Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.12.2006. Die NZZ erklärt den Unterschied zwischen einem Camorrista und einem Mafioso. Die taz würdigt Verdienste und Untiefen der deutschen NS-Forschung. In der FAZ erklärt Jürgen Habermas in einer Lobrede auf Ronald Dworkin, was dieser ganz anders macht als er selbst. Die SZ veröffentlicht Briefe des russischen Ex-Agenten Michail Trepaschkin, die Licht in die Litwinenko-Affäre bringen.

NZZ, 18.12.2006

Maike Albath hat sich - Roberto Savianos Mafia-Reportage "Gomorra" im Gepäck - in Neapel umgetan und von Francesco Durante, dem Chefredakteur des Corriere del Mezzogiorno, erfahren, was die Camorra ausmacht: "Wie tritt so ein Camorrista eigentlich auf? 'Er ist das Gegenteil von einem Mafioso. Mafiosi leben oft ganz einfach und bescheiden, ein Camorrista trumpft immer auf und verprasst seinen Reichtum: dicke Autos, Motorräder, große Villen. Außerdem schmieden hier die Bosse alle drei Tage neue Allianzen. Die Mafia ist dagegen streng hierarchisch aufgebaut.' Selten werden die Camorristi älter als vierzig Jahre. Über die Sitten und Gebräuche der Clans erfährt man bei Saviano viel, denn er hat sich, nach Günter-Wallraff- Art, in ihrer Umgebung aufgehalten, Bekanntschaften geschlossen, sich die Musik auf ihren MP-3-Playern angehört, die sie als Untermalung für Killeraufträge benutzen... Die Morddrohungen, wegen deren Roberto Saviano seit zwei Monaten untergetaucht ist, hält der joviale Blattmacher für untypisch: Eigentlich töte die Camorra eher, bevor jemand etwas schreibe."

Weiteres: In einem "Schauplatz Aceh" besichtigt Brigitte Schneebeli die Verwüstungen, die der Tsunami auch in den Archiven angerichtet hat. Besprochen werden Thomas Koerfers auf Robert Walsers zurückgehendes Potpourri "Liebestraum" am Zürcher Schauspielhaus und Richard Strauss' Oper "Ariadne auf Naxos" im Opernhaus Zürich.

FAZ, 18.12.2006

In einer Lobrede auf den Juristen und Philosophen Ronald Dworkin, der den Bielefelder Wissenschaftspreis erhielt, gibt Jürgen Habermas auch etwas über sich preis. Er schildert, wie Dworkin in seinem letzten Buch "Is Democracy Possible Here?" (Auszug) um Aussöhnung der politischen Lager in den USA ringt: "Dworkin verleugnet natürlich nicht den parteinehmenden Anwalt der liberalen Sache; aber er verteidigt diese Sache in der Rolle eines Moderators, der beide Seiten erst geduldig zu Wort kommen lässt, um sie dann an die Basis ihrer gemeinsamen Werte zu erinnern. (...) Weil ich weiß, wie sehr mich selbst die Polemik in ähnlich angespannten Situationen reizt, verhehle ich nicht meine Bewunderung für die demokratische Geistesart dieser um Konsens werbenden Intervention, die den Faden der diskursiven Auseinandersetzung auch mit extremen Gegnern nicht abreißen lassen will." Auch Patrick Bahners schreibt zum Anlass und resümiert ein Bielefelder Symposion über Dworkin.

Weitere Artikel: Im Aufmacher rühmt Michael Jeismann Jörg Baberowskis und Anselm Doering-Manteuffels Essay "Ordnung durch Terror", einen Systemvergleich zwischen Stalinismus und Nationalsozialismus, als epochemachend und bringt ihn irgendwie mit einer Studie der R + V-Versicherung zusammen, die den Deutschen mehr Zukunftsangst denn je attestiert. Produzent Bernd Eichinger gratuliert Steven Spielberg zum Sechzigsten. In der Leitglosse unternimmt Andreas Kilb einen zeithistorischen Ausflug zur Deutschen Oper Berlin, wo einst Benno Ohnesorg erschossen wurde und wo heute bei einer Aufführung von Hans Neuenfels' "Idomeneo"-Inszenierung die 68-er auf Polizeischutz gegen den Islamismus hoffen, der den einst hier hofierten Schah ablöste. Gemeldet wird, dass die russische Journalistin Elena Tregubova (Leseprobe aus ihrem inkriminierten Buch), die aus Sicherheitsgründen eine Deutschlandreise absagte, schwere Vorwürfe gegen die russische Staatsführung erhebt. Rüdiger Soldt resümiert einen Vortrag des Historikers Dieter Langewiesche, der Heinrich August Winkler für eine falsche Darstellung der deutschen Reichsidee kritisierte. Klaus Ungerer verfolgte eine Berliner Diskussion über Deutsch als Fremdsprache. Joseph Hanimann berichtet über finanzielle Schwierigkeiten des Institut du Monde Arabe in Paris.

