Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.06.2006. Im Tagesspiegel fordert Bora Cosic Gerechtigkeit für Serbien, statt für Handke. In der Berliner Zeitung erklärt der Antiwerbungsaktivist Kalle Lasn, was "Mental Environmentalism" ist. In der Welt singt Thomas Brussig ein Loblied auf den letzten Rumpelfüßler des deutschen Fußballs: Gerald Asamoah. Die taz fragt: Warum verdrängte Freud die Sexualität der Aale?

Tagesspiegel, 03.06.2006

Dem Dichter Peter Handke steht der Heine-Preis nicht zu, schreibt der serbische Schriftsteller Bora Cosic. "Wenn jemand Gerechtigkeit für Handke fordert, muss er zuerst Gerechtigkeit für Serbien fordern, um es vor falschen Anwälten zu schützen. Denn wie er dieses Land vertritt, ist beleidigend. Serbien ist kein bedürftiges Gebiet voll armer, dumpfer und rückständiger Leute, sondern eine Gegend, die der Welt in den letzten hundert Jahren ihre Dichter, ihre avantgardistische Kunst und ihre geistvollen Persönlichkeiten geschenkt hat. Es gibt dort viele offene Gegner des Regimes, es ist genau das Land, auf das sich auch die junge Autorin Biljana Srbljanovic beruft. Dieses andere Serbien müsste vor dem heutigen Ehrengericht, vor dem Peter Handke steht, in den Zeugenstand treten."

Und Marius Meller ärgert sich zwar maßlos über die "widerwärtige" Verteidigung Handkes durch Botho Strauß in der FAZ. "Aber im Grunde kann man das alles als Erfolgssymptom der liberalen Gesellschaft diagnostizieren: Heutzutage fühlen sich in Deutschland Dichter, die einen Preis nicht bekommen, schon verfolgt."

Berliner Zeitung, 03.06.2006

Ernestine von der Osten-Sacken interviewt den kanadischen Antiwerbungsaktivisten Kalle Lasn (mehr hier), der uns einen "Mental Environmentalism" ansagt: "Wir stehen am Anfang einer mentalen Umweltbewegung. Immer mehr Menschen erkennen, dass die Dauerberieselung, die uns über den Computer, den Fernseher und andere Medienkanäle begegnet, Stress verursacht und Gemütserkrankungen nach sich ziehen kann. Sie beginnen, ihre 'geistige Kost' genauer zu analysieren. Tausende von Marketingbotschaften dringen täglich in unsere Hirne ein, ob wir es wollen oder nicht. Das macht uns krank. Die Weltgesundheitsorganisation sagt voraus, dass in knapp 15 Jahren psychische Krankheiten verbreiteter sein werden als Herzerkrankungen."
Stichwörter: Ernestiner

Presse, 03.06.2006

Anne-Catherine Simon berichtet über die Plagiatsvorwürfe gegen Feridun Zaimoglu. Eine "noch nicht fertige Studie aus dem universitären Bereich, deren Urheber nicht genannt werden möchte" behauptete, es gebe zahlreiche inhaltliche Ähnlichkeiten seines Romans "Leyla" mit Emine Sevgi Özdamars 1992 erschienenen Roman "Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen kam ich raus". Simon nennt nun den Namen des Verfassers dieser Studie: "Wie Die Presse erfuhr, handelt es sich um die Münchner Germanistin Maria Brunner. Ihr Schwerpunkt: Migrationsliteratur, etwa das Werk von Emine Sevgi Özdamar."

Norbert Mayer ist hin und weg von Jürgen Goschs Inszenierung des Eheklassikers "Wer hat Angst vor Virginia Woolf" bei den Wiener Festwochen.

Welt, 03.06.2006

"Haben wir denn keinen echten Rumpelfüßler mehr, einen, der sich durch deutsche Tugenden auszeichnet und der Welt das zeigen wird, was von einem deutschen Spieler erwartet wird?", fragt der Schriftsteller Thomas Brussig in der Literarischen Welt und weiß natürlich auch die Antwort: "Doch: Gerald Asamoah! Spielt er von Anbeginn mit, ist er immer der erste, dessen Trikot verschwitzt ist. An seinem Kinn hängt immer ein Schweißtropfen. Und vor allem: Er spielt nicht, sondern wühlt und rennt und kämpft und tritt. Bälle zurückerobern, das kann er - indem er sich in den Gegner verbeißt, immer zwei, drei Schritte mehr rennt und dahin kloppt, säbelt und grätscht, wo eben noch der Ball war."

