne gegeben. Reinhard Wengierek ist von seinem "Fruchtfliege"-Spektakel über bioethische Fragen anders als etwa Irene Bazinger in der FAZ ("Diskursvorleger in Sachen Humangenetik") entzückt: "Marthaler macht unverschämterweise nichts weiter als einen mit wenigen Zitaten einschlägiger Forschung garnierten surreal großartigen, menschlich weisen Liederabend."

Weitere Artikel: Peter Dittmar meditiert pünktlich zur Vorweihnachtszeit übers Spendensammeln an und für sich. Jochen Schmidt macht auf die Choregrafien des taiwanesischen Tänzers Lin Hwai-Min aufmerksam, denen er ein europäisches Publikum wünscht. Reinhard Wengierek gratuliert Tankred Dorst zum Achtzigsten. Besprochen werden einige neue DVDs zu Architektur (Arte) und zum Advent (ZDF).

Im Forum zeigt sich der Europapolitiker Frits-Bolkestein durch den Prozess gegen Orhan Pamuk in seiner Ablehnung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei bestätigt. Allerdings würde er die Türkei auch bei bester Erfüllung der Kriterien nicht aufnehmen wollen: "Christentum, Feudalismus, Renaissance, Aufklärung, Demokratie und Industrialisierung haben uns zu dem gemacht, was wir Europäer sind, aber sie haben die Türken nicht zu dem gemacht, was sie sind. Deshalb bin ich nicht davon überzeugt, dass die Reformen in der Türkei, die auf Drängen der Europäischen Kommission umgesetzt wurden, nach einem Beitritt fortgesetzt würden. Ich vermute sogar, daß sie zurückgezogen würden."

Auf der Magazinseite porträtiert Andrea Seibel unter der hübschen Überschrift "Mein Kopf gehört mir" die Türkin Emel Algan, die es wagte, das Kopftuch abzulegen.

FR, 19.12.2005

Peter Michalzik schwärmt von Christoph Marthalers "Fruchtfliege", einem "furchtbar schönen" kleinen Stück über die Überflüssigkeit der Liebe in Zeiten der künstlichen Reproduktion, das an der Berliner Volksbühne Premiere hatte. Nebenbei betätigt sich Michalzik als Theatergeograf. "Das Marthal ist einer der eigenartigsten Orte, die je entdeckt wurden. Niemand weiß, wo es liegt, ein auf- und abbaubares Biotop für die Beladenen ist es, eine Falte der Gegenwart, in der Idyllendichter des 17. und Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts auferstehen können, um ihre Träume zu Ende zu träumen. Ein Refugium für das Vergessene, Abnorme, Eigenwillige. Eine Heimat für skurrile Wesen aller Art, nölende Redner und summende Schläfer, ein kleines Universum der Langsamkeit, der Paralyse, des Traumas, das allerdings immer von tröstlichen Tönen durchweht wird."

Weiteres: Philosophie und Religion reagieren bisher nur unzureichend auf die Herausforderung durch die Neurobiologie, beobachtet Hilal Sezgin auf einer Tagung an der Frankfurter Johann-Wolfgang-Goethe-Universität. Peter Iden gratuliert dem "nimmermüden" Dramatiker Tankred Dorst zum achtzigsten Geburtstag. Elke Buhr blättert für Times mager im Poesiealbum ihrer Großmutter. "Wenn Dich Gott verläßt Dein Hort / Und Du im Unglück willst verzagen, / So denk an Kaiser Friedrichs Wort: / 'Lerne Leiden ohne zu klagen.'"

Im Medienteil wundert sich Tilmann P. Gangloff, dass ausgerechnet SuperRTL Grundschüler in Sachen Werbung schulen will, kann aber bei der von Medienpädagogen entworfenen Kampagne "Augen auf Werbung" keinen doppelten Boden entdecken.

SZ, 19.12.2005

Die Akademie der Künste sollte zum halb privaten Club werden, bevor sie ganz in der "Vereinsbürokratie" erstarrt, meint Burkhard Müller. Der Stockholmer Verleger Svante Weyler verrät leider nicht viel mehr als dass er mit Orhan Pamuk vor und nach dem Prozessauftakt gegessen und gefeiert hat. Jeanne Rubner fasst noch einmal die französische Diskussion um den vierten Artikel eines im März verabschiedeten Gesetzes zur Entschädigung von Frankreichs algerischen Siedlern und den Hilfssoldaten zusammen, der die positive Schilderung der kolonialen Vergangenheit vorschreibt. Fritz Göttler meldet, dass die Filmsektion der katholischen Bischofskonferenz der USA Ang Lees Western "Brokeback Mountain" das strengste Etikett O verliehen und damit als "moralisch anstößig" klassifiziert hat (hier die Beurteilung). Christopher Schmidt gratuliert dem Dramatiker Tankred Dorst zum achtzigsten Geburtstag.

Stephan Maus weiß im Literaturteil nicht, über wen er sich mehr echauffieren soll: über die Bertelsmann-Kommandantur unter den Linden, die "brasilianische Schriftstellersimulation" Paulo Coelho oder den DirectGroup International Author Award für fünf Millionen verkaufte Buchclub-Exemplare, der aussieht "wie eine Mafia-Drohung". Auf der Medienseite erklärt Cara Palm, warum CNN jetzt auch auf Gefühle setzt.

Besprochen werden die Uraufführung von Christoph Marthalers Inszenierung der "Fruchtfliege" an der Berliner Volksbühne, Andrea Breths als "Lebenshungerattacke von lauter Liebesinvaliden" inszenierte Fassung von Lessings "Minna von Barnhelm" am Wiener Burgtheater, die "merkwürdig unentschiedene" Schau "Rembrandts Mutter - Mythos und Wirklichkeit" im Leidener Museum De Lakenhal, die den Startschuss zum Rembrandt-Jahr in den Niederlanden gibt, Gabriel Baryllis Neuinterpretation von "Sarastros Traum von der Zauberflöte - gekürzt" in der Wiener Kammeroper, Mang Jings "schmutziger kleiner" Spielfilm "Blinder Schacht" aus Chinas Kohlerevieren, ein Band voller "Gedichte" von Jesse Thoor ("Möge die Bibliothek Suhrkamp, die sich solchen Funden weiht, ewig gedeihen", deklamiert Burkhard Müller.), Alex Capus' Vermutungen über Robert Louis-Stevenson "Reisen im Licht der Sterne" sowie Bert Rebhandls "exzellente" Gedanken zu "Orson Welles" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).