Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.07.2006. In der NZZ schickt die Schriftstellerin Dubravka Ugresic Feriengrüße aus dem einstigen Gefangenenlager des Tito-Regimes Goli Otok. In der Welt erklärt der Historiker Benny Morris den Unterschied zwischen einer Befreiungsorganisation und der islamistischen Bewegung. Die taz besucht die "freie" Techno-Republik Kazantip auf der Krim. Die FAZ reist nach Alaska und erkundet das geheimnisvolle Haarp-Observatorium. Die SZ stellt das linke Washington vor: den Think Tank IPS. Die FR kommt nur bis Bonn, findet dort aber eine wunderbare Guggenheim-Ausstellung. FAZ und NZZ loben Martin Walsers neuen Roman "Angstblüte", die taz verreißt ihn.

NZZ, 22.07.2006

In der Beilage Literatur und Kunst erzählt die Schriftstellerin Dubravka Ugresic von einem Besuch Goli Otoks, einstiges Gefangenenlager des Tito-Regimes. "Es war Spätnachmittag, als wir die Insel verließen. Die Hitze hing noch in der Luft. Ich kniff mein Herz, um ihm ein passendes Gefühl zu entlocken, aber es blieb erstaunlich kalt. Den einzigen schmerzhaften Stich versetzte mir der Anblick der Kiefern auf Goli Otok. Eine der Foltermethoden ging so: Die Häftlinge mussten mit ihren Leibern Schatten werfen, damit die neu gepflanzten Kiefernsetzlinge nicht vertrockneten. An Wasser wurde gespart. An Menschen nicht."

Weiteres: Wilhelm Genazino wird melancholisch, als er bei einer Geburtstagsfeier die Mutter eines Kollegen sagen hört: "Ich schneide Kuchen nach Bedarf auf." Die Schriftstellerin Friederike Kretzen denkt über die Leichtigkeit der Berührung des Lebens durch Schrift nach. Besprochen werden M. Blechers Roman "Vernarbte Herzen", Ludvik Vaculiks Roman "Das Beil" und gesammelte Prosa von Ilma Rakusa (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im Feuilleton schreitet Marguerite Menz über den Ausstellungsparcours des Genfer Bac + 3 ab. Aldo Keel erzählt, wie man in Skandinavien über die multikulturelle Gesellschaft debattiert. Hubertus Adam stellt den Serpentine Gallery Pavilion 2006 von Rem Koolhaas vor. Joachim Güntner hat die Breker-Ausstellung in Schwerin gesehen und findet: "Man wird nachvollziehen können, was so unbekömmlich ist an Brekers Figuren". Besprochen werden Bücher, darunter Martin Walsers Roman "Angstblüte".

Welt, 22.07.2006

In der Literarischen Welt legt der isrealische Historiker Benny Morris - der einst zu den linken zionismuskritischen Historikern gehörte - einen Essay über die Hamas und die Hisbollah vor und betont vor allem, dass es sich bei beiden nicht um Befreiungsorganisationen, sondern um Teile der islamistischen Bewegung handelt: "In diesem Sinn ist der Angriff der Hamas aus dem Gazastreifen heraus auf Kerem Schalom, wo der junge israelische Soldat ergriffen wurde, nichts als ein Teil der Kette, die den Angriff auf die Zwillingstürme in New York mit dem Mord an dem Filmregisseur Theo van Gogh in den Straßen von Amsterdam und mit den Pendlerzügen in Madrid, London und jüngst Mumbai verbindet."

Abgedruckt wird außerdem Arno Geigers Eröffnungsrede zu den Bregenzer Festsspielen. Besprochen wird unter anderem John Maynard Keynes' wieder aufgelegtes Buch "Krieg und Frieden". Und Tilman Krause spricht Klartext über Arno Breker: "Was bedeutet es, wenn ein Künstler seelische Differenziertheit derart gering achtet und den Menschen nur als aggressive, expansive Energiemaschine zeigt und dafür geschätzt wird?"

