Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.10.2006. In der Zeit behauptet Wolf Biermann: Die Deutschen verraten Israel. Die Berliner Zeitung spekuliert über gesundheitsschädliche, aber effiziente Formen der Vergangenheitsbewältigung, die angeblich von Jürgen Habermas eingeführt wurden. In der SZ erklärt Michel Wieviorka, warum die Jugendlichen in den Banlieues keine gemeinsame Erzählung über die Krawalle im letzten Jahr erfunden haben. In der NZZ plädiert Tahar Ben Jelloun für menschenwürdige Lebensbedingungen in Marokko.

Zeit, 26.10.2006

In unverwechselbarer Tonart singt Wolf Biermann eine Klage über die wachsende Israelfeindlichkeit in Deutschland, bei der sich "Durchschnittsdeutsche" und "Elite-Pack" ausnahmsweise einmal einig seien: "Es wird wieder der Refrain des alten Liedes geschwiegen, geknurrt und geplärrt: Die Juden sind an allem schuld! Und auf den reflexhaften Vorwurf des Antisemitismus antworten unsere modernen Judenhasser cool: 'Man wird Freunde doch kritisieren dürfen!' Mit dem scharfen Auge starren die Deutschen auf die Juden in Israel, mit dem triefenden Auge glotzen sie auf die Araber in Palästina. Das romantische Verständnis der Deutschen für die Islamisten im Nahostkonflikt hat aber Gründe. Sie halten Araber für affige Wilde, für unmündige Menschen dritter Klasse, an die man noch keine aufklärerisch-humanen Maßstäbe anlegen darf. Die Zuneigung der Deutschen ist eine Art von vormundschaftlicher Verachtung. Der schwärmerische Respekt vor dem Fremdländischen ist nur Bequemlichkeit und Hochmut. Ich sehe im Multi-Kulti-Geschwärme meiner alternativen Zeitgenossen die seitenverkehrte Version des Rassendünkels von gestern."

Mit dem Neid der Abgehetzten auf die Abgehängten erklärt sich Jens Jessen die schadenfrohen Reaktionen der westdeutschen Provinz auf das Karlsruher Urteil, das Berlin mehr Bundeshilfe verweigert hat. "Der tragische Irrtums Berlins besteht darin, zu glauben, die deutschen Länder hätten gerne eine Hauptstadt, auf die sie stolz sein können. Eben das wollen die deutschen Länder nicht. Sie wollen ein Berlin, für das sie sich mit Vergnügen schämen."

Weiteres: Im Gespräch mit Claus Spahn und Thomas Assheuer erkennt Komponist Wolfgang Rihm: "Verzweiflung ist etwas Großes." Jörg Lau möchte sich im Streit um den abgesagten New Yorker Vortrag des Historikers Tony Judt eigentlich auf keine Seite schlagen: Den polnischen Konsul findet er feige, die jüdischen Organisationen unklug und Judt bestenfalls naiv. Jakob Augstein hat auf dem Dach der Berliner Akademie der Künste über ihr Verhältnis zur Politik nachgedacht. Christian Schmidt-Häuer begeht Budapests Friedhöfe auf den Spuren der Tragödie des Ungarischen Aufstands von 1956. Mirko Weber berichtet von den Musiktagen in Donaueschingen. Claus Guth stellt in der Debatte um die Werktreue klar, dass Interpretation keine Grenzen kennt, wohl aber die Fähigkeiten von Regisseuren. Michael Naumann erinnert sich beim Betrachten seiner Bibliothek an die glücklichen Jahre, als "das Umblättern von Buchseiten identisch war mit den Atemzügen meiner Raucherlunge". Tobias Timm erinnert daran, dass es der Kunsthändler Rudolf Zwirner war, der die Art Cologne ins Leben rief und die Pop Art nach Deutschland brachte.

Besprochen werden eine Allan-Kaprow-Ausstellung im Münchner Haus der Kunst, Joanna Newsoms Album "Ys", eine Aufführung von Aristophanes' "Frieden" auf DVD und Heiner Goebbels Hörstücke als moderner Klassiker.

Im Aufmacher des Literaturteils bespricht Iris Radisch Imre Kertesz' autobiografische Selbstbefragung "Dossier K." (hier eine Leseprobe). Dazu spricht auch Lerke von Saalfeld mit dem Autor. Im Dossier wirft Rainer Frenkel einen kritischen Blick auf die Firma ECE, die immer neue Einkaufszentren in die Städte klotzt.

