Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.06.2006. Die SZ begutachtet "Moorhexen, selbstgenäht" beim Leipziger Wave-Gothic-Treffen. In der Welt wehrt sich Matthias Matussek gegen den Vorwurf, Nationalist zu sein. Die FAZ betrachtet als Vorhut der Badelatschentouristen die Picasso-Ausstellung in Madrid. Und Handke ist immer noch nicht vorbei: Die FR hält die Handkespaltung für unüberwindbar. In der SZ erinnert Julian Nida-Rümelin daran, dass der Heine-Preis nur von Politikern vergeben werden darf.

NZZ, 07.06.2006

Roman Bucheli fühlt sich wie an Weihnachten, wenn er das Marbacher Literaturmuseum der Moderne mit seiner "gewöhnungsbedürftigen" aber gelungenen Dauerausstellung betritt. Uwe Justus Wenzel trommelt für die Initiative "Pro Geisteswissenschaften", die stattliche nichtstaatliche Stipendien an Nachwuchsforscher vergibt (hier kann man sich bewerben).

Marianne Zelger-Vogt hat sich sehr vergnügt auf dem Glyndebourne Festival, was sowohl der hervorragenden "Cosi fan tutte"-Inszenierung als auch dem idyllischen Landsitz der Familie Christie im östlichen Sussex zuzuschreiben ist. Besprochen werden außerdem Kinder- und Jugendbücher, darunter Beate Döllings Erzählung "Anpfiff für Ella" sowie Zoran Drvenkars und Gregor Tessnows Jugendthriller "Wenn die Kugel zur Sonne wird" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 07.06.2006

Jan-Hendrik Wulf diskutiert das Reformpapier des Goethe-Generalsekretärs Hans-Georg Knopp zu einer Neuorientierung der auswärtigen Kulturarbeit in Richtung Fernost. Schließungen will dabei keiner. "Unvergessen sind die desaströsen Begleitumstände der Aufgabe des Instituts von Reykjavik 1998: Als Zeichen des Protests versenkten Einheimische damals eine Goethe-Statue in den eisigen Fluten des Atlantiks. Vor allem im Außenministerium will man weiteren Aufruhr dieser Art wohl lieber vermeiden. Hauptsache, das Türschild bleibt hängen. Aus dem Goethe-Institut heißt es dagegen, dass aufgrund fehlender Projektmittel in einigen Instituten bereits Leerlauf herrsche. Zurzeit sind das Goethe-Institut und die Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes über Knopps Reformkonzept noch heillos zerstritten."

Weiteres: In der Kolumne "dream team" liest die Künstlerin Gloria Zein Gustav Schwabs "Troja"-Nacherzählung als Fußball-Heldenepos. Besprochen werden die Ausstellung "Humanism in China" im Frankfurter Museum für Moderne Kunst, die Hunderte von unzensierten Dokumentarfotos aus China zeigt, und der neue Erzählband "Sweet Land Stories" von E. L. Doctorow. (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Und hier Tom.

Welt, 07.06.2006

Matthias Matussek, Kulturchef des Spiegels, wehrt sich im Interview gegen einen Artikel in der gestrigen Süddeutschen, wonach er Handelsblatt-Vize Roland Tichy nach einem Streit im ARD-Presseclub "hart am Oberarm angepackt und gegen den Tisch gedrückt" habe. Auslöser war der Vorwurf von Tichy, Matussek predige in seinem neuen Buch einen "engstirnigen Nationalismus". Alles eine große Verleumdungskampagne, so Matussek: "Die 'Presseclub'-Sendung zeigt: Es gibt immer noch die politisch korrekte Kamarilla a la Tichy, die wie eine Betonplatte auf den Diskursen in unserem Land liegt und alles kaputthaut, was einen fröhlicheren, unkonventionellen Gedanken riskiert."

Weitere Artikel: Uwe Wittstock schreibt zur Eröffnung des neuen Literaturmuseums der Moderne in Marbach. Konrad Adam erinnert an den vor zwanzig Jahren ausgebrochenen Historikerstreit: "Auch er wird ein Opfer der Historisierung werden." (Vielleicht sollte er nochmal den Text von Götz Aly in der Zeit lesen?) Hendrik Werner berichtet über die Plagiatsvorwürfe gegen Feridun Zaimoglu. Und Manuel Brug bewundert den "Lohengrin", den Nikolaus Lehnhoff und Kent Nagano bei den Festspielen Baden-Baden aufgeführt haben. "Nordische Härte mit mediterranem Schimmer."