Weitere Artikel in der führenden Samstagsbeilage: Der ungarische Autor Peter Zilahy tritt dichterisch-fußballerisch gegen Thomas Brussig an und gewinnt. Rainer Moritz bespricht neue Fußballbücher. Daniel Jonah Goldhagen kritisiert die Auschwitz-Rede Benedikts XVI. Ruth Klüger bespricht Lenka Reinerovas Hommage an das "Närrische Prag". Und Marko Martin liest Jorge Edwards' Abrechnung mit Kuba "Persona non grata". Im "Klartext" greift Tilman Krause nochmal die Sache Heine-Preis für Handke auf und schimpft anders als die Kritikerkollegen nicht auf die Politiker, sondern wundert sich über eine Jury, die ausgerechnet einem Handke ausgerechnet einen Heine-Preis zuerkennen wollte.

Im Kulturteil erinnert Michael Pilz an Josephine Baker, die in diesen Tagen hundert Jahre alt geworden wäre. Lothar Schmidt meldet, dass Picassos Gemälde "Guernica" nie wieder reisen soll. Elmar Krekeler bedauert, dass in den letzten Tagen der Ruf Handkes aber auch des Heine-Preises beschädigt wurde. Nur gemeldet wird leider, dass Wolfgang Thierse nach dem Text der geplanten Föderalismusreform einen Staatsminister für Kultur und eine Bundeskulturpolitik für verfassungswidrig hält. Einige Artikel widmen sich dem Kunstmarkt.

NZZ, 03.06.2006

In der Beilage Literatur und Kunst erklärt Peter von Matt, warum Theodor Fontane die 1872 erschienenen "Sieben Legenden" von Gottfried Keller verabscheute. Besprochen werden die "Caspar David Friedrich"-Ausstellung in Essen und Bücher, darunter eine Neuübersetzung von Rudyard Kiplings "Indischen Geschichten", ein Band von Rabindranath Tagore und Vikram Seths Textcollage "Zwei Leben" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im Feuilleton informiert Joachim Güntner über die Plagiatsvorwürfe gegen Feridun Zaimoglu. Und Thomas Leuchtenmüller schreibt zum 100. Geburtstag von Josephine Baker. Besprochen werden die neue Dauerausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin und Constantin Costa-Gavras' Filmsatire "Le couperet".

SZ, 03.06.2006

Sehr pfingstlich gestimmt, befasst sich Joachim Kaiser die ganze erste Seite lang mit dem Phänomen der "Tiefe" in der Kunst. Er zitiert ausführlich Valery und kommt dann zum folgenden Ergebnis: "Die noch so rätselreiche bodenlose Unbegrenztheit muss, um als solche wirken zu können, ganz zuletzt doch eingefangen, überwölbt sein von bindender Form. Sonst verliert sich Tiefe in verhallende Konfusion. (...) Der Heilige Geist, zu Pfingsten kalendermäßig im Dienst, muss sich schon heftig anstrengen, um uns armen Erdenbürgern die Aufnahme-Kraft und die Erlebnisfähigkeit einzublasen für solche Wunder."

Im Interview spricht der Filmregisseur und Künstler Peter Greenaway (Wikipedia) über seine Installation "Nightwatching" - und über Rembrandt, um den es dabei geht, dessen Kunst er aber nicht besonders mag: "Es ist ziemlich prahlerisch, das wirkt alles wie Hollywood."

Weitere Artikel: Dirk Peitz bietet eine "Langzeitbeobachtung" der gerade sehr gefeierten französischen Popband Phoenix. Christopher Schmidt hat sich ins Land der "Bodenschätze des Theaters" begeben, zum Festival im norwegischen Bergen. Hans-Jörg Heims berichtet aus Düsseldorf, dass man sich dort jetzt über die Zukunft des Heinrich-Heine-Preises Gedanken macht. Jens Bisky informiert, dass die beschlossene Föderalismusreform den Kulturstaatsminister nicht nur überflüssig, sondern auch verfassungswidrig machen könnte.

