Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.08.2006. Alle schreiben über Grass. In der FR fürchtet Wilhelm von Sternburg, genau das war seine Absicht. Die taz glaubt, der ersehnte Nobelpreis habe ein früheres Bekenntnis verhindert. NZZ und SZ nervt die Dickfelligkeit, mit der Grass noch im Bekenner-Interview über Amerikaner, Adenauer und Paul Celan urteilt. Für die Welt ist er einer, der aus seinem Fehler gelernt habe wie wenig andere. In der FAZ fragt Hans-Ulrich Wehler: Warum nur so spät?

NZZ, 14.08.2006

"In der Pose des selbstgewissen und von Eitelkeit nicht freien Moralisten versucht Günter Grass noch aus seinem Schuldgeständnis ein ästhetisch-ethisches Kapital zu schlagen." Roman Bucheli nimmt das späte Geständnis von Günter Grass, in der Waffen-SS gewesen zu sein, nicht gut auf. Vor allem die ungebrochene Rechthaberei von Grass stößt ihn ab. "Aber es kommt noch ärger. Die FAZ - die sich in dem Interview nicht durch hartnäckiges Nachfragen profiliert - spielt Grass gegen Ende des Gesprächs das Stichwort Celan zu. Grass lebte in den späten fünfziger Jahren vier Jahre in Paris und war damals mit Paul Celan befreundet. Über ihn lesen wir nun: 'Meistens war er ganz in die eigene Arbeit vertieft und im Übrigen von seinen realen und auch übersteigerten Ängsten gefangen.' Keinen Gedanken scheint Grass darauf verschwenden zu wollen, dass Celans 'übersteigerte Ängste' gerade in solchen gespenstischen Leerstellen des Schweigens, wie sie nun Grass einräumt, ihren Grund gehabt haben könnten. Nicht auszudenken, wenn Celan erfahren hätte, dass sein Freund Mitglied der Waffen-SS gewesen war. Süffisant fügt Grass seinen Erinnerungen an Celan nun hinzu: 'Wenn er seine Gedichte vortrug, hätte man Kerzen anzünden mögen.'"

Weitere Artikel: Najem Wali hat libanesische Zeitungen gelesen und festgestellt, dass der Hisbollah vor allem von christlichen Journalisten applaudiert wird, während schiitische auf Distanz gehen. Alexandra Stäheli resümiert das Filmfestival von Locarno und feiert den Gewinner des Goldenen Leoparden, den Schweizer Wettbewerbsbeitrag "Das Fräulein" von Andrea Staka.

Leider nicht online: Otfried Höffe hält ein philosophisches Plädoyer für die "Borderologie". Und Urs Schoettli beschreibt auf einer ganzen Seite die Wandlungen in China.

TAZ, 14.08.2006

Auf den vorderen Seiten kommentiert Gerrit Bartels Günter Grass' langes Schweigen über seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS. Grass wird jetzt damit leben müssen, dass man ihm, jenseits aller psychischen Verdrängungsmechanismen, genauso Kalkül unterstellen kann. Dass es ihm also offensichtlich gerade nach dem Welterfolg mit der 'Blechtrommel' nicht mehr gelegen erschien, seine Vergangenheit auch in ihren dunkelsten Ecken auszuleuchten - nicht zuletzt in späteren Jahren, da ihm der Literaturnobelpreis wichtiger und wichtiger wurde und er beim langen Warten darauf schon daran dachte - wie er in 'Beim Häuten der Zwiebel' bekennt - dem Nobelpreiskomitee einen Brief zu schreiben mit der Bitte, ihn keinesfalls zu küren; eine vorauseilende Nichtannahme also. Ein ehemaliger Waffen-SSler wäre für diesen Preis wohl nicht in Frage gekommen."

Im Feuilleton analysiert Frank Lübberding die Strategie der Hisbollah, sich durch das Verschweigen der eigenen Opferzahlen zum unsichtbaren und somit unverantwortlichen Kriegsgegner zu machen. In der zweiten taz bekundet Clemens Niedenthal seine Erleichterung darüber, dass die Bilder von Google Earth nicht aktuell sind. Steffen Grimberg hält die Vorwürfe an ARD und ZDF wegen einseitiger Berichterstattung im Libanon-Krieg weniger für eine wissenschaftliche Tatsache als ein medienpolitisches Kalkül.