Auf der Medienseite unterhält sich Michael Hanfeld mit dem scheidenden Spiegel-Geschäftsführer Karl Dietrich Seikel. Gemeldet wird, dass die polnische Politikerin Danuta Hojarska wegen einer politisch missliebigen Fotomontage glatt die Todesstrafe für Journalisten forderte.

Auf der letzten Seite erzählt Andreas Platthaus die Geschichte des Codex Sinaiticus, eines der ältesten Bibelmanuskripte, das auf mehrere Bibliotheken verstreut ist - die Universitätsbibliothek Leipzig stellte für einen Tag eine Seite des Codex aus und war Gastgeber einer Veranstaltung aller Beteiligten, die eine Digitalisierung des codex beschloss. Andreas Rossmann resümiert Diskussionen um die künftige Leitung des Karl-Ernst-Osthaus-Museums und des Emil-Schumacher-Museums in Hagen. Und Lorenz Jäger porträtiert den Bösewicht aus dem neuesten James-Bond-Film.

Besprochen werden ein jubelumtoster Auftritt der Achtziger-Jahre-Ikone Morrissey in Düsseldorf, die Ausstellung über die internationale Künstlerbewegung "Die Neuen Tendenzen" in Ingolstadt, eine Ausstellung über den Berliner U-Bahn-Architekten Alfred Grenander in Berlin, eine dramatische Hommage Ingmar Bergmans an Pirandellos "Treulose" in Düsseldorf, Konzerte des Musik-der-Zeit-Festivals in Köln, Strindbergs "Totentanz" am Berliner Ensemble und Sachbücher, darunter Antonia Grunenbergs Band über Hannah Arendt und Martin Heidegger (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 18.12.2006

Stefan Reinecke berichtet von einem Symposion über die deutsche NS-Forschung in Jena, das sich der Frage widmete, wie objektiv die Geschichtsforschung der Flakhelfer-Generation unter den Historikern - etwa Hans Mommsen und Martin Broszat - war. "Ein Schlüsselwort lautet dabei 'unausgesprochene Entlastungssehnsucht'. So habe Broszats und Mommsens Versuch, methodisch Strukturen und Funktionsweisen des NS-Systems zu untersuchen, dazu geführt, die Täter im Abstrakt-Analytischen verschwinden zu lassen. In der Tat waren Motive und Täter in diesem funktionalistischen Geschichtsbild unterbelichtet. Im Rückblick ist deutlich: Die Historiker der Flakhelfer-Generation haben die Aufklärung über NS-Zeit vorangetrieben - doch wo es um die Enttarnung von Exnazis ging, hielt man sich an den bundesdeutschen Konsens: lieber nicht daran rühren. Wissenschaftsgeschichtlich gesehen ist die Sache allerdings doppelbödig. Denn der Blick, den Broszat & Co seit den 60er-Jahren auf die Strukturen des NS-Regimes warfen, war damals überaus erkenntnisfördernd. Er wirkte als eine Art Medizin, um das schlichte Bild vom Dämon Hitler, der das Volk verführt hatte, zu korrigieren. Zum anderen baute die Täterforschung, die etwa Ulrich Herbert in den 80er-Jahren entwickelte, auf dem Funktionalismus auf."

Weiteres: Aureliana Sorrento wundert sich nicht über das "inoffizielle, bundesweite Tschechow-Festival": Die deutschen Regisseure entdeckten nämlich im Tschechow-Personal "die Personifizierung jener 6,5 Millionen, die nach der jüngsten Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zum sogenannten abgehängten Prekariat gehören". Tobias Rapp kann die "Idomeneo"-Affäre, die heute mit einem Besuch der Islamkonferenz in der Oper abgeschlossen werden soll, nicht ernst nehmen. In tazzwei schildern Georg Blume und Babak Tavassolie den starken Druck unter dem chinesische Schulkinder stehen.

Schließlich Tom.

FR, 18.12.2006

Nikolaus Merck hat bei der Premiere von Strindbergs "Totentanz" im Berliner Ensemble das "Charisma der Vernunft" verspürt: "Wie's scheint, ist die hohe Zeit des Seelen-Entblößungstheaters, ob schmerzhaft, ob komisch, vorüber. Jetzt beginnt das Saubermachen. Manche nennen das Restauration."

Weiteres: Ulf Erdmann Ziegler schreibt zum Tod des Soul-Produzenten Ahmet Ertegün, der mit dreiundachtzig Jahren einen echten Rock'n'Roll-Tod gestorben ist: "Backstage gestürzt bei einem Konzert der Rolling Stones." Franz Anton Cramer hat sich in Berlin die "Lange Nacht des zeitgenössichen Tanzes" angesehen. Und in Times mager widmet sich Christian Thomas den Managern von VW und Siemens und anderen gestürzten Lichtgestalten.