Besprochen wird die Uraufführung von Franz Xaver Kroetz' "Tänzerinnen & Drücker" am Münchner Marstall in Regie des Autors. Auf der Literaturseite finden sich Rezensionen zu Charles Lewinskys Roman "Melnitz", zum Protokoll des "Literarischen Quartetts" ("ernüchternd") und zu einem Buch über Georg Christoph Lichtenberg als Experimentalphysiker (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende macht sich Kurt Kister unter dem Titel "Die Katze" Gedanken zum Politikstil der Angela Merkel: "Auch wenn man immer noch nicht recht weiß, was die Frau eigentlich will im Kanzleramt, denn außer dass auch sie da hinein wollte, ist sie deutlich anders als ihr Vorgänger. Das Merkel-Gefühl wird immer noch bestimmt von der heute deutlichen Ablehnung der Politik, aber mehr noch des Stils der Regierung Schröder sowie der Person des Kanzlers."

Weitere Artikel: Abgedruckt wird eine Erzählung mit dem Titel "Zwergenidyll" der Autorin Karen Duve. Willi Winkler war zu Besuch beim Musiker Paul Simon. Nora von Westphalen gratuliert dem Ritz Hotel in London zum 100. Geburtstag. Auf der Historien-Seite erinnert Rudolph Chimelli an die Hassliebe Stalins zum Hollywoodkino und seinen Stars. In der Reihe "Es war einmal" geht es um Julian, den letzten heidnischen Kaiser des römischen Imperiums. Im Interview sprechen der Jesuit Georg Sporschill und der Ex-Jesuit und jetzige evangelische Pastor Wolfgang Feneberg über den zu rehabilitierenden Judas: "Sein Bild ist die systematisch ungerechte Verzerrung eines im guten Glauben Gescheiterten. Judas war sozusagen der erste Sozialarbeiter."

TAZ, 03.06.2006

Im taz mag schreibt Dietmar Bartz über die Forschungen des jungen Sigmund Freud zur Sexualität der Aale: "Am Anfang war der Aal. Ganz zu Beginn seiner Karriere hat Sigmund Freud, der Vater der Psychoanalyse, intensiv nach den Hoden des rätselhaften Fisches gesucht. (...) Aber kaum befand sich sein Aufsatz mit den Forschungsergebnissen in Druck, wollte Freud nichts mehr davon wissen."

Christian Semler hat sich die neue Präsentation des Deutschen Historischen Museums (Website) angesehen. Seine Bedenken gelten dabei nicht dem Inhalt, sondern der Präsentation: "Trotz des riesigen Platzangebots wirkt die Ausstellung jedoch gedrängt. Die Exponate sind fast durchgängig in massiven Vitrinen untergebracht, statt Transparenz ist das Ergebnis oft Abschottung. Die Aura, die gerade von den bedeutenden originalen Artefakten ausgeht, wird durch diese aquariumsähnliche Präsentation gemindert. "

Weitere Artikel: Gerrit Bartels kommentiert kurz den Austritt Sigrid Löfflers und Jean-Pierre Lefebvre aus der Heinrich-Heine-Preis-Jury: "Zu vermuten ist, dass es den Heinrich-Heine-Preis, so wie man ihn bisher kannte, in Zukunft nicht mehr geben wird." Kirsten Riesselmann erinnert sich in der "dream team"-Serie an die vorletzte EM.

Besprochen werden die Retrospektive der Künstlerin Jutta Koether unter dem Titel "Fantasia Colonia" in Köln, Sören Senns Langfilmdebüt "KussKuss" und die neue CD der Sportfreunde Stiller.

In der zweiten taz widmet sich Barbara Dribbusch dem Thema Langzeitpartnerschaften und den Ratgebern, die bei auftretenden Problemen helfen solle. Außerdem wird berichtet, dass es erstens dem Kormoran an den Kragen geht und zweitens dem CDU-Politiker Oliver Wittke, der in einer Landtagssitzung Panini-Fußballbilder einklebte. Weitere Artikel: Abgedruckt werden Auszüge aus dem Buch "Schnittpunkt Sarajewo" des taz-Korrespondenten Erich Rathfelder. Cornelia Kurth porträtiert den Agraringenieur Michael Grolm und seinen Kampf gegen die Gentechnik. Rezensionen sind unter Vikram Seths Roman "Zwei Leben", Mirko Bonnes Roman "Der eiskalte Himmel" und neuen Fußballbüchern gewidmet. (Mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 03.06.2006

Harry Nutt begutachtet die neu eröffnete Ausstellung des Deutschen Historischen Museums (Website) und zeigt sich sehr angetan: "Die opulente Sammlung des DHM, die durch mehr als 300 Objekte von rund 150 Leihgebern ergänzt worden ist, enthält Prunkstücke, aber sie trumpft nicht auf. Ordnen, kontextualisieren, Sprünge sichtbar machen: Die Ausstellungsmacher haben auf angenehme Weise davon abgesehen, dem Besucher ein museumspädagogisches Über-Ich an die Seite zu stellen."