Besprochen werden Klaus Maria Brandauers Inszenierung der "Dreigroschenoper" im Berliner Admiralspalast (Christian Semler fühlt "konzentrierte Langeweile"), die Ausstellung "Why Pictures Now - Fotografie, Film, Video heute" im Wiener Museum für moderne Kunst sowie Daniel Richters Künstlerbuch "Huntergrund".

Und Tom.

FR, 14.08.2006

Der Autor Wilhelm von Sternburg hält Günter Grass' Geständnis auch nach mehr als sechzig Jahren für anerkennenswert. "Traurig aber, dass Günter Grass es auf eine so laute Weise tut und einen Zeitpunkt wählt, der ihn nicht ehrt. Alleine der Verdacht, hier promote jemand sein Buch, ist angesichts des historischen Hintergrundes fatal. Denn dieser ist wahrhaftig nicht dazu geeignet, zur Erzeugung eines neuen Bestsellers missbraucht zu werden. Das nimmt dem Bekenner viel an Glaubwürdigkeit. Grass hatte bessere Gelegenheiten seine 'Beichte' abzulegen. Jetzt hat er mit einer Zeitung gedealt, und beide machen dabei ein gutes Geschäft."

Harry Nutt hätte sich das Bekenntnis schon früher gewünscht. "Wie viel anders und wie viel aufgeklärter wären die verspannten geschichtspolitischen Debatten der vergangenen Jahre verlaufen, wenn Grass sein Bekenntnis selbstkritisch in den Ring geworfen hätte? Die für die Geschichte der Bundesrepublik so wichtige und über weite Strecken so schmerzliche Auseinandersetzung um Schuld und Verstrickung, aber auch Schuldstolz und Entlastung hätte weniger fundamental und selbstgerecht geführt werden können, wenn den Widerspruch seiner Jugend ein politisch-künstlerischer Leuchtturm wie Grass als Fallbeispiel angeboten hätte."

Besprochen werden Klaus Maria Brandauers Inszenierung der "Dreigroschenoper" im Berliner Admiralspalast (Die Buhs hat er nicht verdient, meint Harry Nutt, "weil dieses Stück an diesem Ort doch eine ganz andere Art von Theater war.") und eine Ausstellung mit Skulpturen, Bildern und Zeichnungen von Auguste Rodin und Pablo Picasso in der Fondation Beyeler in Basel.

Welt, 14.08.2006

Burkhard Spinnen ruft im Fall Grass nach "Behutsamkeit" und erinnert daran, dass Günter Grass aus diesem Fehler gelernt habe wie wenig andere. "Mein Vater erhielt noch eine Zeitlang Einladungen irgendeines militärischen Veteranenclubs. Meine Mutter erinnert sich an seine Kommentare dazu: 'Kannste alles wegwerfen!' Günter Grass ist über solche Einsichten und Anweisungen weit hinausgegangen. Er gehört zu der Minderheit seiner Generation, die gezeigt hat, was jenseits eines Berührungsverbots für Massenwahn und verbrecherische Ideologien gedacht und gefordert werden kann. Der 'Makel' in der eigenen Biografie hat schließlich nicht allein Fleiß und Selbstkritik befördert, sondern zu einer lebenslangen Anstrengung für die Verbesserung der Verhältnisse geführt. Daher Behutsamkeit, soviel wir Söhne und Töchter solchen Vätern gegenüber nur aufbringen können." Eckhard Fuhr stellt im Kommentar auf der Meinungsseite knapp fest: "Er ist nun einmal unser Nationaldichter."

Die "Dreigroschenoper" im Berliner Admiralspalast kommt bei Reinhard Wengierek nicht ohne Blessuren davon. "Brandauer? Er wurde ausgebuht. Seine 'Dreigroschenoper' war nicht mehr als schlappes Zweipfennig-Gedudel. Ein selbst ernannter Mount Everest kreißte und gebar ein lahmes graues Mäuslein." Hanns-Georg Rodek beklagt, dass nur ein Zehntel aller Brecht-Verfilungen auf DVD gebrannt sind. Eckhard Fuhr berichtet von der bunten Brecht-Nacht, dem Auftakt der Brecht-Wochen im Berliner Ensemble. Und Hannes Stein erzählt rund um das Begräbnis des Dichters.