Tagesspiegel, 26.10.2006

Der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm erklärt im Interview, warum das Karlsruher Berlin-Urteil hart, aber gerecht ist: "In ihren Kernaussagen konnte die Entscheidung kaum anders ausfallen. Artikel 107 Absatz 2 Satz 3 des Grundgesetzes, der die Ergänzungszuweisungen regelt, bildet den Schlusspunkt eines mehrstufigen Systems der Finanzbeziehungen von Bund und Ländern. Darin sind bereits Ausgleichszahlungen an die finanzschwachen Länder vorgesehen. Weitere Zuweisungen des Bundes kommen daher nur in exzeptionellen Notlagen in Frage, als ultima ratio, wie das Gericht sagt. Eine solche Notlage ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nur dann gegeben, wenn ein Land trotz des Länderfinanzausgleichs extrem hinter den anderen Ländern zurückbleibt und seine verfassungsmäßigen Aufgaben nicht mehr ohne fremde Hilfe erfüllen kann. Das Gericht konzediert Berlin eine angespannte, aber keine extreme Haushaltslage. Dem lässt sich schwer widersprechen."

Berliner Zeitung, 26.10.2006

Nach der Grass-Enthüllung nun eine Habermas-Enthüllung? Recht süffisant berichtet Christian Esch, dass das Magazin Cicero in einer Episode aus Joachim Fests Erinnerungen Jürgen Habermas erkannt haben will: "Der ehemalige HJ-Führer sei auf einer Feier in den 1980ern von einem Jugendfreund mit einem Schriftstück von 1945 überrascht worden, 'das ein leidenschaftliches Bekenntnis zum Führer und die unerschütterliche Erwartung des Endsieges enthielt.' Habermas habe es, 'nach dem Zeugnis mehrerer Teilnehmer und Eingeweihter' zerknüllt und 'nicht ohne einiges Herauf- und Herunterwürgen geschluckt.' Den Namen Habermas erwähnt Fest zwar nicht, aber seine Häme, man könne hier 'eine Art Schadensabwicklung, die Belastungen der Vergangenheit für sich persönlich loszuwerden', tilgt alle Zweifel." Habermas fand diese Geschichte jedenfalls nicht witzig.

Harald Jähner nimmt bürgerliche Fantasien über die Unterschicht aufs Korn: "Das Schreckgespenst vom bildungsresistenten Proll, der seine Kinder im Grundschulalter lieber von Richterin Barbara Salesch erziehen lässt, als sie dem Flötenunterricht zuzuführen, entspringt einer so schamlosen Selbstfeier der bürgerlichen Werte, dass man sich über den Zustand der Bildungsschichten viel mehr Sorgen machen muss als über den mangelnden Bildungseifer ganz unten."

NZZ, 26.10.2006

In einem Interview anlässlich seines aktuellen Romans "Verlassen" spricht der marokkanische Autor Tahar Ben Jelloun über Migration aus Nordafrika und die Abschottung Europas: "Die Botschaft, die von meinem Roman 'Verlassen' ausgehen soll, ist die, dass Emigration für mich nicht mehr die Lösung ist. In Ländern wie Marokko sollte genügend Arbeit geschaffen werden, damit die Jungen nicht mehr ihr Leben riskieren, um zu Leuten zu gelangen, die nicht auf sie gewartet haben. Die verantwortlichen Behörden in den Heimatländern müssen etwas gegen diese Hoffnungslosigkeit tun, die sich so oft in Tragödien verwandelt." Begleitend dazu wird sein neues Buch rezensiert (mehr dazu ab 14 Uhr in unserer Bücherschau).

Hartmut Fähndrich meditiert über die Neuprägung des Wortes "Muslima", die zunehmend benutzt wird, um islamische Frauen zu bezeichnen: "Was hier möglicherweise vorliegt, ist eine wahrscheinlich unreflektierte Art sprachlicher Selbstausgrenzung, eine Selbstexotisierung nach dem Motto, die islamische Frau sei etwas ganz Besonderes und mit den hierzulande gebräuchlichen sprachlichen Mitteln nicht adäquat zu benennen."

Weitere Artikel: Besprochen werden eine Ausstellung über den Eros in der Kunst der Moderne in der Fondation Beyeler, ein Konzert des Pianisten Grigory Sokolov in Zürich, das neue Album von Robbie Williams, eine CD mit afroamerikanischer Gefängnismusik und eine Jubiläumskompilation des Weltmusiklabels World Circuit.

