Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.01.2006. In der Welt warnt Geert Mak die Deutschen vor dem "holländischen Fieber". Nach dem Comicfestival von Angouleme empfiehlt die NZZ den Zeichner Kotobuki Shiriagari, der in dem Comic-Roman "Yaji-Kita in Deep" zwei schwule und drogensüchtige Samurais auf eine Odyssee durch Japan schickt. Die Berliner Zeitung staunt, wie spitz der Pianist Martin Stadtfeld manche Mozart-Noten nimmt. Die SZ wendet sich entschieden gegen das neue Bürgerlichkeitsgeschwätz, schon wegen des notorischen Mangels an gutem Personal. Ferner stellt sich angesichts verstärkten Schneefalls von neuem die Flachdachfrage: Konservative Zeitungen plädieren fürs Spitzdach.

Welt, 31.01.2006

Auf den Forumsseiten warnt Geert Mak seine deutschen Freunde in einem offenen Brief vor dem "holländischen Fieber", das nach dem Mord an Theo van Gogh in den Niederlanden eine "beschämende Hetze" gegen Immigranten ausgelöst habe. Man dürfe so genannte "Ehrenmorde" und Frauenmisshandlung "niemals bagatellisieren, nur weil uns wohlmeinenden und toleranten Weltbürgern diese Diskussionen unangenehm sind. Wir reden so leicht über 'Familienzusammenführung', ohne uns klarzumachen, wieviel Zwang damit manchmal einhergeht. Wir klagen über 'Sprachrückstand', ohne zu begreifen, dass dieses Wort Gefangenschaft bedeutet, vor allem von Frauen, weil Lesen und Schreiben die Basis sind für jede Form von Kommunikation, Entfaltung und Freiheit." Mit Religion aber, so Mak, hat das wenig zu tun, sehr viel dagegen "mit dem schmerzhaften Aufeinanderprallen einer fast noch mittelalterlichen, ländlichen Kultur und dem Leben in einer postmodernen Stadt".

Im Feuilleton spricht der Historiker Gerd Koenen im Interview über den deutschen "Russland-Komplex", die "Luftnummer" Schröder-Putin und Andre Glucksmann, der nicht müde wird, die Politik Moskaus in Tschetschenien anzuprangern: "Das scheint mir weniger eine deutsche als eine französische Position, die eine lange Tradition seit 1789 und 1848 hat. Diese fundamentale Antiposition gegen Russland als Hort von Sklavengeist und Despotie fand man auf der deutschen Linken am deutlichsten ausgeprägt übrigens bei Marx und Engels. Ich teile die Vorstellung, dass Russland in seinem tiefsten Wesen unfähig zu einer modernen, zivilen, demokratischen Gesellschaft sei, jedenfalls nicht. Es gab sehr wohl entwickelte demokratische Traditionen in Russland vor 1917 - und es gibt sie auch heute wieder."

Weitere Artikel: Manfred Quiring berichtet, dass am Sonntag mit großem Werbeaufwand der erste von zehn Teilen einer neuen russischen Fernsehserie nach Alexander Solschenizyns Roman "Im ersten Kreis" gestartet ist. Matthias Heine hörte, wie der Regisseur David Lynch in Berlin beredt seine "Stiftung für Bewusstseinsbezogene Bildung und Weltfrieden" vorstellte: "Ihm selbst habe Meditation geholfen, seine Wut zu überwinden." Hanns-Georg Rodek meldet, dass der ungarische Filmregisseur Istvan Szabo als Student "mindestens 48 Spitzelberichte" für die Staatssicherheit geschrieben hat (mehr dazu in unserer Magazinrundschau). Chinas Zensur hat den Film "Geisha" verboten, berichtet Johnny Erling. Und Peter Dittmar erklärt, warum sich die Chinesen über das neue Jahr freuen: "Das Jahr des Hundes im Zeichen des Feuers gilt als eine ausgesprochen gute Kombination. Besonders nach dem Jahr des Hahnes in Verbindung mit dem Holz." Uta Baier schreibt den Nachruf auf den Künstler Nam June Paik. Abgedruckt ist ein Gedicht von Georg Heym: Der Winter.

Besprochen werden der Johnny-Cash-Film "Walk the Line", ein Konzert von Bushido in Berlin und zwei Theateraufführungen - die Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs "Auf der Greifswalder Straße" am Deutschen Theater und "Schändung. Nach dem Titus Andronicus von Shakespeare" von Botho Strauß im Berliner Ensemble.

NZZ, 31.01.2006

Christian Gasser resümiert das 33. Internationale Comic-Festival von Angouleme. Dort entdeckte er in einer Werkschau den außerhalb Japans noch kaum veröffentlichten "Ausnahmekönner" Kotobuki Shiriagari, "dessen verwirrende Vielseitigkeit alle Konventionen unterläuft und die Unterscheidung zwischen Mainstream, Autoren-Comic und Underground hinfällig macht. In seiner Heimat ist Shiriagari vor allem dank seiner satirischen Strips in der Tageszeitung Asahi Shimbun (Auflage: 12,5 Millionen) berühmt, doch veröffentlicht er viele Arbeiten auch im Underground-Magazin AX (Auflage: 5000). In seinem berühmtesten Comic-Roman 'Yaji-Kita in Deep' schickt er zwei schwule und drogensüchtige Samurais auf eine Odyssee durch Japan, in welcher sich Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Mythologie zu irrwitzigen Albträumen verbinden."