Welt, 18.12.2006

Inzwischen haben sechs von 15 muslimischen Verbänden aus der Islamkonferenz ihre Teilnahme am Besuch des "Idomeneo" abgesagt, berichtet DW. Hanns-Georg Rodek spottet über den Versuch Hollywoods, nun auch noch den Oscar für den besten fremdsprachigen Film abzusahnen - nominiert dafür wurden Mel Gibsons auf mayanisch gedrehter "Apokalypto" und Clint Eastwoods auf japanisch gedrehter Kriegsfilm "Letters from Iwo Jima". Gerhard Gnauck schreibt zum 60. Geburtstag von Steven Spielberg.

Besprochen werden eine große Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle mit Schätzen aus dem Reich der Khmer, Thomas Langhoffs Inszenierung von Strindbergs "Totentanz" am Berliner Ensemble und DVDs mit den letzten Filmen von Ernst Lubitsch.

SZ, 18.12.2006

Die SZ veröffentlicht einige Briefe, die der russische Ex-Agent Michail Trepaschkin aus einem sibirischen Gefangenenlager über seine Zusammenarbeit mit Alexander Litwinenko und die Feindschaft mit seinem ehemaligen Arbeitgeber geschrieben hat. Der FSB-Offizier "W. W. Schebalin hat mir oft gesagt, dass es eine ernsthafte Gruppe gibt, deren Ziel die physische Beseitigung Litwinenkos, Felschtinskijs, Beresowskis, ihnen nahestehender Personen, Anhänger, Gleichgesinnter ist. Ich habe Sascha von diesen Gesprächen geschrieben. Ich bin ebenfalls in diesen Kreis hineingeraten, denn ich habe mich geweigert, an Morden teilzunehmen ('Wer nicht für uns ist, ist gegen uns'). Ich kannte ihre Pläne und darum wurde ich ebenfalls gefährlich." In seiner Vorrede fordert der Regisseur Andrej Nekrassow kurz und bündig: "Freiheit für Michail Trepaschkin. Jetzt!"

Rolf Bolwin, Geschäftsführer des Deutschen Bühnenvereins, warnt im Interview mit Christopher Schmidt vor der sich öffnenden Gehaltsschere in den Theatern. "Der kleine Bereich der Kunst ist dem Interesse der Gesamtheit des öffentlichen Dienstes geopfert worden. Das ist absurd. Das geht auf keinen Fall. Wir haben schon jetzt beim künstlerischen Personal ein Nachwuchsproblem, weil sich herumspricht, dass die Branche mit niedrigen Löhnen zu kämpfen hat. Mancher Schauspieler steht für 1550 Euro monatliche Bruttogage 60 Stunden in der Woche auf der Bühne. Der nichtkünstlerische Bereich muss raus aus dem öffentlichen Dienst und einen eigenen theaterspezifischen Tarifvertrag bekommen, mit einer eigenen Vergütungsordnung und bestimmten Tätigkeitsmerkmalen, die theaterbezogen sind."

Weiteres: Die Ausstellungsmacherin Judith Breuer hat mit "Winterlicht" aus dem Verlag Esslinger ein Weihnachtsbuch für Kinder entdeckt, das sich auf "im Volk gewachsene Glaubensvorstellungen" beruft, wie Alexander Kissler kolportiert. Angeregt resümiert Johan Schloemann die Verleihung des Bielefelder Wissenschaftspreises, bei der Jürgen Habermas mit dem Preisträger und "hellwachen" Rechtsphilosophen Ronald Dworkin über Gerechtigkeit diskutierte. Johannes Willms glaubt nicht, dass mit den 59 neuen Planstellen das Centre Pompidou den letzten Streik seiner Belegschaft gesehen hat.

Die Medienseite: In seinem Kommentar zur Wahl des Internetnutzers zum Mensch des Jahres durch die Time schätzt Hans-Jürgen Jakobs, dass auch in Deutschland Journalisten nach dem "Friedman-Prinzip" (mehr) bald zu Multimedia-Stars aufgebaut werden.

Besprochen werden Jürgen Roses ein wenig zu einfache Inszenierung von Jules Massenets "Werther" im Münchner Nationaltheater, die Uraufführung von Ingmar Bergmans Skript zu den "Treulosen" unter der Regie von Oliver Reese im Düsseldorfer Schauspielhaus, Christina Paulhofers "geradezu privatistische" Inszenierung von Ibsens "Hedda Gabler" in Hannover, die "breit angelegte" Ausstellung "Van Gogh und der Expressionismus" im Van Gogh Museum in Amsterdam, Ten Shimoyamas "klassisch sanfter" Kampfkunstfilm "Shinobi", Douglas Gordons Filmporträt "Zidane", und Bücher, darunter Reinhart Kosellecks "Begriffsgeschichten", die Gustav Seibt als "Schule des Lesens" empfiehlt, Nico Bleutges "brillanter" Gedichtband "klare konturen" sowie Peter Alters kritisches Porträt von "Winston Churchill" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).