FR, 26.10.2006

Kulturstaatsminister Bernd Neumann schlägt sich eigentlich gar nicht so schlecht, findet Harry Nutt: Er "kompensiert Unübersichtlichkeiten mit plakativer Präsenz. Rege verschickt er Stellungnahmen und meldet sich auch zu Debatten zu Wort, in denen er nicht unmittelbarer oder weisungsbefugter Akteur ist... Er hat inzwischen eine eigene Balance zwischen Symbol- und Ordnungspolitik gefunden, in der seine konservative Grundhaltung und die Verpflichtung zur Bewahrung des kulturellen Erbes prägend sind."

Christian Thomas beschäftigt sich in der Kolumne Times Mager mit Hartmut Mehdorns schmissiger Absage ("Shock and Go") an ein Ausstellungsprojekt, das auf Bahnhöfen an deren Funktion als Rampe für die Deportationen in Konzentrationslager erinnern wollte.

Besprochen werden der neue Otto-Film "7 Zwerge - Der Wald ist nicht genug" (Michael Kohlers Rezension zufolge eine ausgesprochen unlustige Angelegenheit - es fällt sogar das Wort "Qual"), Solomon Burkes neues Album "Nashville", Roger Donaldsons Road Movie "Mit Herz und Hand" (dessen "wunderschöne, fast altmodisch anmutende Breitwandbilder" Hans Schifferle begeistert haben) und Ulrich Köhlers Film "Montag kommen die Fenster" ("das nennt man die Morgenröte des deutschen Films," schreibt Heike Kühn ebenso begeistert wie ergriffen).

TAZ, 26.10.2006

Peter Ortmann spekuliert, wer die künstlerische Leitung der Kulturhauptstadt Essen übernimmt. Besprochen werden Ulrich Köhlers Film "Montag kommen die Fenster" ("Autonome Bild- und Kameraarbeit hat Priorität vor Plotsklaverei" - so beschreibt Diedrich Diederichsen die Handschrift des Regisseurs), Charlotte Gainsbourgs neues Album "5:55" (dessen Songs Reinhard Krause "nachtschwarz und schwebend zugleich geraten" findet), die Ausstellung "In den Alpen" im Kunsthaus Zürich, Sebastian Schippers Film "Ein Freund von mir" (ein "ganz gewöhnlicher Liebesfilm", bedauert Andreas Resch) sowie das indische Kinoereignis des Jahres: Karan Johars Film "Kabhi Alvida Naa Kehna".

Schließlich Tom.

Welt, 26.10.2006

Berthold Seewald begeistert sich für die große Kleopatra-Ausstellung, die ab dem Wochenende im Bucerius Kunst Forum in Hamburg auch die neu entdeckte Venus-Statue zeigen wird. Ulrike Langer weist darauf hin, dass zigtausende der Videos bei YouTube und Co nicht beuntzergeneriert, sondern einfach geklaut sind. Gemeldet wird, dass auch nach dem aktuellen Ranking des Magazins Capital Gerhard Richter der gefragteste Gegenwartskünstler ist, gefolgt von Bruce Naumann.

Besprochen werden jede Menge Filme, darunter Sebastian Schippers Roadmovie "Ein Freund von mir" mit Daniel Brühl und Jürgen Vogel, Ulrich Köhlers Film "Montag kommen die Fenster" und der Otto-Film "7 Zwerge - Der Wald ist nicht genug".

SZ, 26.10.2006

Vor einem Jahr brannten die französischen Vorstädte. Aber eine Art offizielle Erzählung über den Aufstand ist unter den Jugendlichen nicht entstanden, erklärt der französische Soziologe und Gewaltforscher Michel Wieviorka (mehr hier) im Gespräch mit Alex Rühle: "Schon weil man sie nicht zusammen erlebt hat. Man hat sich übers Handy verständigt, kurz zusammengetan und wieder aufgelöst. Und es gibt keine Kultur des Gedenkens, das Leben dieser Jugendlichen formt sich nicht in Diskursen, die zappen von Event zu Event. Mittlerweile gab es im Fernsehen die Star-Academy und die Fußball-WM; die hatten keine Zeit, sich in einer romantischen Erzählung einzurichten."

Johannes Willms beschreibt, wie aus dem einst idyllischen Pariser Vorort Clichy-sous-Bois in den letzten vierzig Jahren ein sozialer Brennpunkt wurde. Und nach einer Fahrt mit der Pariser Metrolinie 13 von den Champs-Elysees nach St. Denis, also von "der allerersten" bis in die "dritte Welt", ist Alex Rühle klar: "Es hat sich nichts geändert seit dem vergangenen Jahr. Und es kann jeden Tag wieder losgehen."