Im Kulturteil empfiehlt Wieland Freund den Internet-Auftritt des Literarischen Colloquiums Berlin. Uwe Schmitt schreibt über das Filmegucken im Flugzeug, besonders auf Inlandsstrecken in den USA. Manuel Brug wirft einen Blick auf das Salzburger Festival. Berthold Seewald gedenkt des offiziellen Untergangs des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation vor 200 Jahren. Annonciert wird ein neuer Roman von Thomas Pynchon, der im Dezember in den USA erscheinen soll. Besprochen wird eine Huldigungs-CD vieler Popmusiker für Serge Gainsbourg (mehr hier).

Im Forum spricht Gunnar Heinsohn eine demografische Wahrheit über die Lage im Nahen Osten aus: "Eine Muslima, die vor Fernsehkameras den Märtyrertod eines Sprösslings preist, hat zu Hause noch weitere Jungen in Reserve. Rar hingegen ist die Frau, die ihren einzigen Sohn zum Selbstmordattentäter befördert sehen will. Der erste Muttertypus gehört eher zur Hamas und kommt aus Gaza, wo die Geburtenrate zwar nicht mehr - wie vor 15 Jahren - bei neun, aber immer noch bei sechs Kindern liegt. Die zweite Mutter ist typisch für den Libanon, wo seit 2005 mit 1,95 Geburten nicht einmal mehr die Nettoreproduktion erreicht wird."

TAZ, 22.07.2006

Wenig angetan zeigt sich Gerrit Bartels von Martin Walsers jüngstem Werk "Angstblüte", in dem es an Darstellung des Geschlechtlichen keineswegs mangelt: "Das kann man jetzt, mit ausreichend Verständnis für Walsers Motivation, mutig finden oder schonungslos oder gar 'wild', wie es der Verlag im Klappentext tut; das verliert am Ende allen Verständnisses trotzdem nicht ganz den schlechten Geschmack schwitziger, sabbernder Altmännerfantasie. Das schwerwiegendere Problem aber ist, dass man im Verlauf des fast fünfhundert Seiten fassenden Romans nur unzureichend dafür entschädigt wird. Walser verfährt in 'Angstblüte' nach der Devise: Alles reinwerfen, am Ende kommt schon was heraus."

Weitere Artikel: Christian Semler kommentiert den Baustopp für die Dresdner Waldschlösschen-Brücke, mit dem das Elbtal vor der Streichung von der Weltkulturerbeliste bewahrt werden soll. Im Interview spricht Norbert Rademacher über die neunte Ausgabe des Weltkindertheater-Fests, dessen Gründer er ist. Besprochen wird die große Lee-Lozano-Ausstellung in der Kunsthalle Basel.

Auf der Meinungsseite denkt Uri Avnery über die Motive des Hisbollah-Führers Nasrallah nach. In der zweiten taz stellt Michael Aust einen neuen Trend vor: die Hollaback-Weblogs, in denen Frauen Handyfotos von Männern ins Netz stellen, die sie sexuell belästigen (hier zum Beispiel).

Im Dossier des taz mag berichtet Jasna Jajcek von ihrem Besuch in der "freien" Techno-Republik Kazantip (Website) auf der Krim: "Beim Check-in wurde jeder Besucher digital fotografiert, das Foto per Barcode auf seinem 'Visum', einem Plastikausweis, gespeichert. Das Foto erschien nun bei jedem Betreten des Geländes auf den Monitoren der Securities, die allesamt in alten James-Bond-Filmen als die bösen Russen durchgegangen wären. Für 60 Euro, mehr als einen halben lokalen Monatsverdienst: Eintritt in das hermetisch abgeriegelte Kazantip-Areal, groß wie elf Fußballfelder, mit acht über Wege und Sand verbundenen Dancefloors, alle mit viel zu lauten Boxen und 80er-Jahre-Lichtshow." Weitere Artikel: Heide Oestreich beklagt die Frauenfeindlichkeit der Psychoanalyse. Christian Schneider stellt das Grenzen überschreitende Musikfestival Xong (Website) im Dreiländereck Österreich-Italien-Schweiz vor.