Weiteres: Samuel Herzog schreibt zum Tod des koreanischen Videokünstlers Nam June Paik. Besprochen werden Mozartopern in Salzburg, Wien und Graz und Bücher, darunter ein Band von Hans Küng über den "Anfang aller Dinge" und Edgardo Vega Yunques Roman "Eine Geschichte von Liebe und Tod" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 31.01.2006

In der Berliner Zeitung zeigt Musikkritiker Wolfgang Fuhrmann, was eine Harke ist, und rechnet mit dem Pianisten Martin Stadtfeld ab, der neulich noch als Hoffnung der deutschen Musikwelt galt. Anlass ist ein Berliner Konzert, in dem Stadtfeld ein Klavierkonzert Mozarts spielte: "Stadtfeld nimmt kurze Noten so spitz wie das Küsschen, das die Honoratiorengattin ihrem Dackel gibt."
Stichwörter: Musikkritik

FAZ, 31.01.2006

Jürgen Kaube kommentiert den Streit um eine Berliner Schule, die Deutsch als Pausenhofsprache eingeführt hat. Andreas Kilb berichtet über ein Berliner Symposion, das sich mit der "Literarischen Kritik der ökonomischen Kultur" befasste. Mit Schrecken vernahm er die Rezitationen über die vom Kapitalismus ausgelaugten "Restmenschen", in deren künstlerischer Aufbereitung er eine der vornehmsten Funktionen von Literatur erblickt: "Die Marktverschiebungen, die Standortwechsel fordern ihre Opfer, doch wir, persönlich unbetroffen, kennen sie nicht. Das lässt sich beheben, zum Beispiel durch Lektüre." In der Leitglosse plädiert "bat." für das Spitzdach in nördlichen Kulturen, besonders bei Schnee. Niklas Maak schreibt zum Tod von Nam June Paik. Jürgen Tietz annonciert den Umbau des Berliner "Schoeler-Schlösschens", welches die Bibliothek Johannes Raus bergen soll. Und Katja Gelinsky berichtet über Diskussionen unter prominenten Juristen der USA über die Frage, wie weit die Befugnisse des Präsidenten in Krisenzeiten eigentlich reichen sollen.

Auf der Medienseite schildert Dirk Schümer eindringlich Silvio Berlusconis "mediatischen Amoklauf" durch sämtliche Privat- und Staatsmedien in seinem Besitz im Hinblick auf die Wahlen im April: "Längst geben Soziologen zu bedenken, dass Berlusconis Allgegenwart den Ekel der Italiener erregen und seine Wahlchancen verringern wird. Mit seinem Dauerkampf, der täglichen Verhöhnung seiner Kontrahenten zur besten Sendezeit rückt er die eigentlich zerstrittene und bemerkenswert unfähige Opposition ins Licht von Opfergestalten und stärkt sie wahrscheinlich nur." Karen Krüger fasst die Ereignisse des FIPA-Fernsehfestivals in Biarritz zusammen.

Auf der letzten Seite resümiert Tilman Spreckelsen das Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken. Dirk Schümer stellt ein Gesetz Silvio Berlusconis vor, dass es bedrängten Hausbesitzern künftig erlaubt, sich mit der Waffe zu verteidigen. Und Jürgen Altwegg porträtiert den greisen Schriftsteller und Politiker Aime Cesaire aus dem französischen Übersee-Departement Martinique, der half, einen nationalen Gedenktag für die Opfer des Kolonialismus durchzusetzen.

Besprochen werden eine Ausstellung über Enzyklopädien der frühen Neuzeit in Leipzig, Eugene d'Alberts Oper "Tiefland" in Duisburg, Kleists "Zerbrochener Krug" in der Inszenierung Alexander Langs am Berliner Gorki-Theater, eine Mozart-CD mit Anne-Sophie Mutter und eine Hommage des Stuttgarter Balletts an den Choreografen Glen Tetley.

TAZ, 31.01.2006

Der Filmregisseur Rolf Peter Kahl erklärt Aljoscha Wescott, auf was es ihm bei seinen melancholischen Porträts der "Mädchen am Sonntag" ankam. "Sie sind nicht geschminkt, es gibt auch kein Superlicht, das ausgleichen könnte. Alles andere hätte wieder eine typische TV-Optik hergestellt, die Wirklichkeit und Ehrlichkeit suggeriert. So hat man ein bisschen Abstand, und die Frauen sind ein bisschen geschützt durch den Schleier der entsättigten Farben. Dadurch entsteht eine andere, vielleicht prosaische Bildhaftigkeit. Dieses semiprofessionelle Drehen hat für mich Dinge wieder freigelegt, die ich ansonsten gar nicht entdeckt hätte: etwa die Verspieltheit der kleinen Gesten, wie bei Godard in seinen frühen Filmen, als er noch nicht so viel nachgedacht hat. Wie wird geraucht etc."