Weitere Artikel: Hans Schifferle resümiert die Viennale und ihren "Sixties"-Schwerpunkt. Susan Vahabzadeh nimmt das zu Ende gegangene Wiener Filmfest zum Anlass für pessimistische Gedanken über die Zukunft des Autorenfilms. Anke Sterneborg hat sich mit Roger Donaldson über seinen Film "Mit Herz und Hand" unterhalten. Gottfried Knapp berichtet, dass das Münchner Ackermannviertel durch den klotzigen Neubau eines sogenannten "Vollsortimenters" verschandelt werden soll. Wolfgang Schreiber schickt einen zufriedenen Bericht von den Donaueschinger Musiktagen.

Zwei interessante Artikel spielen in der Kunstszene: Stefan Koldehoff rekonstruiert, wie der Wiener Bankmanager Wolfgang Flöttl, der in einen gigantischen Bankenskandal verwickelt ist, seine 300 bis 600 Millionen Dollar werte Kunstsammlung erwarb. Und der Moskauer Galerist Marat Gelman erzählt im Interview mit Sonja Zekri, wie er am Wochenende von zehn Männern zusammengeschlagen wurde, die seine Galerie verwüsteten: "Meine beiden Mitarbeiterinnen mussten sich an die Wand stellen, die Schläger haben schweigend die Bilder von den Wänden gerissen. Dann sind sie über mich hergefallen." Gelman glaubt, es waren Skinheads. "Sie hassen moderne Kunst, sie hassen alles, was anders ist als sie. Das ist nicht unbedingt die Ideologie der herrschenden Macht, aber die Regierung schafft eine Atmosphäre, in der sich solche Stimmungen ausbreiten."

Besprochen werden Sebastian Schippers Film "Ein Freund von mir" (den Martina Knoben ein bisschen enttäuscht zur Kenntnis nimmt), Toa Frasers Film "No. 2", und Bücher, darunter Ali Smiths Roman "Die Zufällige" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 26.10.2006

Im Aufmacher spekuliert Joachim Müller-Jung über die Frage, inwieweit erhöhte Sonnenaktivität und nicht von Menschen bewirkte Klimaerwärmung für unseren Goldenen Oktober verantwortlich ist. Der Rechtsprofessor Christoph Möllers polemisiert gegen einen Aufsatz des BGH-Richters Günter Hirsch in der Zeitschrift für Rechtspolitik, in dem dieser das durch Richtersprüche geschaffene materielle Recht neben und nicht unter das Gesetz stellen will. In der Leitglosse will Niklas Maak der Modestadt Berlin trotz Absage der Modemesse Bread and Butter noch Chancen einräumen. Stephan Sahm blickt in bioethische Zeitschriften. Josef Oehrlein berichtet aus Argentinien über den Dokumentarfilm "Yo presidente" in dem die letzten acht Präsidenten des Landes porträtiert werden und ein nicht immer vorteilhaftes Bild abgeben. Rose-Maria Gropp wirbt auf einer ganzen Seite für einen Fotoband mit Porträts über vierzigjähriger Frauen, für den sie selbst vor aufgeschlagener FAZ posierte.

Auf der Kinoseite werden aus einem zu diesem Anlass erschienenen Buch Erinnerungen deutscher Regisseure an die Hofer Filmtage präsentiert. Und auch Michael Althen hält Rückschau. Auf der Medienseite eröffnet Jochen Hieber die Reihe "Ein Fernsehtag" mit einem Bericht über einen Tag gesehenes Erstes Programm in seiner gesammelten, mit sieben Milliarden Euro dotierten Ratgeber- und Tierarztbiederkeit. Und Michael Hanfeld fragt sich, wie die Bild-Zeitung an die Schändungsfotos deutscher Soldaten kam, findet aber keine Antwort.

Auf der letzten Seite erinnert Katja Gelinsky an den deutschstämmigen Architekten Adolf Cluss, dessen Bauten im 19. Jahrhundert die Stadt Washington prägten. Paul Ingendaay berichtet über sehr boshaften Streit unter katalanischen Autoren, deren Opfer vor allem die Erzählerin (und nebenbei Leiterin der Nationalbibliothek) Rosa Regas ist. Und Jürgen Kaube schreibt über die Honigbiene, deren Genom entschlüsselt wurde.

Besprochen werden Leonard Bernsteins Musical "On the Town" in Basel, der Film: "Das Leben, das ich immer wollte" von Giuseppe Piccioni, die Ausstellung "Große Sprünge - Der entscheidende Moment in der Fotografie" in Aachen und ein "Faust" in Nürnberg.