Rezensionen gibt es zu unter anderem zu Richard Rortys und Gianni Vattimos Manifest "Die Zukunft der Religion" (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 22.07.2006

Begeistert zeigt sich Kunstkritiker Peter Iden von der Guggenheim-Ausstellung in Bonn: "Es ist der einzigartige Vorzug der Guggenheim-Sammlung, dass sich hier die unterschiedlichen Ausprägungen des Prinzips der Abstraktion nicht nur als fertiges Ergebnis an jeweils einem Beispiel vorführen lassen. Es stehen nämlich von den wichtigsten Erneuerern der Kunst fast immer ganze Werkblöcke zur Verfügung, anhand deren sich die Entwicklung als ein sich schrittweise ereignender Prozess nachvollziehen lässt. So finden sich in der New Yorker Sammlung allein von Kandinsky etwa 150 Bilder. Das erlaubt eine Vertiefung der Darstellung, eine Ausführlichkeit, die über die Möglichkeiten des anderen bedeutenden amerikanischen Museums der Moderne, des New Yorker Museum of Modern Art (MoMA), das erst kürzlich mit einem Gastspiel in Berlin für Furore sorgte, weit hinausreicht."

Weitere Artikel: Die Musikerin Peaches spricht im Interview über Sex, Musik und Bush. Florian Kessler vergleicht die beiden neuen Literaturwebsites im Internet: den vom Literarischen Colloquium Berlin betreuten literaturport.de und das vom Marbacher Literaturarchiv verantwortete - und seit der Eröffnung heftig kritisierte - literaturportal.de. Marion Ammicht berichtet vom Stuttgarter World New Music Festival (Website). In ihrer Bonanza-Kolumne befasst sich Karin Ceballos Betancur mit allerlei Plänen zur Weltverbesserung. Kurz besprochen wird der Band "Hessische Literatur im Porträt".

Auf der Medien-Seite spricht der Kommunikationswissenschaftler Rudolf Stöber im Interview über den Siegeszug der Sonntagszeitungen.

SZ, 22.07.2006

Tim B. Müller stellt den Washingtoner Think Tank IPS vor, das "Institute for Policy Studies" (Website), das auch in Zeiten wie diesen links von der Mitte zu denken versucht: "Wenn das linke Washington eine Adresse hat, dann ist es das IPS in der Fünfzehnten Straße. Nach all den Berichten über Bush-Verehrer und Neocons glaubt man es kaum, aber es gibt eine linke Szene in 'DC'. 'Demokratischer Sozialismus' ist das Credo am IPS, erklärt John Cavanagh, der Direktor des Hauses. (...) Wenn unter den linken Pragmatikern des IPS überhaupt ein Gefühlsausdruck vorherrscht, dann ist es ein vorsichtiger Optimismus. (...) Statt Wagenburg ist ihre Stimmung: 'Wir sind Teil einer Jugendbewegung - nur spielt man am IPS eher die Rolle des achtundsechziger Lehrers."

Weitere Artikel: Im Interview erklärt der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber, dass ein Sommer wie dieser eigentlich erst ab 2040 normal sein dürfte. Johannes Willms erklärt den erzwungenen Abgang von Marcel Bozonnet, des Chefs der Comedie Francaise. Mit freudig gezeigten prominenten Schwangerschaftsbäuchen setzt sich Ursula März auseinander. Beim Münchner Filmfest hat Anke Sterneborg überzeugende amerikanische Independent-Filme gesehen, Hans Schifferle porträtiert die Schauspielerin Salma Hayek. Klaus Brill gratulierte dem Schriftsteller und Dissidenten Ludvik Vaculik zum Achtzigsten. Auf der Medienseite gehen gleich drei Autoren dem drastischen Einzelverkaufs-Auflagenniedergang bei Stern, Spiegel und Focus nach.

Besprochen werden die Baselitz-Remix-Ausstellung in der Münchner Pinakothek der Moderne, der Salzburger "Jedermann" mit Nina Hoss als Buhlschaft und Gustav Kuhns Inszenierungen von "Tristan und Isolde" und "Parsifal" in Erl.

Im Aufmacher der SZ am Wochenende konstatiert Sonja Zekri schlechte Zeiten für Gottlose: "Giga-Spektakel wie der Weltjugendtag haben mit Transzendenz so viel zu tun wie schwarzrotgoldene Unterwäsche mit Nationalismus, aber ein Plädoyer für Rationalismus sind sie auch nicht. Spätestens seit der Massenverzückung beim letzten Papstwechsel fühlt man sich deshalb als Atheist wie auf einer Eisscholle im Golfstrom."