FR, 07.06.2006

Unter der Überschrift "Die Handkespaltung" kommentiert Ina Hartwig die Beinahe-Verleihung des Heinrich-Heine-Preises an Peter Handke, die inzwischen wieder offen ist. "Handke kurz nach seinem Auftritt am Grab Milosevics ausgerechnet mit dem Heinrich-Heine-Preis auszeichnen zu wollen, kann man nur als bewusste Herausforderung der Öffentlichkeit, als gezielte Provokation begreifen. Nun, beides ist geglückt. Aber das Ziel, aus den zwei Handkes - dem großen Bezwinger der Stille einerseits und dem idiosynkratischen Anwalt der Serben andererseits - einen zu machen, wie die Zeit treffend polemisierte, ist gründlich schiefgegangen. (...) Gerade wer Handkes literarischen Rang erkennt und anerkennt, fühlt sich seit einem Jahrzehnt in schöner Regelmäßigkeit düpiert. Mit der schwülstigen Melange aus Weltgeschichte, Gerechtigkeitsfuror und Situationsmystik am Grab des Nationalisten Milosevic ist nun eine neue Qualität erreicht. Nicht Ächtung droht Handke, wie seine Verlegerin fürchtet, sondern die Resignation seiner Bewunderer."

Weitere Artikel: Martina Meister berichtet über die radikale Verkleinerung der Bibliothek des Pariser Goethe-Instituts. Und in Times mager diagnostiziert Peter Michalzik das derzeit einzige deutsche Problem: "Problemmatthias" Matussek.

Besprochen werden eine Ausstellung in der Münchner Pinakothek der Moderne zur Geschichte der Sportarenen und Bücher, nämlich Regine Igels Abhandlung über "Terrorjahre" und die italienische Sektion der CIA, Ralph Gadbans kritisches Buch über "Tariq Ramadan und die Islamisierung Europas" sowie eine Studie zur Zukunft des Klimas (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 07.06.2006

Unter der hübschen Überschrift "Moorhexe, selbstgenäht" beschreibt Burkhard Müller den Selbstversuch eines Besuchs des Leipziger Wave-Gothic-Treffens. "Am Ende eines langen Tages hat man gelernt, unter allen Skurrilitäten den Grundzug im Willen zur gänzlich unbrauchbaren Schönheit zu erkennen. Das allein genügt schon, um selbst den weniger spektakulären Kostümen die Anmutung des Erotischen zu verleihen. (...) Nach einem Tag auf dem WGT wirkt der gewöhnliche Leipziger, wie er einkauft oder seinen Hund ausführt, farblos und generell vernachlässigt."

Und nochmal Peter Handke: Der Schriftsteller Volker Braun verteidigt Peter Handke als einen, der sich "der elementaren Aufgabe stellte, den Frieden zu denken".

Auf der zweiten Politikseite erklärt Julian Nida-Rümelin die Konsequenzen, die man aus dem Handke-Streit ziehen müsse: "Wenn die Stadt einen Preis vergibt, dann ist dafür in letzter Instanz der Stadtrat als oberstes Entscheidungsorgan verantwortlich ... Der Einsatz von Steuermitteln muss von denen verantwortet werden, die man zur Rechenschaft ziehen kann, die abwählbar sind. Ohne eine solche kulturpolitische Letztverantwortung wird Kulturförderung in der Demokratie illegitim." Jurys sollten sich daher grundsätzlich als Berater, nicht als Entscheider verstehen.

Weitere Artikel im Feuilleton: Abgedruckt ist ein Interview aus dem Katalog zur großen Thomas-Demand-Ausstellung in der Londoner Serpentine Gallery: Alexander Kluge spricht mit Demand über dessen Fotografie "Grotte". Angela Köckritz informiert über den Boom des Asia-Kinos. Andrian Kreye beschreibt, wie prominente Festredner die Abschlussfeiern amerikanischer Eliteuniversitäten zur Eigenwerbung nutzen. Alexander Menden konstatiert eine Renaissance des Utilitarismus bei den Beratern von Tony Blair. Ralf Dombrowski resümiert das 35. Jazz-Festival in Moers. Martin Reischke beschreibt die Versuche des Berliner Kultursenators Thomas Flierl, Hartz-IV-Empfänger für Hochkultur zu erwärmen. Charlotte Frank berichtet von einer Berliner Tagung über die Ausbildungsqualität von Juristen.