Weiteres: Peter Claus freut sich über einen Goldenen Leoparden für den Film "Verfolgt" der deutschen Regisseurin Angelina Maccarone in Locarno, die Auszeichung für den "belanglosen" Schweizer Streifen "Das Fräulein" ärgert ihn dagegen. Sascha Westphal stellt Ulli Lommels kleines Hollywood-Studio Shadow Factory vor, mit dem er unter anderem Serienkiller-Biografien erstellt. Gemeldet wird außerdem, dass der norwegische Schriftsteller Jostein Gaarder einige Formulierungen in seinem umstrittenen Essay zur Politik Israels zurückgenommen hat.

Besprochen werden drei Opern nach dem Don-Giovanni-Motiv auf dem Wiener Sommerfestival Klangbogen sowie eine DVD-Kollektion mit Filmen von Volker Koepp.

Berliner Zeitung, 14.08.2006

Stephan Speicher bewundert die geschickte Medienstrategie von Günter Grass. Ein paar Fragen hat er dann aber doch noch: "Wenn Grass sagt, er sei ohne sein Zutun zur Waffen-SS gelangt, dann ist das glaubwürdig, so ging es vielen. Einen Vorwurf kann man ihm daraus nicht machen. Aber zwei Dinge erführe man doch gern. Was hat Grass in den letzten Kriegswochen erlebt? Im Interview wird er danach nicht befragt, in seinem neuen Buch gesteht er, sich nicht erinnern zu können. 'Aber dann reißt der Film. Sooft ich ihn flicke und wieder anlaufen lasse, bietet er Bildsalat.' Das ist merkwürdig; es ist doch jene Zeit, der der Autor seine größte Aufmerksamkeit gewidmet hat. Die meisten Männer seiner Jahrgänge erinnern sich ganz gut. Irritierender noch ist die Frage, warum er sich so spät erst zu Wort meldete - gerade weil ihm kein ernsthafter Vorwurf zu machen ist."
Stichwörter: Grass, Günter

SZ, 14.08.2006

Gustav Seibt ist weniger von der Tatsache schockiert, dass Günter Grass Mitglied der Waffen-SS war, als von dem späten Bekenntnis. "Bedenkenlos aber war nicht selten vor allem Grass' Neigung zum scharfen moralischen Urteil. Noch jetzt, bei seinem 'Geständnis' zeigt er sich tief angewidert vom Mief der Adenauerzeit - und bekundet doch im selben Moment, dass er genau an diesem Mief durch sein Verschweigen Anteil hatte. Und ist nicht der enorme inszenatorische Aufwand, mit dem Grass jetzt die Öffentlichkeit ins Bild setzt, ein letzter Versuch, den Makel moralisch abzufangen und die Eindeutigkeit zu retten? Es bleibt, angesichts von Umständen, die eher Torheit als Schuld erkennen lassen, ein Nachgeschmack von Eitelkeit."

Außerdem hat die SZ Reaktionen auf Günter Grass zusammengestellt, die am Wochenende bereits reichlich zu haben waren: "Auch du, GG...? Ein Wahrheitströpfler!" schrieb der Historiker Michael Wolffsohn in der Netzeitung. Martin Walser fand dagegen in den Stuttgarter Nachrichten, Grass habe "durch die souveräne Platzierung seiner Mitteilung diesem aufpasserischen Moral-Klima eine Lektion erteilt. Dafür dürfen wir ihm dankbar sein." Joachim Fest erklärte in der Bild-Zeitung: "Ich würde nicht mal mehr einen Gebrauchtwagen von diesem Mann kaufen."

Weitere Artikel: Thomas Urban meldet, dass mehrere polnische Museen und Institutionen ihre Leihgaben für die Berliner Ausstellung "Erzwungene Wege" über Vertreibungen in Europa auf Druck von oben zurückgezogen haben. Fritz Göttler stellt zwei Filme mit Nicolas Cage und einen mit Emmanuelle Beart auf DVD vor. Stefan Ulrich meldet aus Italien, dass die Römer den Venezianern im Oktober mit einem eigenen Filmfestival Konkurrenz machen wollen.