Weitere Artikel: Hans Mahr erinnert sich an seinen Freund Falco. Steffen Heinzelmann denkt über politische Bühnenbilder nach. Harald Hordych wundert sich über die Insel Mallorca, die immer wieder Trends setzt. Abgedruckt wird, in gekürzter Fassung, die Erzählung, mit der Clemens Meyer vor ein paar Wochen beim Bachmann-Preis in Klagenfurt antrat (hier gibt's die ungekürzte Version). Im Interview spricht der Autor Louis Begley übers Schreiben: "Es ist mit seinen Qualen und Wonnen offenbar exakt die Form der Selbstbestrafung, die mir zusagt."

FAZ, 22.07.2006

Regina Mönch berichtet von einem "phänomenalen Forschungsvorhaben" in Jena: Wissenschaftler wollen dort "die Kontroverse zwischen Weimarer Aufklärern und Romantikern in Jena" untersuchen und so die kulturelle Bedeutung beider Städte wieder beleben. Joseph Hanimann berichtet vom Festival in Avignon. Gerhard Rohde resümiert das Weltmusikfestival für Neue Musik in Stuttgart. Ingeborg Harms hat deutsche Zeitschriften gelesen, die sich mit der neuen deutschen Mutter beschäftigen. Jürgen Kaube gratuliert dem Anglisten Wolfgang Iser zum Achtzigsten. Spre. meldet, dass der Jenaer Germanist Christoph Fasbender in der Bibliothek des Erfurter Augustinerklosters das Fragment eines unbekannten Artusromans gefunden hat. Autor ist ein gewisser Dietrich von Hopfgarten, der im frühen fünfzehnten Jahrhundert lebte. Und reb. meldet, dass Dresden den Bau der umstrittenen Waldschlösschenbrücke vertagt hat.

Auf den Wochenendseiten untersucht Eduard Beaucamp die sozialmystische Sendung des Symbolisten Eugene Carriere. Dietmar Dath berichtet von bizarren Verschwörungstheorien um die Haarp-Anlage, ein Observatorium in Alaska, das angeblich die Aurora Borealis erforscht.

Einige Journalisten in Deutschland müssen wirklich phantastische Summen verdienen. Gestern haben wir erfahren, dass Springer-Vorstandsvorsitzender Mathias Döpfner für rund 52 Millionen Euro Springer-Aktien erworben hat. Heute berichten Michael Hanfeld und Konrad Mrusek auf der Medienseite, dass Roger Köppel, Noch-Chefredakteur der Welt, "sechzig Prozent des Kapitals der Weltwoche" kaufen will - für geschätzte zehn Millionen Franken. Nachfolger von Köppel wird Thomas Schmid, zur Zeit noch Ressortchef Politik der Sonntags-FAZ. Hans-Christian Roesseler berichtet, wie sich die israelische Regierung um ausländische Journalisten kümmert: "Stadtrundfahrten mit einem Treffen mit dem Bürgermeister, dem Polizeichef und einem Abstecher zu den Einschlagsorten der Raketen...; auch ein Lunchpaket ist inklusive". Der Geschäftsführer des Deutschen Sportfernsehens geißelt im Interview den Versuch der Bayerischen Staatsregierung, dem Sender Werbung für private Sportwetten zu verbieten: "Da wird unter dem Deckmantel der Suchtprävention versucht, das Staatsmonopol aufrechtzuerhalten." Gemeldet wird, dass die Warschauer Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen den taz-Autor Peter Köhler wegen seiner Kartoffel-Satire eingeleitet hat. Grundlage sei Artikel 135 des polnischen Strafrechts. (Verunglimpfung des türkischen Staates?)

Besprochen werden die Ausstellung "The Guggenheim. Die Sammlung" in der Kunsthalle Bonn, eine Ausstellung der Sammlung Agfa im Museum Ludwig und Bücher, darunter Martin Walsers Roman "Angstblüte" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Schallplatten- und Phonoseite geht's um das neueste Werk von Primal Scream, CDs verschiedener Jazzpianisten, CDs mit Werken von Schostakowitsch-Freunden, Fritz Baumanns Film über das arabische Saiteninstrument Al Oud als DVD und eine CD mit Lounge-Jazz von Lyambiko.

In der Frankfurter Anthologie stellt xy ein Gedicht der Karoline von Günderrode vor: "An Creuzer".