Weitere Artikel: Ina Hartwig übermittelt ihre Eindrücke vom neu eröffneten Marbacher Literaturmuseum der Moderne. In ihrer Plat-du-Jour-Kolumne informiert Martina Meister über den, nicht zuletzt angesichts von Sofia Coppolas neuem Film "Marie Antoinette", ausgebrochenen Royalismus in Frankreich. Sylvia Staude erinnert an Josephine Baker, die heute hundert geworden wäre. Vom Mülheimer Dramenwettbewerb, bei dem Rene Polleschs "Cappuccetto Rosso" siegte und Elfriede Jelinek "ihr eigenes Referenzsystem fickte", berichtet Stefan Keim. Stephan Hebel war bei einer Frankfurter Tagung über den "Anderen als Sicherheitsrisiko" zugegen.

FAZ, 03.06.2006

Mark Siemons staunt über die Zielgerichtetheit der auswärtigen Kulturpolitik Chinas und vergleicht sie mit der deutschen Ideenlosigkeit. In der Leitglosse mokiert sich Andreas Kilb über Lea Rosh und Ralph Giordano, die gern die Breker-Statuen im Berliner Olympiastadion entsorgen würden. Sabine Löhr verfolgte in Berlin eine temperamentvolle Debatte über Religion in Indien: "Da krachten Fäuste auf Tische, flogen Kugelschreiber und Brillen." Wolfgang Kemp schreibt in der Reihe zum Marbacher Literaturmuseum über eine kurze "note" von Greta Garbo an Salka Viertel. Jürg Altwegg wirft einen Blick in französische Zeitschriften und stellt fest, dass die hämischen Attacken auf Bernard-Henri Levy gerade einen Höhepunkt erleben. C.B. informiert uns über die Rückkehr eines Porträts der Herzogin Eleonora von Toledo nach Berlin.

Auf den Seiten der ehemaligen Tiefdruckbeilage schreibt Hartmut Scheible über den Unterschied zwischen Casanova und Mozarts "Don Giovanni". Und Andrea Breth, die gerade am Burgtheater den "Wallenstein" inszeniert, berichtet von ihrem Briefwechsel mit Schiller: "Schiller schrieb, dass sich das Publikum bei der Uraufführung in Weimar über das 'Lager' am meisten freute und amüsierte, 'Wallensteins Tod' hingegen stieß auf heftigste Kritik. Es sei zu fatalistisch, zutiefst deprimierend, finster. Ich schrieb ihm zu seiner großen Bestürzung, daß es heute genau umgekehrt sei."

Besprochen werden die Uraufführung von Franz Xaver Kroetz' "Tänzerinnen + Drücker. TV-Massaker" in München (ziemlich billige Medienkritik, findet Gerhard Stadelmaier), eine Ausstellung über die Bespitzelung Josephine Bakers durch das FBI im Deutschen Tanzarchiv in Köln (hier die FBI-Akten), eine Ausstellung zur "Rhetorik des Gefühls" im Münchner Lenbachhaus, die Uraufführung von Zoran Drvenkars "Cengiz & Locke" am Berliner Grips Theater, Sören Senns Film "KussKuss", der Disneyfilm "Tierisch wild" und Bücher, darunter die ersten Bände einer neuhochdeutschen Übersetzung des "Prosalancelot" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Schallplatten- und Phono-Seite geht's um die wahren Nachfolger von Afrika Bambaataa, Gnarls Barkley, denen Jonathan Fischer eine Liebeserklärung macht, weiter um das Album "Monsieur Gainsbourg", laut Tilmann Spreckelsen "furios" eröffnet von Franz Ferdinand und Jane Birkin, eine Aufnahme von George Enescus Oper "Oedipe", Ergänzungen von Mozarts unvollendetem Requiem und eine Country-CD von Jenny Lewis.

In der Frankfurter Anthologie stellt Jochen Hieber ein Fußballsonett von Ludwig Harig vor:

"Verdrängungswettbewerb! So meldet es die Zeitung.
Ein starkes Team muß her mit Mut und Tatendrang,
das Kämpfen Mann für Mann, das Zieh'n am gleichen Strang.
..."