Eine Seite ist Bertolt Brecht gewidmet. Christopher Schmidt vergleicht die Dramatiker Brecht und Beckett. Thomas Steinfeld findet, wir sollten den Dramatiker Brecht noch ein Weilchen dämmern lassen, bevor er wiederbelebt wird: "Bertolt Brecht wird sich von seiner Rezeption erholen müssen, aber vielleicht arbeitet die Zeit gerade deshalb für Bertolt Brecht, weil seine konkreten politischen Anliegen schon jetzt ins Anachronistische gerückt sind. Und je mehr sie veralten, desto reiner bleibt die Sprache zurück." Eva-Elisabeth Fischer kommt gründlich gelangweilt aus der "Dreigroschenoper" im Berliner Admiralspalast: "Macheath trägt übrigens am Ende ein Krönchen und darf auf Englisch ein Stück aus dem Schlussmonolog von Richard III. rezitieren. Das ist wohl als Parodie der Parodie gemeint und Klaus Maria Brandauers einziger Regieeinfall. Den rahmt er auch nicht mit Glühbirnen, wie sonst etliche Szenen dieser 'Dreigroschenoper' als Zeichen von Verfremdung."

Besprochen werden die Wormser Nibelungen-Festspiele ("Der Abend stirbt langsam", seufzt Christopher Schmidt), ein wenig aufregender "Don Giovanni" in Salzburg und Bücher, darunter Bücher über Rembrandt und Martin Klugers Roman "Die Gehilfin" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 14.08.2006

Stimmen zu Günter Grass' spätem Waffen-SS-Geständnis: Der Historiker Hans-Ulrich Wehler im Interview: "Warum muss das alles jetzt erst und so quälend herauskommen? Er hätte es sagen müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihm damals, Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre, jemand einen Strick daraus gedreht hätte." Dazu internationale Presseschauen aus Italien und England, geprägt von Verständnis (links) bis Häme (rechts). Michael Jeismann erzählt die Geschichte der SS-Panzerdivision Frundsberg, deren letzter - nicht ausgeführter - Auftrag es war, Hitler aus Berlin herauszuholen: "Mit anderen Worten: Grass hätte Hitler befreit. Man blieb aber in Spremberg, Grass befreite Hitler nicht." Patrick Bahners notiert in der Glosse die Erlebnisse des Schriftstellers Dieter Wellershoff, der ebenfalls als Kriegsfreiwilliger kämpfte, davon aber viel früher berichtete und Grass dennoch verteidigt hat.

Weitere Artikel: Der englische Journalist Paul Cochrane räumt mit einigen Legenden des Libanon-Kriegs auf. Andreas Platthaus referiert - nicht durchweg freundlich - die Diskussionen des angeblich allerletzten "Literarischen Quartetts" zum Thema Bertolt Brecht. Ein russisches Architekturfestival im Dorf Nikola-Leniwetz hat Kerstin Holm besucht. Matthias Hannemann berichtet von Jostein Gaarders auch nicht glücklichen Versuchen zur Schadensbegrenzung nach seiner Israel-Beschimpfung. Eberhard Rathgeb schreibt ein kleines Feuilleton über Seepferdchen. Über den Probelauf fürs erste nordrhein-westfälische Zentralabitur mokiert sich, am Beispiel einer Fontane-Frage, Michael Bengel (hier die Fragen zur Probeklausur).

Besprochen werden Klaus Maria Brandauers "Dreigroschenoper"-Inszenierung ("herz- wie hirnlose Schunkelrevue") und Friederike Hellers Salzburger Inszenierung von Peter Handkes "Die Unvernünftigen sterben aus".

Rezensionen gibt es zu Ray Bradburys Erzählungen "Schneller als das Auge" und zu neuen Sachbüchern, nämlich dem Sammelband "Pioniere der deutschen Wirtschaft", dem Buch "Bewährung" des Pädagogen Hartmut von Hentig und einem Band, der sich dem Thema "Waldorfpädagogik und staatliche Schule" widmet (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).