Jan Engelmann entzieht dem Neo-Bürgertum den sozialwissenschaftlichen Boden. Nicht um soziale Identitäten gehe es hier, sondern um bloße "Lebensstilaussagen". Martin Zeyn schreibt zum Tod des Video- und Installationskünstlers Nam June Paik. Georg Blume weiß von drei prominenten Zensurfällen in China, darunter Ang Lees "Brokeback Mountain". Auf der Medienseite berichtet Gabriele Lesser, dass in Polen jetzt ein Gericht die Befugnisse des mächtigen Rundfunkrats überprüft.

In der zweiten taz denkt Michael Braun über Berlusconis Keuschheitsgelübde vor der Wahl nach, während Michael Aust sich dem grassierenden Phänomen der Fernbeziehung widmet.

Und Tom.

FR, 31.01.2006

Elke Buhr schreibt zum Tod von Nam June Paik: "Eines seiner bekanntesten Werke ist der TV-Buddha von 1974. Eine klassische Buddha-Statue sitzt in Meditationshaltung vor einem Fernseher, auf der wiederum das Bild des Buddhas zu sehen ist: Unendlichkeit und ewige Wiederkehr, visualisiert mit Hilfe des Mediums, das gemeinhin als das flüchtigste und hektischste von allen gilt."

In Times mager geht Harry Nutt übers Eis. Rüdiger Suchsland resümiert das Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken. Besprochen wird Michael Hanekes Inszenierung von Mozarts "Don Giovanni" in Paris.

SZ, 31.01.2006

Mark Fisher sorgt sich in einem aus dem Guardian entnommenen Artikel um die archäologischen Kunstschätze des Irak, die weiter geraubt, verkauft oder ganz offiziell zerstört werden. "Babylon und Ur wurden von Truppen der Koalition beschlagnahmt, die innerhalb der antiken Stätten Militärlager errichten. In Babylon planierten die US-Streitkräfte eine Fläche von 300 000 Quadratmetern neben einem griechischen Theater für Alexander von Mazedonien, bedeckten das Gebiet mit Kies und 'verdichteten' es, um Parkplätze zu schaffen. Ein Dutzend Gräben, jeder bis zu 170 Meter lang, wurden durch die Grabungsstätten gezogen und zerstörten alle Funde, die man dort noch hätte machen können. Im Herzen des antiken Babylon wurde ein Hubschrauberlandeplatz errichtet."

Das Bürgertum wird nicht wieder auferstehen, auch wenn es noch so sehr beschworen wird, lehrt Jens Bisky. "Für eine bürgerliche Existenz, die den Namen verdiente, sind unsere Wohnungen zu klein und Dienstboten zu teuer. Es gehört zu den verklemmten Seiten des Bürgerlichkeitsgeschwätzes, dass es darüber meist schweigt. Die Ermordung der deutschen Juden, die Zerstörung der Städte durch Bombenkrieg und Wiederaufbau, Massenproduktion, Fernsehen, Berufstätigkeit der Frauen - all das hat dazu beigetragen, dass die Welt des Bürgertums für uns eine Welt von gestern ist. Statt dies zu bedenken, gefällt man sich in Angriffen auf die Achtundsechziger, als hätte es davon noch nicht genug gegeben, als hätten diese mehr geliefert als ideologische Begleitmusik zur Ankunft in der nivellierten Welt der Mittelschicht."

Weitere Artikel: Holger Liebs schreibt zum Tod des Videokünstlers Nam June Paik. Hans Schifferle wittert bei Gewinnern des Ophüls-Filmpreises in Saarbrücken überall Verunsicherung. skoh meldet, dass eines der letzten bedeutenden Porträts von Vincent van Gogh nun unter den Hammer kommt, das Bild der Gastwirtin Marie Ginoux. Im Literaturteil fasst Ijoma Mangold eine Tagung im Zentrum für Literaturforschung Berlin zusammen, auf der Schriftsteller die Kritik der Ökonomie in der Literatur erörterten. Claus Heinrich Meyer findet eine Zwischenzeit, in der er sich um nichtlesende Büchererben Sorgen machen kann.

Besprochen werden eine Schau mit Installationen des polnischen Künstlers Robert Kusmirowski im Hamburger Kunstverein, Jürgen Goschs mehr "boulevard- als wundergläubige" Erstinszenierung von Roland Schimmelpfennigs "Auf der Greifswalder Straße" am Deutschen Theater Berlin, die Uraufführung von Christian Josts Chor-Oper "Angst" beim Berliner Ultraschall-Festival, Dziga Vertovs film maudit "Entuziazm" auf DVD, und Bücher, Hartmut Langers Novelle "Der Wanderer" und Andreas Kosserts Geschichte Ostpreußens als "Fabel für Zeitgenossen" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).