Besprochen werden Schostakowitschs Oper "Lady Macbeth des Mzensker Landkreises" in Amsterdam, ein Konzert der Münchner Philharmoniker mit Brahms und Schumann sowie Bücher, darunter die Briefwechsel von Gottfried Benn mit Ernst Jünger und seinem Verleger Max Niedermayer. (siehe dazu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

FAZ, 07.06.2006

So viel Picasso wie seit 1981 nicht mehr ist diesen Sommer in den beiden Madrider Museen Reina Sofia und dem Prado versammelt. Die andauernden Hinweise auf die Inspirationsquellen Picassos werden dem Kenner Paul Ingendaay zwar manchmal lästig, er hofft aber auf einen pädagogischen Effekt für normale Kunstgenießer. "Ganz ohne Zweifel sind die Werke, um die es dabei geht, von so fabelhafter Qualität, dass der Versuch, ein paar kräftige Linien durch die Kunstgeschichte der letzten vierhundert Jahre zu ziehen, gerechtfertigt erscheint. Hier Tizians 'Dolorosa', dort Picassos 'Weinende Frau mit Taschentuch III'. Hier Goyas 'Nackte Maja', dort Picassos 'Liegender Akt' (1964) aus dem Kunsthaus Zürich. So, mit dem dicken Pinsel, könnte die Schau es sogar schaffen, auch einem fahrigen Publikum in Sommerlatschen, das in den kommenden heißen Monaten durch den Prado zieht, die Dialektik von Tradition und Traditionsbruch verständlich zu machen."

Weiteres: Christian Schwägerl setzt die Familienserie mit einem Hinweis auf die Frauen als Globalisierungsgewinner fort. Nach einer siebenstündigen und für das englische Oberhaus "ungewohnt emotionalen" Diskussion ist die Liberalisierung der Sterbehilfe in Großbritannien erstmal vom Tisch, weiß Oliver Tolmein. Der israelische Schriftsteller Avraham B. Jehoschua hat den Mitgliedern des American Jewish Committee eine mangelnden Bezug zu Israel vorgeworfen, berichtet Joseph Croitoru. Richard Kämmerlings beginnt etwas spät mit dem Sammeln von Panini-Fußballbildern. Andreas Rossmann ist am Pfingstsonntag mit den anderen Teilnehmern des Literatur- und Musikfests "Wege durch das Land" zum Übersetzer Christopher Middleton in den Teutoburger Wald gepilgert. Reinhards Seiss beschreibt den Wiener Ärger um das geplante Fußballstadion. Frank Pergande resümiert eine Diskussion zum Nordstaat in Kiel, der nach dem Vorschlag von Henning Voscherau "Angelsachsen" heißen könnte. Tilman Spreckelsen schreibt zum Tod des Kinderbuchautors Frederik Hetman.

Auf der Medienseite besichtigt Olaf Sundermeyer Anstrengungen des exklusiven Fußball-Vermarkters Bertelsmann. Und Kerstin Holm gratuliert dem Moskauer Büro der dpa zum fünfzigjährigen Bestehen.

Auf der letzten Seite weist Rainer Schulze auf die steigende Anzahl von Menschen ohne Krankenversicherung hin. Matthias Hannemann stellt die finnische Künstlerin Tellervo Kalleinen vor, die Helsinkis "Beschwerdechor" leitet. Hannes Hintermeier vermeldet das Aus für Münchens Kulturreferentin Lydia Hartl.

Besprochen werden Matthew Barneys "wunderschöner, schamlos monströser" Film "Drawing Restraint 9" mit seiner Frau Björk, Tina Laniks "gut gemeinte" Inszenierung von Ibsens "Baumeister Solneß" im Münchner Residenztheater, die Uraufführung von David Gieselmanns Stück "Die Plantage" im Theater Magdeburg, Michel van der Aas' Oper "After Life" und Dmitri Schostakowitschs "Lady Macbeth von Mzensk" auf dem Holland Festival in Amsterdam, und Bücher, Patrick Hamiltons Roman "Sklaven der Einsamkeit" sowie Uwe Heylls Geschichte der Naturheilkunde in Deutschland.